Leitsatz (amtlich)

Facharbeiter (Angehörige anerkannter Ausbildungsberufe mit einer Ausbildungszeit von mindestens zwei Jahren), die als Vorarbeiter Vorgesetzte anderer Facharbeiter sind und in der Spitzengruppe der Lohnskala der Arbeiter stehen, können in der Regel nur auf Tätigkeiten verwiesen werden, die nach ihrer tariflichen Einstufung in die Gruppe der Facharbeiter fallen; das gleiche gilt für besonders hoch qualifizierte Facharbeiter (vgl BSG 1977-03-30 5 RJ 98/76 = BSGE 43, 243 = SozR 2200 § 1246 Nr 16).

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 17.05.1977; Aktenzeichen L 5 Ar 558/75)

SG Bayreuth (Entscheidung vom 08.10.1975; Aktenzeichen S 4 Ar 449/74)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 17. Mai 1977 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Bayerische Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Der 1933 geborene Kläger beansprucht Rente wegen Berufsunfähigkeit. Er arbeitete nach der Gesellenprüfung von 1953 bis 1972 als Elektroinstallateur. Seit April 1974 ist er als Pförtner in einem Großbetrieb tätig. Ein 1970 erlittener Unfall hat praktisch zur Erblindung des rechten Auges geführt. Deshalb kann der Kläger nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) nur noch (vollschichtig) Arbeiten verrichten, die kein räumliches oder genaueres Sehvermögen erfordern. Ferner soll er nicht in großer Hitze oder Kälte arbeiten sowie Reizungen des verletzten Auges durch Staub, Gase oder Dämpfe vermeiden. Die Beklagte lehnte den Rentenantrag ab (Bescheid vom 8. April 1974). Klage und Berufung blieben ohne Erfolg (Urteile des Sozialgerichts - SG - vom 8. Oktober 1975 und des LSG vom 17. Mai 1977).

Das LSG hat ausgeführt: Für den Kläger komme aufgrund seiner in jahrelanger Praxis als Elektromonteur und Werkselektriker erworbenen Kenntnisse jedenfalls das weite Feld der Revisions- und Überwachungsarbeiten, Anlagekontrollen uä in Betracht (Hinweis auf SozR Nr 103, 104 und 107 zu § 1246 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Diese Tätigkeiten höben sich aus dem Kreis sonstiger ungelernter Tätigkeiten hervor und könnten mit Ausnahme mechanisierter Produktionsarbeiten der Holzindustrie auch im Hinblick auf das Augenleiden geleistet werden. Ob die ausgeübte Pförtnertätigkeit einen dem Kläger zumutbaren Verweisungsberuf darstelle, könne offenbleiben. Der Vortrag des Klägers, vor dem Unfall bauleitender Monteur gewesen zu sein, führe nicht zwingend zur Annahme von Berufsunfähigkeit, da auch in diesem Fall auf die beispielhaft erwähnten Tätigkeiten verwiesen werden könne.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt der Kläger unter Hinweis auf SozR 2200 § 1246 Nr 16, das LSG habe die tarifliche Einstufung der als zumutbar erachteten Revisions- und Überwachungsarbeiten nicht untersucht und unberücksichtigt gelassen, daß er als bauleitender Monteur Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion gewesen und daher nur auf "gelernte" Tätigkeiten verweisbar sei.

Der Kläger beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen sowie den Bescheid der Beklagten aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, für die Zeit vom 1. Februar 1974 an Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren,

hilfsweise zur Fortbildung und Wahrung der Einheitlichkeit des Rechts den Großen Senat anzurufen.

Die Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend und beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zurückverwiesen werden muß. Die Feststellungen des Berufungsgerichts reichen nicht aus, um entscheiden zu können, ob der Kläger berufsunfähig ist (§ 1246 Abs 2 RVO).

Das LSG hat, wie dem Gesamtinhalt seiner Urteilsbegründung zu entnehmen ist, den Kläger wegen der Augenverletzung nicht mehr für fähig gehalten, eine der früher ausgeübten Tätigkeiten zu verrichten. Es kommt daher darauf an, welche seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechenden "Tätigkeiten ... ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können" (§ 1246 Abs 2 S. 2 RVO; sog. Verweisungsberufe). Insofern muß zunächst der "bisherige Beruf" (Hauptberuf) ermittelt und nach den vorgenannten Kriterien bewertet werden. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) hat hierzu ein - nicht starr anzuwendendes - Dreistufenschema entwickelt, das die Arbeiterberufe in eine obere Gruppe (anerkannte Ausbildungsberufe mit einer Ausbildungszeit von mindestens zwei Jahren, Leitberuf: Facharbeiter), eine mittlere Gruppe (anerkannte Ausbildungsberufe mit einer Regelausbildungszeit von weniger als zwei Jahren, Leitberuf: sonstiger Ausbildungsberuf) und die untere Gruppe der ungelernten Arbeiter unterteilt (vgl Urteil des 5. Senats vom 30. März 1977 - 5 RJ 98/76 - BSGE 43, 243 = SozR 2200 § 1246 Nr 16); grundsätzlich darf auf die nächstniedrigere Gruppe verwiesen werden (vgl ua SozR Nr. 103 zu § 1246 RVO).

Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, der Kläger sei "gelernter Elektriker und somit als Facharbeiter zu bewerten." Es hat ihn also der oberen Gruppe des Dreistufenschemas zugeordnet, wobei es als Lehrberuf (jetzt: Ausbildungsberuf) den des Elektroinstallateurs gemeint haben dürfte. Diese Feststellung reicht jedoch für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht aus. Denn der Kläger hat bereits im Berufungsverfahren (ebenso wie in erster Instanz) behauptet, vor dem Unfall bauleitender Monteur gewesen zu sein. In dem bereits zitierten und auch vom LSG erwähnten Urteil des 5. Senats hat dieser nun das bisherige Schema der Arbeiterberufe insofern ergänzt, als er die Versicherten mit Leitungsfunktionen wie zB die des Meisters und Hilfsmeisters im Arbeitsverhältnis, des Hilfspoliers und bestimmter Vorarbeiter, deren Berufstätigkeit zufolge besonderer geistiger und persönlicher Anforderungen die des Facharbeiters in ihrer Qualität noch deutlich überragt, in einer besonderen Gruppe (Leitberuf: Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion) zusammengefaßt und die Verweisbarkeit von Angehörigen dieser Gruppe auf solche Tätigkeiten beschränkt hat, die tariflich wie Facharbeitertätigkeiten eingestuft sind; schlichte Vorarbeiter, die keine wesentlich anderen Arbeiten als die der Gruppe der Facharbeiter angehörenden Arbeitskollegen verrichten, und Vorarbeiter, die sich nur durch eine etwas herausgehobene Stellung innerhalb von Arbeitsgruppen Ungelernter oder Angelernter auszeichnen, fallen nach Ansicht des 5. Senats nicht in die genannte Gruppe.

Der erkennende Senat tritt dieser Rechtsauffassung im Ergebnis nicht entgegen. Ob es allerdings insoweit der Bildung einer eigenen neuen Gruppe von Arbeitern bedarf, kann fraglich sein. Auch der Facharbeiter, der "Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion" geworden ist, bleibt Facharbeiter. Er kann jedoch unter bestimmten Umständen so weit aus dem Kreis der sonstigen Facharbeiter herausgehoben sein, daß ihm wegen seiner besonderen Stellung im Betrieb, die zu den "besonderen Anforderungen seiner Berufstätigkeit" iS des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO gehört (vgl hierzu auch Zweng/Scheerer, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 2. Aufl, 3. Lfg, § 1246 S. 35), eine Verweisung nur auf Facharbeitertätigkeiten zugemutet werden kann. Das wird aber in der Regel nur dann der Fall sein, wenn er selbst Facharbeiter ist, also einen Beruf mit einer Ausbildungszeit von mindestens zwei Jahren ausübt, Weisungsbefugnisse nicht nur gegenüber Angelernter und Hilfsarbeitern, sondern gegenüber mehreren anderen Facharbeitern hat und selbst in der Spitzengruppe der Lohnskala der Arbeiter steht.

Ähnlich eng zu begrenzen ist im übrigen nach Ansicht des Senats die Verweisungsbreite besonders hoch qualifizierter Facharbeiter (vgl hierzu zB den im Urteil des Senats vom 23. März 1977 - 4 RJ 29/76 - genannten Lohnrahmentarifvertrag vom 18. Oktober 1973 für die Metallindustrie in Schleswig-Holstein, Tätigkeitsgruppe 9: "Zeitlohnarbeiten höchstwertiger Art, die meisterliches Können, völlige Selbständigkeit, Dispositionsvermögen hohes Verantwortungsbewußtsein und entsprechende theoretische Kenntnisse voraussetzen"). Erforderlich für eine solche Begrenzung des Verweisungsrahmens ist allerdings, daß eine entsprechend hoch qualifizierte Tätigkeit tatsächlich verrichtet und die Einstufung nicht in erster Linie aufgrund des Lebensalters oder langjähriger Betriebszugehörigkeit vorgenommen wurde.

Im Hinblick auf die vom Kläger behauptete frühere Tätigkeit des bauleitenden Monteurs wäre im vorliegenden Fall insbesondere noch zu prüfen, wieviel Arbeiter ihm unterstellt waren, wie sich diese Arbeiter auf die Gruppen Facharbeiter, Angehörige sonstiger Ausbildungsberufe und ungelernte Arbeiter verteilt haben, inwieweit er selbst mitgearbeitet hat, welcher Art die Weisungen waren, die er erteilen durfte, und welche Weisungen er selbst von seinen Vorgesetzten erhielt.

Die hiernach noch erforderlichen tatsächlichen Ermittlungen kann nicht das Revisionsgericht, sondern muß die Tatsacheninstanz anstellen. Sollte sich ergeben, daß der Kläger eine Vorgesetztenfunktion im genannten Sinne innehatte oder daß er besonders hoch qualifizierte Facharbeiten verrichtete, so kann er grundsätzlich nur auf andere Facharbeitertätigkeiten oder solche Tätigkeiten verwiesen werden, die wegen ihrer Qualitätsmerkmale Facharbeitertätigkeiten gleichstehen, was in der Regel in der tariflichen Einstufung zum Ausdruck kommt (vgl SozR 2200 § 1246 Nr 16 und Urteil des 5. Senats vom 22. September 1977 - 5 RJ 96/76 -). Ergibt sich jedoch, daß der Kläger nur als "schlichter" Facharbeiter einzugruppieren ist, so besteht eine Verweisbarkeit auch auf sonstige Ausbildungsberufe und solche Tätigkeiten der unteren Gruppe, die sich durch besondere Qualifikationsmerkmale aus dem Kreis der übrigen ungelernten Tätigkeiten hervorheben, wofür wiederum die tarifliche Einstufung in der Regel wichtigstes Indiz ist (vgl die beiden vorgenannten Urteile).

Im übrigen wird das LSG nochmals prüfen können, wie die derzeitige Pförtnertätigkeit des Klägers zu bewerten ist, insbesondere im Hinblick auf ihre tarifliche Einstufung (zur Bewertung von Pförtnertätigkeiten vgl das bereits zitierte Urteil des 5.Senats vom 22. September 1977 - 5 RJ 96/76 - sowie das Urteil des erkennenden Senats vom 29. April 1976 - 4 RJ 87/75 -); möglicherweise erübrigen sich danach weitere Ermittlungen.

Hiernach war der Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Anlaß zu der vom Kläger beantragten Anrufung des Großen Senats bestand - jedenfalls im derzeitigen Stadium des Verfahrens - nicht.

Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 276

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