Entscheidungsstichwort (Thema)

Vollwertige Ausübung eines nicht erlernten Berufs

 

Leitsatz (amtlich)

Der Einordnung eines bisher als Hilfspolier (Werkpolier) und Kolonnenführer eingesetzten Versicherten in die Gruppe mit dem Leitberuf des "Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion" bzw des "besonders hoch qualifizierten Facharbeiters" steht allein der Umstand, daß der Versicherte die Prüfung als Hilfspolier (Werkpolier) nicht abgelegt hat, nicht entgegen (Anschluß an und Fortführung von BSG 1979-11-29 4 RJ 17/79).

 

Orientierungssatz

Selbst dann, wenn ein Versicherter die für einen bestimmten Beruf vorgesehene Ausbildung nicht durchlaufen hat, ist dieser dennoch sein bisheriger Beruf, wenn er ihn nicht nur vorübergehend vollwertig ausgeübt hat. Hierfür ist neben der entsprechend hohen tariflichen Einstufung und Entlohnung erforderlich, daß der Versicherte über die theoretischen Kenntnisse und praktischen Fertigkeiten verfügt, welche in seiner Berufsgruppe gemeinhin erwartet werden.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 09.01.1979; Aktenzeichen L 5 Ar 146/77)

SG Würzburg (Entscheidung vom 20.07.1976; Aktenzeichen S 4 Ar 287/75)

 

Tatbestand

Streitig ist ein Anspruch des Klägers auf vorgezogenes Übergangsgeld bzw auf Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit.

Der im Juni 1937 geborene Kläger erlernte von 1951 bis 1953 den Beruf des Verputzers bzw Tünchers. Eine Prüfung legte er nicht ab. Bis Dezember 1970 und wiederum ab August 1973 war er bei verschiedenen Betrieben als Tüncher, Verputzer, Kolonnenführer und Hilfspolier versicherungspflichtig beschäftigt. Während der Zwischenzeit arbeitete er als Hausmeister in einem Motel und als Verleger in einem Betrieb für Akustik- und Trockenbau. Am 15. Oktober 1973 erlitt er einen Arbeitsunfall. Von Februar 1975 bis Juni 1977 war er als Maschinenarbeiter in einer Glaswarenfabrik beschäftigt. Sodann nahm er eine Beschäftigung als Hausmeister in einem Privatsanatorium auf.

Seinen Antrag vom 21. Januar 1975 auf Bewilligung einer Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 18. Juni 1975 ab. Auf die Klage hob das Sozialgericht (SG) Würzburg (Urteil vom 20. Juli 1976) diesen Bescheid auf und verurteilte die Beklagte, "beim Kläger Berufsunfähigkeit anzuerkennen und die entsprechenden gesetzlichen Leistungen ab 1. Januar 1975 zu gewähren, und zwar auf Zeit bis einschließlich Juli 1978". Gegen dieses Urteil legten die Beklagte Berufung und der Kläger - mit dem Ziel der Gewährung einer Verletztenrente auf Dauer - Anschlußberufung ein. Im Verlauf des Berufungsverfahrens lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 20. Oktober 1978 den Antrag des Klägers auf Weitergewährung der Rente ab.

Mit Urteil vom 9. Januar 1979 hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage - auch gegen den Bescheid vom 20. Oktober 1978 - abgewiesen; die Anschlußberufung des Klägers hat es zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt:

Zu beanstanden sei das angefochtene Urteil zunächst insoweit, als das SG außer acht gelassen habe, daß während der Durchführung einer Maßnahme zur Rehabilitation sowie für einen sonstigen Zeitraum, für den Übergangsgeld zu zahlen sei, kein Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit bestehe. Zutreffend habe das SG den Kläger als Facharbeiter beurteilt. Zwar sei er in der Zeit vor seinem Unfall am 15. Oktober 1973 ebenso wie bereits während früherer Zeiträume als Hilfspolier und Kolonnenführer eingesetzt worden. Hilfspoliere - jetzt Werkpoliere genannt - seien nach dem seit dem 1. Juli 1978 gültigen Lohntarifvertrag für das Bayerische Baugewerbe iVm dem Bundesrahmentarif in die Berufsgruppe I einzuordnen. Der Kläger könne jedoch nicht dazu gezählt werden. Er habe nicht die notwendige Werkpolierprüfung oder eine entsprechende Prüfung vor einem zuständigen Prüfungsausschuß abgelegt. Dies aber sei zwingende Voraussetzung für die Zugehörigkeit zur Berufsgruppe I. Der Qualifikation des Klägers als Facharbeiter stehe im Hinblick auf seine jahrelange Beschäftigung als Spezialbauarbeiter nicht entgegen, daß er seine Lehre nicht mit einer Prüfung abgeschlossen habe. Was die demnach zumutbare Verweisung des Klägers anbelange, so könne er wegen der gesundheitsbedingten Einschränkungen seiner körperlichen Leistungsfähigkeit weder seinen erlernten Beruf des Tünchers und Verputzers noch andere Tätigkeiten im Baubereich ausüben. Bei der bis Juni 1977 verrichteten Beschäftigung als Maschinenbediener in einer Glaswarenfabrik habe es sich nach den fachlichen Voraussetzungen und der Höhe der Entlohnung ebenfalls nicht um einen zumutbaren Verweisungsberuf gehandelt. Hingegen müsse sich der Kläger auf Tätigkeiten als Hausmeister und Pförtner verweisen lassen, soweit es sich hierbei um gehobene Tätigkeiten wie zB in medizinischen Kliniken oder in mittleren oder größeren Gewerbe-, Produktions- oder Verwaltungsbetrieben handele. Das sei schon deswegen gerechtfertigt, weil der Kläger bereits früher eine relativ hoch entlohnte und damit gehobene Hausmeistertätigkeit ausgeübt habe. Wenn auch eine Hausmeister- oder Pförtnertätigkeit grundsätzlich keine Berufsausbildung erfordere, so verlange sie doch Verantwortungsbewußtsein, überdurchschnittliche Arbeitsbereitschaft, Gewissenhaftigkeit sowie Wendigkeit und handwerkliches Geschick, so daß sie als hervorgehobene ungelernte Tätigkeit zu bewerten sei. Dazu sei sie in der überwiegenden Zahl der Fälle eine Vertrauensstellung, bei welcher die Einteilung der Arbeit dem einzelnen überlassen sei. Gerade eine derartige, nicht nach Zeitplan oder nach Vorschriften und Anordnungen auszuübende Beschäftigung weise ein beträchtliches Maß an Qualität auf. Dieser Gesichtspunkt sei für den Kläger mitentscheidend gewesen. Nach den ihm obliegenden Tätigkeiten würden an seine Verantwortungsfreude und Gewissenhaftigkeit beträchtliche Anforderungen gestellt. Der ihm gezahlte Lohn von etwa 9,30 DM pro Stunde spreche für eine gehobene Tätigkeit und erreiche auch unter Berücksichtigung des in ihm enthaltenen Zuschusses für die Benutzung des eigenen Fahrzeuges und für die Beschaffung von Berufskleidung eine Höhe, die in angemessenem Verhältnis zu dem Stundenbruttolohn eines Bauvorarbeiters von 11,88 DM stehe. Der Kläger erreiche somit die gesetzliche Lohnhälfte. Für den Verweisungsberuf bestehe eine ausreichende Erwerbsfähigkeit. Der Kläger sei nicht berufsunfähig.

Mit der durch Beschluß des Senats zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 1246 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Sollte sich herausstellen, daß er berufsunfähig sei, so stehe ihm für die Zeit vom 1. Februar bis 27. Oktober 1975 vorgezogenes Übergangsgeld und frühestens ab 5. Dezember 1975 Rente zu. Aus den beigezogenen Unterlagen ergebe sich, daß er als Hilfspolier drei Kolonnen zu beaufsichtigen, Verhandlungen mit der Bauleitung zu führen, Material zu beschaffen bzw durchschnittlich 20 bis 25 Facharbeiter und Bauhelfer zu beaufsichtigen gehabt habe und für die Einteilung der Arbeiter auf den Baustellen sowie für Verhandlungen mit den örtlichen Bauleitungen verantwortlich gewesen sei. Das LSG habe ihm (Kläger) lediglich Berufsschutz als Facharbeiter zugebilligt und die Zuordnung zur Gruppe der Facharbeiter mit Vorgesetztenfunktion abgelehnt, weil er die entsprechende Prüfung nicht abgelegt habe. Dies könne jedoch nicht von entscheidender Bedeutung sein. Selbst wenn hierfür außer dem Umstand, daß die Tätigkeit infolge besonderer geistiger und persönlicher Anforderungen die des Facharbeiters deutlich überrage, zusätzlich verlangt werde, daß der Versicherte in der Spitzengruppe der Lohnskala der Arbeiter stehen und Weisungsbefugnisse nicht nur gegenüber mehreren Facharbeitern haben müsse sowie selbst nicht gegenüber einem anderen Beschäftigten im Arbeitsverhältnis weisungsgebunden sein dürfe, erfülle er (Kläger) diese Voraussetzungen der Zuordnung in die Gruppe der "Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion". Ihm seien mehrere Facharbeiter unterstellt gewesen; er habe als Hilfspolier keinem anderen Arbeiter unterstanden, sondern eigenverantwortlich die Verhandlungen mit den örtlichen Bauleitungen geführt und zuletzt sogar das Gehalt zuzüglich Leistungszulage eines Poliers im Angestelltenverhältnis bezogen. Darüber hinaus habe auf seiten des Arbeitgebers die Absicht bestanden, ihn (Kläger) als Polier in das Angestelltenverhältnis zu übernehmen. Seine Aufgaben seien so umfassend gewesen, daß sie üblicherweise einem angestellten Polier übertragen würden und er eine aus dem Kreis der Facharbeiter deutlich herausragende Stellung eingenommen habe. Damit könne er sozial zumutbar nur auf Facharbeitertätigkeiten oder auf solche Tätigkeiten verwiesen werden, die dem beruflichen Niveau eines Facharbeiters entsprächen. Seine Hausmeistertätigkeit entspreche diesen Anforderungen nicht. Seine Umschulung auf einen geeigneten und zumutbaren Beruf habe die Beklagte bisher abgelehnt. Solange er nicht adäquat in das Erwerbsleben wiedereingegliedert sei, stehe ihm Rente wegen Berufsunfähigkeit zu.

Der Kläger beantragt,

1. das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts

vom 9. Januar 1979 und die Bescheide der Beklagten

vom 18. Juni 1975 und vom 20. Oktober 1978 aufzuheben;

2. unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts

Würzburg vom 20. Juli 1976 die Beklagte zu verurteilen,

ihm vom 1. Februar bis 27. Oktober 1975 vorgezogenes

Übergangsgeld und ab 5. Dezember 1975

Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit auf unbestimmte

Zeit zu leisten;

3. die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des

Sozialgerichts Würzburg vom 20. Juli 1976 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen;

hilfsweise: den Rechtsstreit zur weiteren Sachaufklärung

an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Das LSG sei zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, daß der Kläger nur als "einfacher" Facharbeiter einzustufen sei. Der Hinweis auf die Werkpolierprüfung als zwingende Voraussetzung für die Zugehörigkeit zur Berufsgruppe I sei dahin zu verstehen, daß dem Kläger trotz entsprechender Bezahlung und Berufsbezeichnung die notwendigen umfassenden beruflichen Kenntnisse eines Werkpoliers gefehlt hätten.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gem § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die durch nachträgliche Zulassung statthafte Revision des Klägers ist zulässig und im Sinne einer Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht begründet.

Der Kläger begehrt eine Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit bzw an deren Stelle für einen bestimmten Zeitraum das sogen vorgezogene Übergangsgeld. Rechtsgrundlage des erstgenannten Anspruchs ist § 1246 RVO. Danach erhält Rente wegen Berufsunfähigkeit der Versicherte, der berufsunfähig ist, wenn die Wartezeit erfüllt ist (§ 1246 Abs 1 RVO). Berufsunfähig ist ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können (§ 1246 Abs 2 Sätze 1 und 2 RVO).

Der Senat kann nicht abschließend entscheiden, ob der Kläger berufsunfähig ist. Hierzu bedarf es weiterer tatsächlicher Feststellungen.

Ausgangspunkt der Prüfung, ob ein Versicherter berufsunfähig ist und damit die Voraussetzungen des § 1246 RVO für die Bewilligung einer entsprechenden Versichertenrente erfüllt, ist sein "bisheriger Beruf". Kann der Versicherte seine bisherige Berufstätigkeit auch nach Eintritt der angeblich Berufsunfähigkeit bedingten Umstände ohne wesentliche Einschränkungen weiterhin ausüben, so schließt allein dies das Vorliegen von Berufsunfähigkeit aus. Für eine Verweisung auf andere Tätigkeiten und für eine Erörterung der sozialen Zumutbarkeit dieser Verweisung ist dann kein Raum (vgl Urteil des Senats in BSGE 48, 65, 66 = SozR 2200 § 1246 Nr 39 S 119). Aber auch wenn eine solche Verweisung in Betracht kommt, bedarf es der Feststellung des "bisherigen Berufes". Er ist im Rahmen des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO von entscheidender Bedeutung für die Bestimmung des Kreises der Tätigkeiten, auf die der Versicherte unter Verneinung von Berufsunfähigkeit verwiesen werden darf. Dabei bestimmt sich nach feststehender Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) der Kreis der zumutbaren Tätigkeiten hauptsächlich nach dem qualitativen Wert des bisherigen Berufes des Versicherten im Betrieb. Dieser qualitative Wert spiegelt sich relativ zuverlässig in der tariflichen Einstufung der jeweiligen Tätigkeit wider. Sie ist daher ein geeignetes Hilfsmittel zur Feststellung der Qualität des bisherigen Berufes und damit zugleich der nach § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO zulässigen Verweisung des Versicherten auf andere Tätigkeiten. Dabei ist zu berücksichtigen, daß sich in der Arbeitswelt auf der Grundlage der tariflichen Bewertung mehrere Gruppen von Arbeiterberufen auffinden lassen, welche durch verschiedene "Leitberufe" charakterisiert werden. Die Rechtsprechung des BSG hat hierzu zunächst ein - nicht starr anzuwendendes - Dreistufenschema entwickelt und die Arbeiterberufe in eine obere Gruppe mit dem Leitberuf des "Facharbeiters" (anerkannte Ausbildungsberufe mit einer Ausbildungszeit von mindestens zwei Jahren), eine mittlere Gruppe mit dem Leitberuf des "sonstigen Ausbildungsberufes" (anerkannte Ausbildungsberufe mit einer Regelausbildungszeit von weniger als zwei Jahren) und eine untere Gruppe der ungelernten Arbeiter unterteilt. Grundsätzlich darf auf die nächstniedrigere Gruppe und unter bestimmten Voraussetzungen auf die untere Gruppe verwiesen werden (vgl zB BSGE 45, 276, 277 = SozR 2200 § 1246 Nr 27 S 77; BSG SozR 2200 § 1246 Nr 31 S 92 f; jeweils mwN).

Erstmals im Urteil vom 30. März 1977 (BSGE 43, 243, 246 = SozR 2200 § 1246 Nr 16 S 49 f) hat es der 5. Senat in Ergänzung und weiterer Differenzierung der bisherigen Rechtsprechung für sachdienlich und geboten erachtet, die bisher zur Gruppe mit dem Leitberuf des "Facharbeiters" gehörenden Versicherten mit Leistungsfunktionen wie zB die des Meisters und Hilfsmeisters im Arbeitsverhältnis, des Hilfspoliers und bestimmter Vorarbeiter, deren Berufstätigkeit zufolge besonderer geistiger und persönlicher Anforderungen die des Facharbeiters in ihrer Qualität noch deutlich überragt, in einer besonderen Gruppe mit dem Leitberuf des "Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion" zusammenzufassen. "Schlichte" Vorarbeiter, die keine wesentlich anderen Arbeiten als die der Gruppe der Facharbeiter angehörenden Arbeitskollegen verrichten, sowie Vorarbeiter, die sich lediglich durch eine etwas herausgehobene Stellung innerhalb von Arbeitsgruppen Ungelernter oder Angelernter auszeichnen, gehören allerdings nicht zu dieser Gruppe. Die Versicherten in der Gruppe mit dem Leitberuf des "Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion" sind zumutbar nur auf Tätigkeiten zu verweisen, die nach ihrer tariflichen Einstufung in die Gruppe der Facharbeiter fallen. An dieser Rechtsprechung hat der 5. Senat des BSG in der Folgezeit festgehalten (BSG SozR 2200 § 1246 Nr 37 S 112 f; BSGE 49, 34, 35 = SozR 2200 § 1246 Nr 49 S 147) und zusätzlich darauf hingewiesen, daß hierdurch der im Vergleich zu früher differenzierten und verfeinerten Tarifgestaltung und somit letztlich der gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Entwicklung Rechnung getragen werde (Urteil vom 20. Februar 1980 - 5 RJ 8/79 -). Der erkennende Senat ist ebenfalls von einer Gruppe mit dem Leitberuf des "Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion" ausgegangen (BSG SozR 2200 § 1246 Nr 29 S 86 und Nr 41 S 125). Der 4. Senat des BSG ist dieser Rechtsauffassung im Ergebnis nicht entgegengetreten. Er hat allerdings insbesondere im Hinblick darauf, daß auch derjenige Facharbeiter, der "Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion" geworden sei, Facharbeiter bleibe und es somit an einer berufssystematischen Unterscheidungsmöglichkeit wie im Verhältnis zwischen den drei bisherigen Gruppen fehle, in Zweifel gezogen, ob es insoweit einer eigenen neuen Gruppe von Arbeitern bedürfe. Andererseits jedoch könne ein Facharbeiter unter bestimmten Umständen so weit aus dem Kreis der sonstigen Facharbeiter herausgehoben sein, daß ihm wegen seiner besonderen Stellung im Betrieb, die zu den "besonderen Anforderungen seiner Berufstätigkeit" im Sinne des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO gehöre, eine Verweisung nur auf Facharbeitertätigkeiten zugemutet werden könne. Das sei aber in der Regel nur dann der Fall, wenn er selbst Facharbeiter sei, also einen Beruf mit einer Ausbildungszeit von mindestens zwei Jahren ausübe, Weisungsbefugnisse nicht nur gegenüber Angelernten und Hilfsarbeitern, sondern gegenüber mehreren anderen Facharbeitern habe und selbst in der Spitzengruppe der Lohnskala der Arbeiter stehe. Gleichzustellen und somit in der Verweisbarkeit ähnlich eng zu begrenzen seien die "besonders hoch qualifizierten Facharbeiter", wobei allerdings erforderlich sei, daß die hochqualifizierte Tätigkeit tatsächlich verrichtet und die tarifliche Einstufung nicht in erster Linie aufgrund des Lebensalters oder langjähriger Betriebszugehörigkeit vorgenommen worden sei (BSGE 45, 276, 277 f = SozR 2200 § 1246 Nr 27 S 78 f; BSG SozR 2200 § 1246 Nr 31 S 93 f; Nr 35 S 108). Diese Rechtsprechung hat der 4. Senat später negativ abgrenzend dahin konkretisiert, daß ein Versicherter dann nicht der besonderen Gruppe der enger verweisbaren Facharbeiter zuzuordnen sei, wenn er selbst Weisungen eines anderen Beschäftigten im Arbeiterverhältnis befolgen müsse (BSG SozR 2200 § 1246 Nr 44 S 130 f; vgl auch Urteil vom 29. November 1979 - 4 RJ 17/79 -). Der 5. Senat (BSG SozR 2200 § 1246 Nr 37 S 113; Urteil vom 20. Februar 1980 - 5 RKn 25/78 -) und der erkennende Senat (BSG SozR 2200 § 1246 Nr 51 S 156) sind der Auffassung über die engere Verweisbarkeit "besonders hoch qualifizierter Facharbeiter" gefolgt.

Das LSG hat festgestellt, daß der Kläger unmittelbar vor seinem Unfall am 15. Oktober 1973 ebenso wie bei anderen Arbeitgebern bis März 1968 und von Mai 1969 bis November 1970 als Hilfspolier und Kolonnenführer eingesetzt worden sei. Es ist gleichwohl zu dem Ergebnis gelangt, daß er nicht nach dem seit dem 1. Juli 1978 gültigen Lohntarifvertrag für das Bayerische Baugewerbe iVm dem Bundesrahmentarif in die für die bisherigen Hilfspoliere (jetzt: Werkpoliere) geltende Berufsgruppe I eingeordnet werden könne, weil er die hierfür erforderliche Werkpolierprüfung oder eine entsprechende Prüfung vor einem zuständigen Ausschuß nicht abgelegt habe. Unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des BSG hat das Berufungsgericht somit den Kläger nicht als "Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion" bzw als "besonders hoch qualifizierten Facharbeiter" angesehen. Dem kann jedenfalls mit der gegebenen Begründung nicht gefolgt werden.

Nach einhelliger Rechtsprechung der für Streitigkeiten aus dem Gebiet der Rentenversicherung der Arbeiter zuständigen Senate des BSG kommt es bei der Bestimmung des bisherigen Berufes und damit zugleich des Kreises der zumutbaren Verweisungstätigkeiten auf die "besonderen Anforderungen" des bisherigen Berufes, dh auf seine positiv zu bewertenden Merkmale, insgesamt also auf seinen qualitativen Wert an. Weniger gewichtig ist dagegen die in § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO weiter genannte Ausbildung. Sie kennzeichnet lediglich den Weg, auf dem die den Beruf qualifizierenden "Kenntnisse und Fähigkeiten" (§ 1246 Abs 2 Satz 1 RVO) regelmäßig erworben werden. Deshalb ist selbst dann, wenn ein Versicherter die für einen bestimmten Beruf vorgesehene Ausbildung nicht durchlaufen hat, dieser dennoch sein bisheriger Beruf, wenn er ihn nicht nur vorübergehend vollwertig ausgeübt hat (vgl ua BSGE 41, 129, 130 f = SozR 2200 § 1246 Nr 11 S 24 f; BSGE 43, 243, 244 = SozR 2200 § 1246 Nr 16 S 48; BSGE 49, 54, 55 = SozR 2200 § 1246 Nr 51 S 155; BSG SozR 2200 § 1246 Nr 29 S 85 f; Nr 46 S 139; Nr 53 S 162 f; Nr 55 S 169). Das ist "regelmäßig" der Fall, wenn der bisherige Beruf entsprechend dem Ausbildungsberuf entlohnt worden ist (vgl Urteile des Senats in BSG SozR 2200 §1246 Nr 55 S 169 und vom 24. April 1980 - 1 RJ 62/79 -). Dem liegt auch in diesem Zusammenhang die Erwägung zugrunde, daß die tarifliche Entlohnung ein relativ zuverlässiges Indiz für den qualitativen Wert der entlohnten Tätigkeit ist. Dies gilt jedoch nicht ausnahmslos. Die tarifliche Einstufung einer Tätigkeit spiegelt nicht stets deren qualitativen Wert wider. Das gilt etwa dann, wenn sie nicht auf der betrieblichen Bedeutung der Tätigkeit beruht, sondern lediglich dem Ausgleich von mit ihr verbundenen Nachteilen und Erschwernissen (zB Nacht-, Akkord- oder Schmutzarbeit) dient (vgl BSGE 44, 10, 11 = SozR 2200 § 1246 Nr 17 S 52 mwN) oder aus sozialen Gründen wegen in der Person des Versicherten liegender Umstände (zB höheres Lebensalter, Dauer der Betriebszugehörigkeit) vorgenommen wird (BSGE 44, 10, 12 = SozR 2200 § 1246 Nr 17 S 53; BSG SozR 2200 §1246 Nr 46 S 139; BSGE 49, 34, 36 = SozR 2200 § 1246 Nr 49 S 148). Dasselbe muß im Zusammenhang mit der Frage gelten, ob der Versicherte trotz Fehlens der dafür erforderlichen Ausbildung und Prüfung die Tätigkeit eines "Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion" bzw eines "besonders hoch qualifizierten Facharbeiters" vollwertig ausgeübt hat. Folgerichtig hat daher der 4. Senat des BSG auch für diese Berufsgruppe (ebenso für diejenige der Facharbeiter; vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nr 53 S 163; Urteil vom 23. April 1980 - 4 RJ 29/79 -) verlangt, im Interesse einer klaren und sachgerechten Abgrenzung eingehend zu prüfen, ob die abweichend vom "normalen" Ausbildungsweg erlangte berufliche Position tatsächlich in voller Breite derjenigen des vergleichbaren Versicherten entspricht, der die üblichen Stadien der Ausbildung durchlaufen hat. Neben der gleichen tariflichen Einstufung und Entlohnung ist zu verlangen, daß der Versicherte nicht nur eine seinem individuellen Arbeitsplatz entsprechende Leistung erbringt, sondern auch über die theoretischen Kenntnisse und praktischen Fertigkeiten verfügt, welche in seiner Berufsgruppe gemeinhin erwartet werden. In diesem Sinne muß eine "Wettbewerbsfähigkeit" im Verhältnis zu anderen Versicherten derselben Berufsgruppe bestehen (Urteil vom 29. November 1979 - 4 RJ 17/79 -).

Das LSG hat demnach dem Kläger den Berufsschutz eines "Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion" bzw eines "besonders hoch qualifizierten Facharbeiters" nicht deswegen versagen dürfen, weil er die Werkpolierprüfung oder eine entsprechende Prüfung nicht abgelegt hat. Andererseits kann der Kläger diesen Berufsschutz nicht allein deswegen in Anspruch nehmen, weil er zuletzt als Kolonnenführer und Hilfspolier beschäftigt worden ist. Vielmehr müssen die näheren Umstände dieser Beschäftigung aufgeklärt werden. Festzustellen ist zunächst ihre tarifliche Einstufung. Weiterhin bedarf es der Feststellung, ob und wem gegenüber der Kläger weisungsunterworfen, ob und gegebenenfalls gegenüber wievielen Arbeitnehmern er seinerseits weisungsbefugt gewesen ist und welcher Gruppe der Arbeiterberufe die ihm unterstellten Arbeiter angehört haben. Hat der Kläger eine Weisungsbefugnis gegenüber mehreren Facharbeitern nicht besessen, so bleibt zu prüfen, ob er selbst eine besonders hoch qualifizierte Tätigkeit verrichtet hat. Alle diese Feststellungen liegen auf tatsächlichem Gebiet. Der Senat kann sie nicht treffen. Der Rechtsstreit muß daher an die Vorinstanz zurückverwiesen werden (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Sollte das LSG bei seiner erneuten Entscheidung zu dem Ergebnis gelangen, daß der Kläger berufsunfähig ist, so wird es auch darüber zu entscheiden haben, ob ihm gemäß seinem Vorbringen in der Revisionsinstanz für die Zeit vom 1. Februar bis 27. Oktober 1975 anstelle einer Versichertenrente nach § 1241d Abs 1 Satz 2 RVO Übergangsgeld zusteht.

Das LSG wird schließlich auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1657170

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