Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 16.09.1977; Aktenzeichen L 6 J 67/77)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz von 16. September 1977 wird zurückgewiesen, soweit der Rechtsstreit nicht durch die Klagerücknahne erledigt ist.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beklagte fordert von der Klägerin, nachdem diese die Klage teilweise zurückgenommen hat, noch Rente zurück, die ihr für die Monate Mai 1974 bis Februar 1975 zu Unrecht gezahlt worden ist.

Die Beklagte hatte der Klägerin mit Bescheid vom 22. Januar 1974 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit vom 7. November 1973 bis zum 30. April 1974 bewilligt. Der Bescheid enthielt den Hinweis, die Rente falle mit dem 30. April 1974 weg, ohne daß es eines Entziehungsbescheides oder einer Mitteilung bedürfe. Gegen die zeitliche Begrenzung der Rente erhob die Klägerin – mit einem am 18. Februar 1974 bei der Beklagten eingegangenen und von dieser im März 1974 an das Sozialgericht (SG) weitergeleiteten Schriftsatz, dem die Rentenakte beigefügt war – Klage. Zur Begründung führte sie aus, sie könne keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgehen. Diese Klage nahm sie jedoch am 18. Februar 1975 wieder zurück, nachdem das SG ärztliche Gutachten eingeholt hatte, in denen die Gutachter die Auffassung vertreten hatten, die Klägerin könne alle leichteren Frauenarbeiten mit bestimmten Einschränkungen vollschichtig verrichten.

Während der Dauer des Rechtsstreits hatte die Beklagte der Klägerin die Rente über den Wegfalltermin hinaus „aus nicht näher geklärten Gründen” (so das Landessozialgericht –LSG–) weitergezahlt. Erst als der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin dies der Beklagten am 10. März 1975 mitteilte – nach seinen Angaben in späteren Schriftsätzen hatte er es selbst erst am 7. März 1975 von der Klägerin erfahren – und um Überprüfung bat, stellte die Beklagte die Rentenzahlung zum 31. März 1975 ein. Mit Bescheid vom 20. Juni 1975 forderte sie die für die Monate Mai 1974 bis März 1975 überzahlte Rente (2.807,60 DM) von der Klägerin zurück. Deren Widerspruch hatte keinen Erfolg, jedoch räumte die Beklagte der – inzwischen wieder berufstätig gewordenen – Klägerin monatliche Ratenzahlungen von 50 DM ein (Widerspruchsbescheid vom 23. März 1976).

Das SG hat die Klage als unbegründet abgewiesen (Urteil vom 21. Januar 1977). Auf die Berufung der Klägerin hat das LSG die Rückforderung der Rente für rechtswidrig erklärt; es hat ua ausgeführt: Nach § 1301 der Reichsversicherungsordnung (RVO) bestehe kein Rückforderungsrecht, wenn bei einer Rentenüberzahlung für den Versicherungsträger und den Versicherten das Maß des beiderseitigen Verschuldens annähernd gleichwertig sei, wenn insbesondere der Versicherte nicht grob fahrlässig gehandelt habe. Grobe Fahrlässigkeit setze dabei voraus, daß der Versicherte die erforderliche Sorgfalt nach den gesagten Umständen in ungewöhnlich großem Maße verletzt und unbeachtet gelassen habe, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Eine solche besonders schwere Sorgfaltsverletzung sei im vorliegenden Fall nicht zu erkennen. Die Klägerin habe die Weitergewährung der Rente weder durch falsche Angaben noch durch ein pflichtwidriges Verschweigen bedeutsamer Tatsachen herbeigeführt, vielmehr habe die Weitergewährung allein im Zuständigkeits- und Verfügungsbereich der Beklagten gelegen. Außerdem sei es, worauf die Klägerin ausdrücklich hingewiesen habe, aus der Sicht eines Laien keineswegs völlig abwegig gewesen, daß die Beklagte die Rente bis zur endgültigen Entscheidung des Rechtsstreits weiterzuzahlen hatte; denn auch im Falle einer sog Urteilsrente oder einer Rentenentziehung habe der Versicherungsträger vor der rechtskräftigen Entscheidung über den streitigen Rentenanspruch Rentenleistungen zu erbringen. Zudem sei die Klägerin nicht arbeitstätig gewesen, sondern habe sich subjektiv weiterhin für erwerbsunfähig und damit für rentenberechtigt gehalten. Schließlich habe sie nach dem für sie negativen Ausgang der medizinischen Begutachtung und Rücknahme ihrer Klage ihren Prozeßbevollmächtigten und über diesen die Beklagte unverzüglich über den Eingang einer weiteren Rentenzahlung unterrichtet, das spreche dafür, daß sie tatsächlich angenommen habe, die Rente stehe ihr infolge der Klageerhebung noch bis zum Verfahrensabschluß zu. Alles in allem könne deshalb weder grobe Fahrlässigkeit noch ein das Verschulden der Beklagten wesentlich überschreitendes Mitverschulden der Klägerin festgestellt werden (Urteil vom 16. September 1977).

Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Entgegen der Ansicht des LSG habe die Klägerin die Rentenüberzahlung grob fahrlässig mitverursacht. Sie hätte um die Unrechtmäßigkeit des Rentenbezugs wissen müssen; bei sorgfältigem Verhalten hätte sie auch der Beklagten die Überzahlung mitteilen, zumindest bei ihr rückfragen müssen. Ein Vergleich mit den Fällen der Rentenentziehung oder der Zusprechung einer „Urteilsrente” sei hier nicht zulässig. Im übrigen bestehe selbst bei annähernd gleichwertigem beiderseitigem Verschulden ein Rückforderungsrecht. Die Beklagte beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen. Sie meint, schon ein leichtes Verschulden der Beklagten an der Überzahlung schließe einen Rückforderungsanspruch aus; jedenfalls müsse, um einen solchen Anspruch zu begründen, das Verschulden des Leistungsempfängers überwiegen. Das treffe für sie, die Klägerin, nicht zu. Sie hätte unter Berücksichtigung ihres Bildungsgrades davon ausgehen können, daß die Klage aufschiebende Wirkung gehabt habe. Zu Rückfragen bei der Beklagten sei sie nicht verpflichtet gewesen.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Ein Rückforderungsanspruch wegen der unstreitig überzahlten Rentenbeträge steht ihr nach § 1301 RVO nicht zu.

Wie der Senat schon entschieden hat, kann nach der genannten Vorschrift ein Versicherungsträger zu Unrecht gewährte Leistungen nicht zurückfordern, wenn ihn selbst an der Überzahlung ein Verschulden im Sinne einer leichten Fahrlässigkeit trifft und dem Empfänger ebenfalls nur leichte Fahrlässigkeit zur Last fällt (Urteil vom 31. Oktober 1978, 4 RJ 115/77, mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung), in solchen Fällen trifft der Grundgedanke der Rechtsprechung, daß arglistiges, vorsätzliches oder grob fahrlässiges Verhalten des Leistungsempfängers bei nur leichter Fahrlässigkeit des Versicherungsträgers keinen Vertrauensschutz verdient, nicht zu; vielmehr bleibt hier der Leistungsempfänger gegenüber dem Versicherungsträger schutzbedürftig. Da im vorliegenden Fall auch die Beklagte, wie sie einräumt, an der Überzahlung nicht schuldlos ist, wäre für einen Rückforderungsanspruch nur Raum, wenn der Klägerin nicht nur leichte, sondern grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen wäre. Das LSG hat dies mit eingehender Begründung verneint. Seine Ausführungen sind, soweit sie vom Revisionsgericht nachgeprüft werden können, rechtlich nicht zu beanstanden.

Eine Prüfung, ob im Einzelfall leichte oder grobe Fahrlässigkeit vorgelegen hat, lehnen die Revisionsgerichte in einer schon auf das Reichsgericht zurückgehenden Rechtsprechung „fast einhellig ab” (Henke, Die Tatfrage, Berlin 1966 S 283 mit zahlreichen Nachweisen). Sie begründen dies vor allem damit, daß die Frage, ob jemand leicht oder grob fahrlässig gehandelt hat, „nicht einheitlich für alle Fälle, sondern nur von Fall zu Fall” zu beantworten sei; dabei seien auch subjektive, in der Individualität des Handelnden begründete Umstände zu berücksichtigen; deshalb könne es für den Begriff der groben Fahrlässigkeit „keine für alle Fälle gültige feste Norm geben” (BGHZ 10, 14, 17). Dieser Begriff enthalte „einen bestimmten Beurteilungsspielraum für die Tatsacheninstanz, der sich, sofern seine Grenzen unter Beachtung der Umstände des Einzelfalles nicht überschritten werden, der Nachprüfung durch die Revisionsinstanz entzieht” (BAG 7, 290, 301; vgl. ferner BAG 23, 151). Auch das Bundessozialgericht (BSG) hat schon die Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe – wegen der größeren „Tatsachenferne” des Revisionsgerichts – dem Tatrichter überlassen, zumal dessen Entscheidung in der Regel kaum Anlaß zu grundsätzlichen, über den Einzelfall hinausgehenden und für eine einheitliche Rechtsanwendung bedeutsamen Überlegungen bietet (Urteil vom 20. Januar 1977 – 8 RU 38/76 – in SozR 2200 § 339 Nr. 32, dort entschieden für die Abgrenzung der Mitarbeit der Ehefrau im Geschäft des Ehemannes, soweit diese nach den jeweiligen ehelichen Verhältnissen „üblich” ist).

Gerade der letzte Gesichtspunkt ist auch im Schrifttum hervorgehoben und aus der „mangelnden Beispielswirkung” der Revisionsentscheidung die grundsätzliche Irrevisibilität der „Steigerungsbegriffe” des Grades und des Maßes, insbesondere des Begriffs der „groben” Fahrlässigkeit, abgeleitet worden (Henke aaO S 280 ff und Zeitschrift für den Zivilprozeß 81, 196, hier besonders 321 ff und 337 ff; ihm folgend Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht, 12. neubearbeitete Auflage 1977, § 144 V, S 823 ff; ähnlich Stein-Jonas, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 20. Auflage, § 349 Rdnrn 20, 23 bis 27, und Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, 2. neubearbeitete Auflage 1960, S 136). Der erkennende Senat schließt sich dieser Auffassung an; dabei läßt er offen, ob der Tatrichter mit der Entscheidung über das Vorliegen „grober” Fahrlässigkeit eine Tatsachenfeststellung trifft (so der BGH aaO) oder ob er damit einen Rechtsbegriff anwendet, der einen irrevisiblen Beurteilungsspielraum enthält (so das BAG).

Auch nach Ansicht des BGH, der bei Beurteilung der Fahrlässigkeit den Begriff „grob” in der Revisionsinstanz nur in demselben Umfang wie jede andere Tatsachenfest Stellung für nachprüfbar hält, muß das Revisionsgericht allerdings prüfen, ob der Tatrichter sich des Unterschiedes der Begriffe der gewöhnlichen und der groben Fahrlässigkeit bewußt gewesen ist, ob er mithin von einem zutreffenden Begriff der groben Fahrlässigkeit ausgegangen ist. Insofern bestehen jedoch gegen das angefochtene Urteil des LSG keine Bedenken; denn dieses hat seiner Entscheidung den allgemein anerkannten Begriff der groben Fahrlässigkeit zugrunde gelegt, wonach nur derjenige grob fahrlässig handelt, der die erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich großem Maße verletzt und unbeachtet läßt, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen (so der BGH aaO und das angeführte Urteil des Senats; vgl. ferner BSGE 42, 184, 187: schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung). Auch wenn darüber hinaus vom Revisionsgericht zu prüfen wäre, ob der Tatrichter den Begriff „grob” in einer vertretbaren Weise angewendet hat oder ob er dabei gegen Rechtsvorschriften, gegen allgemein anerkannte Bewertungsmaßstäbe, gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen hat, insbesondere bei der Bewertung offensichtlich fehlerhaft verfahren ist, oder nicht alle dafür in Betracht kommenden Umstände gewürdigt hat (so das BAG aaO; ähnlich Rosenberg/Schwab aaO S 827: „handgreiflich falsche” Schlußfolgerungen; Stein-Jonas aaO Rdnr 23: nicht alle festgestellten Tatsachen und Umstände bei der Subsumtion berücksichtigt), könnte hier das Urteil des LSG nicht beanstandet werden. Denn das LSG hat bei der Beurteilung des Verschuldens der Klägerin weder gegen Rechtsvorschriften noch gegen allgemein anerkannte Bewertungsmaßstäbe, Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstoßen. Es ist auch nicht offensichtlich fehlerhaft, wenn das LSG meint, aus der Sicht eines Laien wie der Klägerin sei es keineswegs völlig abwegig gewesen anzunehmen, daß die Beklagte bis zur endgültigen Entscheidung des – gegen die zeitliche Begrenzung der Rente geführten – Rechtsstreits die Rente weiter zu zahlen habe (zumal der Rentenbescheid keinen Hinweis enthält, daß die Rente zu dem festgesetzten Zeitpunkt auch dann wegfalle, wenn gegen den Bescheid ein Rechtsbehelf eingelegt werde). Dabei kommt es entgegen der Ansicht der Beklagten nicht darauf an, ob die vom LSG genannten Vergleichsfälle – Rentenentziehung und Zusprechung einer sog Urteilsrente – im engeren Sinne vergleichbar sind; es genügt, daß es im sozialgerichtlichen Verfahren in der Tat Fälle gibt, in denen eine streitige Leistung vorläufig (weiter) zu zahlen ist. Die Revision der Beklagten hat schließlich nicht vorgetragen, daß und welche Umstände das LSG bei der Bewertung des Verschuldens der Klägerin nicht gewürdigt hat.

Kann somit die Feststellung des LSG, die Klägerin habe beim Empfang der überzahlten Rentenbeträge nicht grob fahrlässig gehandelt, vom Revisionsgericht nicht beanstandet werden, so hat die Beklagte gegen die Klägerin keinen weiteren Rückforderungsanspruch. Ihre Revision gegen das Urteil des LSG ist unbegründet.

Über die Kosten hat der Senat nach § 193 des Sozialgerichtsgesetzes entschieden.

 

Fundstellen

BSGE, 180

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