Entscheidungsstichwort (Thema)

Verweisung eines Drehers auf die Tätigkeit eines Bankboten. Beurteilungsspielraum der Tatsacheninstanz

 

Orientierungssatz

1. Zum Verweisungsbereich bisheriger Facharbeiter gehören unter bestimmten Voraussetzungen auch ungelernte Tätigkeiten, nämlich dann, wenn sie sich aufgrund besonderer Merkmale - etwa durch eine Vertrauensstellung oder besondere Verantwortung - aus dem Kreis anderer ungelernter Arbeiten deutlich herausheben. Das gilt jedenfalls für diejenigen Tätigkeiten, die wegen ihrer Qualität - nicht wegen mit ihnen verbundener Nachteile oder Erschwernisse - tariflich wie Ausbildungsberufe eingestuft sind (vgl BSG 1980-11-12 1 RJ 104/79 = SozR 2200 § 1246 Nr 69).

2. Den Tatsacheninstanzen der Sozialgerichtsbarkeit ist ähnlich wie bei der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe ein Beurteilungsspielraum in den Fällen einzuräumen, in denen die höchstrichterliche Rechtsprechung nur den Rahmen der Beurteilung abstecken kann.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 128 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

LSG Hamburg (Entscheidung vom 25.06.1981; Aktenzeichen VI JBf 71/80)

SG Hamburg (Entscheidung vom 29.01.1980; Aktenzeichen 14 J 759/78)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Berufsunfähigkeitsrente.

Der Kläger arbeitete in seinem erlernten Dreherberuf bis Juli 1971. Dann war er bis Oktober 1976 bei einer Werbeagentur zunächst als Pförtner, danach in der Hausverwaltung und zuletzt in der Poststelle beschäftigt. Nach zwischenzeitlicher Arbeitslosigkeit ist er seit Mai 1978 bei der D............ als Bote tätig; er wird nach dem Manteltarifvertrag für das Bankgewerbe vom 24. August 1978 (MTV) entlohnt und ist in Tarifgruppe 3 eingestuft.

Die Beklagte lehnte den im Februar 1978 gestellten Rentenantrag durch Bescheid vom 1. August 1978 ab. Die hiergegen erhobene Klage sowie die Berufung des Klägers sind erfolglos geblieben (Urteile des Sozialgerichts -SG- Hamburg vom 29. Januar 1980 und des Landessozialgerichts -LSG- Hamburg vom 25. Juni 1981).

Das LSG ist davon ausgegangen, daß der Kläger durch Folgen einer Hirnverletzung (Kriegsverletzung), einer gering entzündlichen aktiven Fettleber, durch eine Emphysembronchitis, ein sklerotisches Herz- und Gefäßleiden mit anginösen Herzbeschwerden sowie altersdurchschnittliche Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule in seiner Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt werde. Es hat ihn für fähig gehalten, leichte Arbeiten - ohne starke Witterungsexpositionen und unter Ausschluß gefährdender Arbeitsplätze sowie Tempo- und Konzentrationsanforderungen - vollschichtig zu verrichten. Damit könne der Kläger in dem aus gesundheitlichen Gründen aufgegebenen bisherigen Beruf des Drehers nicht mehr arbeiten. Er sei jedoch nicht berufsunfähig, sondern auf die ausgeübte Bankbotentätigkeit verweisbar. Seine Tarifgruppe 3 MTV erfasse angelernte Arbeitnehmer. Obwohl er nur kurze Zeit eingearbeitet worden sei, hebe sich seine Tätigkeit von ungelernten Arbeiten, insbesondere den üblichen Botentätigkeiten, dadurch hervor, daß sie besondere Anforderungen an seine Zuverlässigkeit, Genauigkeit, Pünktlichkeit und Umsicht stelle und mit besonderer Verantwortung verbunden sei.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts. Er ist der Ansicht, seine Tätigkeit entspreche aufgrund ihrer Merkmale nur der Tarifgruppe 2 MTV. Daß die Tätigkeit nach Angaben des Arbeitgebers mit besonderer Verantwortung verbunden sei und eine über das übliche Maß hinausgehende Zuverlässigkeit voraussetze, reiche ebensowenig aus wie die zu hohe tarifliche Einstufung (Hinweis auf BSG, Urteile vom 10. Juni 1980 - 11 RA 44/79 = SozR 2200 § 1246 Nr 63 und vom 27. Januar 1981 - 5b/5 RJ 58/79 = SozR aaO Nr 77).

Der Kläger beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 1. August 1978 sowie die Urteile des Sozialgerichts Hamburg vom 29. Januar 1980 und des Landessozialgerichts Hamburg vom 25. Juni 1981 aufzuheben und ihm Rente wegen Berufsunfähigkeit für die Zeit seit März 1978 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist unbegründet. Das LSG hat in Übereinstimmung mit dem SG zutreffend entschieden, daß dem Kläger kein Rentenanspruch zusteht, weil er nicht berufsunfähig ist.

Nach § 1246 Abs 2 Satz 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) ist ein Versicherter berufsunfähig, dessen Erwerbsfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen auf weniger als die Hälfte derjenigen eines vergleichbaren gesunden Versicherten herabgesunken ist. Nach Satz 2 der Vorschrift beurteilt sich dabei die Erwerbsfähigkeit des Versicherten nach allen (objektiv) seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechenden Tätigkeiten, die ihm (subjektiv) unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Hiernach stehen die sogenannten Verweisungstätigkeiten in einer Wechselwirkung zum bisherigen Beruf (Hauptberuf). Von ihm aus bestimmt sich, welche Verweisungstätigkeiten als zumutbar in Betracht kommen. Deshalb muß er zunächst ermittelt und - da die Verweisbarkeit davon abhängt - nach den vorgenannten Kriterien des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO bewertet werden.

Das LSG ist, ohne daß dies rechtlich zu beanstanden wäre, vom Dreherberuf als dem bisherigen Beruf ausgegangen. Es hat im einzelnen ausgeführt, daß und weshalb der Kläger seinen erlernten Beruf aus gesundheitlichen Gründen 1971 aufgegeben hat. Die dieser Beurteilung zugrundeliegenden tatsächlichen Feststellungen sind von der Beklagten nicht angegriffen worden, die Würdigung dieser Tatsachen läßt keinen Rechtsfehler erkennen. Unwidersprochen und daher für den Senat bindend hat das Berufungsgericht auch festgestellt, daß der Kläger wegen seines eingeschränkten Leistungsvermögens den Anforderungen des Dreherberufs nicht mehr gewachsen ist.

Gleichwohl besteht beim Kläger keine Berufsunfähigkeit, weil er, wie das LSG mit Recht entschieden hat, auf die ausgeübte Bankbotentätigkeit verwiesen werden kann. Seine gesundheitliche und geistige Befähigung hierzu wird von der Revision nicht in Zweifel gezogen. Die Tätigkeit ist ihm aber auch zumutbar.

Das Berufungsgericht hat nicht verkannt, daß der bisherige Beruf des Klägers der Gruppe der Facharbeiter zuzuordnen ist und die Verweisbarkeit eines Facharbeiters Beschränkungen unterliegt. Er kann im Grundsatz (nur) auf Tätigkeiten eines angelernten Arbeiters verwiesen werden (zur berufssystematischen Unterscheidung zwischen anerkanntem Lehr- und Anlernberuf im Zusammenhang mit dem von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts -BSG- erarbeiteten Mehrstufenschemas (vgl Urteil des BSG vom 20. Januar 1976 - 5/12 RJ 132/75 = BSGE 41, 129, 132f = SozR 2200 § 1246 Nr 11). Darunter sind allerdings nicht nur die - seltenen - Ausbildungsberufe zu verstehen, die eine Regelausbildungszeit von ein bis zwei Jahren voraussetzen, sondern auch Tätigkeiten, die eine echte betriebliche Ausbildung erfordern, sofern diese eindeutig das Stadium der bloßen Einweisung und Einarbeitung überschreitet (zB BSG, Urteil vom 30. März 1977 - 5 RJ 98/76 = BSGE 43, 243, 245 = SozR 2200 § 1246 Nr 16). Darüber hinaus gehören zum Verweisungsbereich bisheriger Facharbeiter unter bestimmten Voraussetzungen auch ungelernte Tätigkeiten, nämlich dann, wenn sie sich aufgrund besonderer Merkmale - etwa durch eine Vertrauensstellung oder besondere Verantwortung - aus dem Kreis anderer ungelernter Arbeiten deutlich herausheben. Das gilt jedenfalls für diejenigen Tätigkeiten, die wegen ihrer Qualität - nicht wegen mit ihnen verbundener Nachteile oder Erschwernisse - tariflich wie Ausbildungsberufe eingestuft sind (vgl zB BSG, Urteil vom 12. November 1980 - 1 RJ 104/79 = SozR 2200 § 1246 Nr 69 und die dort zitierte Rechtsprechung sowie Urteil des erkennenden Senats vom 3. Dezember 1980 - 4 RJ 83/79 = SozR aaO Nr 72).

Den Erfordernissen einer zumutbaren Verweisbarkeit genügt die in die Tarifgruppe 3 MTV eingestufte Bankbotentätigkeit. Diese Tarifgruppe umfaßt "Tätigkeiten, die Kenntnisse und/oder Fertigkeiten erfordern, wie sie in der Regel durch eine Zweckausbildung oder eine längere Einarbeitung erworben werden.....". Darunter fallen nach der beispielhaften Aufzählung ua auch Fernschreiberinnen, Kraftfahrer, Geldzähler, Geldboten mit Inkassovollmacht, Registratoren, Expedienten, Stenotypistinnen und Hausmeister. Das LSG hat daraus den Schluß gezogen, diese Tarifgruppe erfasse die "angelernten Arbeitnehmer"; es hat vergleichend darauf hingewiesen, daß die Tarifgruppe 2 für Tätigkeiten mit Kenntnissen und Fertigkeiten gelte, wie sie in der Regel durch eine kurze Einarbeitung erworben werden. Dem ist hinzuzufügen, daß die nächsthöhere Tarifgruppe hier bereits Tätigkeiten betrifft, "die Kenntnisse und/oder Fertigkeiten erfordern, wie sie in der Regel durch eine abgeschlossene Berufsausbildung oder durch eine um entsprechende Berufserfahrung ergänzte Zweckausbildung oder längere Einarbeitung erworben werden". In der Aufzählung sind ua "Handwerker und Facharbeiter sowie Kraftfahrer mit erhöhten Anforderungen (zB Vorstandsfahrer bei großen Banken, Direktionsfahrer bei großen Geschäftsstellen), Hausmeister und Stenotypistinnen mit (jeweils) "erhöhten Anforderungen" genannt. Das legt es nahe, unter "abgeschlossener Berufsausbildung" eine solche von mindestens 2 1/2 Jahren (früher: Lehrberuf) zu verstehen. Dabei ist zu beachten, daß weder in den Tarifgruppen noch im gesamten MTV zwischen Arbeitern und Angestellten unterschieden, sondern durchweg nur von Arbeitnehmern gesprochen wird. Eine vergleichende Bewertung der in den Tarifgruppen angegebenen - zahlenmäßig überwiegenden - Angestelltentätigkeiten im Zusammenhang mit dem für die Rentenversicherung der Arbeiter entwickelten Mehrstufenschema ist jedoch nicht angängig (vgl BSG, Urteil vom 4. Oktober 1979 - 1 RA 55/78 = BSGE 49, 54 - 2. Leitsatz - = SozR 2200 § 1246 Nr 51). Unter Berücksichtigung dieser Gegebenheiten ist der Senat mit dem LSG der Ansicht, daß die Tarifgruppe 3 MTV im wesentlichen "angelernte Arbeiten" erfaßt.

Eine andere Frage ist allerdings, ob der Kläger zu Recht in die Tarifgruppe 3 MTV eingestuft worden ist. Die tatsächliche Eingruppierung ist als Indiz für den qualitativen Wert der Tätigkeit anerkannt. Etwas anderes muß etwa dann gelten, wenn die Einstufung nicht auf der betrieblichen Bedeutung der Tätigkeit beruht, sondern lediglich dem Ausgleich von mit der Tätigkeit verbundenen Nachteilen und Erschwernissen (zB Nacht-, Akkord- oder Schmutzarbeit) dient oder aus sozialen Gründen (zB höheres Lebensalter, Dauer der Betriebszugehörigkeit) vorgenommen wird (vgl BSG, Urteil vom 12. November 1980 - 1 RJ 144/79 = SozR 2200 § 1246 Nr 70). Solche Ausnahmen liegen beim Kläger nicht vor.

In diesem Zusammenhang - nämlich bei der Prüfung, ob die vom Kläger verrichtete Tätigkeit aufgrund ihres "qualitativen Wertes" der eines angelernten Arbeiters entspricht - hat das LSG auf die ständige Rechtsprechung des BSG abgehoben, wonach ein Facharbeiter auch auf solche ungelernten Arbeiten verwiesen werden darf, die sich durch besondere Umstände deutlich aus dem Bereich der anderen ungelernten Tätigkeiten herausheben (zB 1. Senat, Urteil vom 12. November 1980 - 1 RJ 24/79 und 104/79 = SozR 2200 § 1246 Nrn 68, 69; erkennender Senat, Urteil vom 3. Dezember 1980 - 4 RJ 35/80 = SozR aaO Nr 73). Der Revision ist allerdings zuzugeben, daß Zuverlässigkeit und Genauigkeit des Arbeitnehmers allein hierfür nicht genügen, weil dies Anforderungen sind, die der Arbeitgeber regelmäßig an seinen Arbeitnehmer stellt (so auch der erkennende Senat im Urteil vom 15. Januar 1981 - 4 RJ 37/80 S. 8,9). In der Bejahung von Zuverlässigkeit und Genauigkeit erschöpfen sich indessen die Feststellungen des Berufungsgerichts nicht. Es hat vielmehr nach eingehender Würdigung der Tätigkeitsmerkmale des Klägers ausgeführt, daß sich dessen Tätigkeit, trotz der nur kurzen Einarbeitungszeit, nicht nur aus der Sicht der Arbeitgeberin, sondern durch ihre objektive Qualität von einfachen ungelernten Arbeiten, insbesondere den üblichen Botentätigkeiten dadurch unterscheide, daß sie besondere Anforderungen an seine Zuverlässigkeit, Genauigkeit, Pünktlichkeit und Umsicht stelle und mit erhöhter Verantwortung verbunden sei. Das LSG-Urteil basiert also nicht allein darauf, daß der Arbeitgeber die Einstufung für gerechtfertigt halte oder nach seinen Angaben die Tätigkeit besonderes Vertrauen erfordere oder mit besonderer Verantwortung verbunden sei. Insofern liegt der Sachverhalt anders als bei den von der Revision erwähnten Urteilen vom 27. Januar 1981 und vom 10. Juni 1980 (SozR aaO Nrn 77 und 63).

Im übrigen ist den Tatsacheninstanzen der Sozialgerichtsbarkeit, ähnlich wie bei der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe (vgl hierzu Urteil des erkennenden Senats vom 28. November 1978 - 4 RJ 130/77 - = BSGE 47, 180, 181 = SozR 2200 § 1301 Nr 8) ein Beurteilungsspielraum in den Fällen einzuräumen, in denen die höchstrichterliche Rechtsprechung nur den Rahmen der Beurteilung abstecken kann. Ob das die Verweisung mitbegründende Erfordernis vorliegt, die ungelernte Tätigkeit müsse sich "qualitativ deutlich" - etwa durch besondere Verantwortung oder wegen einer mit ihr verbundenen Vertrauensstellung - aus dem Bereich der übrigen ungelernten Tätigkeiten hervorheben, hängt von der Beurteilung und Bewertung des konkreten Sachverhalts ab; das Revisionsgericht vermag jedoch insoweit keine Beurteilungsfehler des Berufungsgerichts zu erkennen, das LSG ist von zutreffenden Beurteilungskriterien ausgegangen.

Das LSG hat Gesichtspunkte genannt, die zumindest in ihrer Gesamtheit geeignet sind, die "deutliche Hervorhebung" zu begründen. Die Würdigung der Einzelumstände und die daraus gezogene Folgerung läßt keinen Verstoß gegen Rechtsvorschriften, allgemein anerkannte Bewertungsmaßstäbe, Denkgesetze oder Erfahrungssätze erkennen. Von ihr ist daher auszugehen.

Nach alledem konnte die Revision keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1659989

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