Leitsatz (amtlich)

Zur Frage der Verweisbarkeit eines Waldfacharbeiters im Rahmen der Prüfung der Berufsunfähigkeit (RVO § 1246 Abs 2).

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 24. Juli 1975 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Unter den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit zusteht.

Der 1924 geborene Kläger hat im Kriege beide Vorfüße verloren. Im Jahre 1949 nahm er die bereits von 1939 bis 1942 ausgeübte Beschäftigung eines Waldarbeiters wieder auf und legte 1950 die Waldfacharbeiterprüfung ab. Er war sodann als Rottenführer eingesetzt. Seit dem Jahre 1952 bewirtschaftet er nur noch das ihm und seiner Ehefrau gehörende kleine landwirtschaftliche Anwesen.

Mit der Klage gegen den die Rente wegen Berufsunfähigkeit ablehnenden Bescheid der Beklagten vom 21. September 1970 hatte der Kläger zwar in erster, jedoch nicht in zweiter Instanz Erfolg. Mit Urteil vom 24. Juli 1975 hat das Landessozialgericht (LSG) die zusprechende Entscheidung des Sozialgerichts (SG) vom 4. Dezember 1972 aufgehoben und die Klage abgewiesen. In der Begründung heißt es, der Kläger habe seine Tätigkeit als Waldfacharbeiter nach relativ kurzer Zeit wieder aufgegeben, ohne aus gesundheitlichen Gründen dazu gezwungen gewesen zu sein. Die Zeit, in welcher der Kläger als Waldfacharbeiter tätig gewesen sei, sei zu kurz, "um die Grundlage für ein Arbeitsleben bilden zu können". Der Kläger könne daher auch auf Erwerbstätigkeiten ohne besondere fachliche Anforderungen verwiesen werden. Eine solche Erwerbstätigkeit übe der Kläger im eigenen landwirtschaftlichen Betrieb auch tatsächlich aus. Diese Tätigkeit gehe auch nicht auf Kosten seiner Gesundheit.

Mit der zugelassenen Revision tritt der Kläger diesem Urteil entgegen. Er führt aus, bei der Prüfung der Frage der Berufsunfähigkeit im Sinne des § 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) genieße er als ehemaliger Waldfacharbeiter den von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Berufsschutz des gelernten Arbeiters. Hiernach dürfe er nicht auf alle einfachen ungelernten Tätigkeiten verwiesen werden. Im übrigen fänden sich auch in einem landwirtschaftlichen Betrieb keine leichten körperlichen Arbeiten im Sitzen in geschlossenen Räumen, welche er laut Sachverständigengutachten nach seinem Gesundheitszustand nur noch verrichten könne. Schließlich gehe die von ihm in seinem landwirtschaftlichen Anwesen noch verrichtete Arbeit auf Kosten seiner Gesundheit. Das LSG habe nicht berücksichtigt, daß bei ihm nach den medizinischen Gutachten außer dem Verlust beider Vorderfüße noch weitere körperliche, Beeinträchtigungen vorlägen. Das alles habe das LSG verfahrensfehlerhaft nicht berücksichtigt.

Der Kläger beantragt,

1.

unter Aufhebung des Urteils des Hessischen LSG vom 24. Juli 1975 die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Marburg/Lahn vom 4. Dezember 1972 als unbegründet zurückzuweisen;

2.

die Beklagte zu verurteilen, ihm, Kläger, auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten;

3.

hilfsweise,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen und die Kostenentscheidung dem abschließenden Urteil vorzubehalten.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für richtig und betont, daß ein Waldfacharbeiter mit einem Ausbildungsgang, wie ihn der Kläger gehabt habe, nicht als Facharbeiter sondern allenfalls als angelernter Arbeiter anzusehen sei mit der Folge eines entsprechend größeren Verweisungsfeldes. Im übrigen könne dem Kläger Berufsschutz als Waldfacharbeiter schon deshalb nicht zugebilligt werden, weil er diese Tätigkeit nur kurzfristig ausgeübt und sie daher seinem Berufsleben nicht das Gepräge gegeben habe. Es fehle mithin an einem besonderen "bisherigen Beruf" des Klägers. Er könne daher auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes verwiesen werden.

Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision ist mit ihrem Hilfsantrag auf Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet.

Nach § 1246 Abs. 2 Satz 1 RVO ist berufsunfähig ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit auf weniger als die Hälfte derjenigen eines vergleichbaren gesunden Versicherten abgesunken ist. Dabei umfaßt der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, nach § 1246 Abs. 2 Satz 2 aaO alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. "Bisheriger Beruf" (Hauptberuf) des Klägers, auf den es hiernach für die Bestimmung des Kreises der zumutbaren Verweisungstätigkeiten entscheidend ankommt, ist der des Waldfacharbeiters. Diesen Beruf hat der Kläger nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG nach Ablegung der vorgeschriebenen Prüfung zuletzt - seit 1950 - versicherungspflichtig ausgeübt.

Das LSG meint freilich, auf diesen Beruf komme es rechtlich nicht an, weil ihn der Kläger im Jahre 1950 nach relativ kurzer Zeit aufgegeben habe, ohne durch gesundheitliche Gründe dazu gezwungen gewesen zu sein. Dem kann nicht beigepflichtet werden. Für die Ermittlung des bisherigen Berufs ist nicht entscheidend, daß der Versicherte eine bestimmte Tätigkeit - tatsächlich - aufgegeben hat; es kommt vielmehr darauf an, ob sich der Rentenbewerber einem anderen versicherten Beruf zugewandt und sich dadurch vom bisherigen versicherten Beruf im Rechtssinne "gelöst" hat (vgl. die Rechtsprechung des erkennenden Senats BSGE 2, 183; 15, 213, 214 = SozR Nr. 16 zu § 35 RKG aF; SozR 2600 § 45 Nr. 6). In diesem Sinn hat sich der Kläger dadurch, daß er 1952 den Beruf des Waldfacharbeiters tatsächlich aufgegeben und eine selbständige Tätigkeit als landwirtschaftlicher Unternehmer aufgenommen hat, nicht vom bisherigen versicherten Beruf gelöst. Es ist ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), daß als "bisheriger Beruf" (Hauptberuf) im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO nur eine pflichtversicherte Beschäftigung oder Tätigkeit angesehen werden kann (BSGE 7, 66; 19, 57, 58 = SozR Nr. 26 zu § 1246 RVO; BSGE 25, 129, 131 = SozR Nr. 60 aaO; BSGE 27, 263, 264 = SozR Nr. 67 aaO; SozR Nr. 10, 25, 65, 69 aaO). Bestimmt mithin nur der pflichtversicherte Beruf das nach § 1246 RVO versicherte Risiko, so kann sich hieran nichts dadurch ändern, daß sich der Versicherte einer selbständigen Tätigkeit zuwendet, deren Verrichtung in den durch die Vorschriften der Wanderversicherung miteinander verknüpften Zweigen der gesetzlichen Rentenversicherung (§§ 1308 ff RVO, §§ 87 ff des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -; §§ 99 ff des Reichsknappschaftsgesetzes - RKG -) keine Pflichtversicherung auslöst. Die tatsächliche Aufgabe der zuletzt verrichteten pflichtversicherten Beschäftigung, die in der Aufnahme der nicht versicherten selbständigen Tätigkeit liegt, schreibt den bis dahin ausgeübten versicherten Beruf als "bisherigen Beruf" nach § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO notwendig fest, da ihm kein anderer versicherter Beruf folgt; von einer Lösung vom bisherigen versicherten Beruf im Rechtssinn durch Zuwendung zu einer nicht versicherten selbständigen Tätigkeit läßt sich daher nicht sprechen.

Auch der Umstand, daß der Kläger nur von 1950 bis 1952 als Waldfacharbeiter tätig gewesen ist, beeinträchtigt den von ihm erworbenen und durch § 1246 Abs. 2 RVO geschützten Berufsstatus nicht. Der Senat hat in seiner Rechtsprechung immer wieder herausgestellt, daß "bisheriger Beruf" (Hauptberuf) eine vollwertig, wenn auch nur kurzfristig ausgeübte Tätigkeit ist, hinsichtlich derer der Versicherte eine übliche berufliche Entwicklung durchlaufen hat (vgl. zB. SozR Nr. 20 zu § 45 RKG; Urteil des erkennenden Senats vom 26. November 1975 - 5 RKn 18/75 -). Nun hat der Kläger zwar nicht die Regelausbildung zum Waldfacharbeiter durchlaufen. Er hat nach jahrelanger Tätigkeit als Jungwaldfacharbeiter und Waldarbeiter in hessischen Staatsforsten sowie nach Absolvierung eines vorbereitenden Lehrgangs 1950 die Waldfacharbeiterprüfung abgelegt. Danach hat er bis 1952 vollwertig als Waldfacharbeiter und Rottenführer gearbeitet. Eine solche berufliche Entwicklung war nach den seinerzeit für den Kläger geltenden Bestimmungen durchaus üblich. Nach §§ 22 und 23 der Bestimmungen des Hessischen Ministers für Landwirtschaft, Ernährung und Forsten vom 27. Januar 1949 für die Ausbildung der Waldfacharbeiter im Lande Hessen (Waldfacharbeiter-Ausbildungsbestimmungen - WAB -) konnten langjährige, hauptberufliche und bewährte Waldarbeiter auch ohne die grundsätzlich vorgeschriebene Lehre und Gehilfenzeit zur Waldfacharbeiterprüfung zugelassen werden und so voll die Waldfacharbeitereigenschaft erwerben. In solchen Fällen kann kein begründeter Zweifel daran bestehen, daß "bisheriger Beruf" des Klägers im Sinne des § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO der des Waldfacharbeiters ist.

Entgegen der Ansicht der Beklagten kann der Kläger als Waldfacharbeiter nicht auf alle einfachen, unqualifizierten Berufstätigkeiten verwiesen werden. Der erkennende Senat hat noch in jüngster Zeit wiederholt darauf hingewiesen, daß an dem von der Rechtsprechung des BSG zur Frage der Verweisbarkeit qualifizierter Arbeiter entwickelten, wenn auch nicht als starrer Rahmen mißzuverstehenden Mehrstufenschema - Unterscheidung einer oberen, einer mittleren und einer unteren Gruppe von Arbeiterberufen - festzuhalten sei (vgl. zB. den erkennenden Senat in SozR Nr. 103 zu § 1246 RVO; BSGE 38, 153 = SozR 2200 § 1246 Nr. 4 mit zahlreichen Nachweisen; zustimmend hierzu zB. Schmeling, SozV 1975, 285). Nach dieser Rechtsprechung, auf deren Einzelheiten Bezug genommen wird, gehört ein "Lehrberuf" zur oberen Gruppe des "Schemas" mit der rechtlichen Folge, daß die dort einzustufenden Versicherten auf die Tätigkeiten der oberen, aber - da ihnen ein gewisser beruflicher Abstieg nach § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO "zuzumuten" ist - auch auf die Tätigkeiten der mittleren Gruppe (Leitberuf: Arbeiter mit anerkanntem oder vergleichbar qualifiziertem Anlernberuf) sowie auf diejenigen Tätigkeiten der unteren Gruppe der ungelernten Arbeiter verwiesen werden könne, die sich aus deren allgemeinem Kreis positiv hervorheben.

Dieses Festhalten an einem Mehrstufenschema bedeutet kein Beharren auf einer überlebten Berufs-, Standes- oder Prestigeordnung (vgl. Tennstedt, Berufsunfähigkeit im Sozialrecht, Dissertation Göttingen, S. 219 ff). Der Senat knüpft vielmehr gleichermaßen an das Gesetz wie an die Wirklichkeit der Berufswelt an. Dadurch, daß § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO die Zumutbarkeit einer Verweisung außer von der - in aller Regel berufsqualifizierenden - Ausbildung gleichwertig und selbständig vom "bisherigen Beruf", d. h. der Bedeutung des Berufs im Betrieb sowie von den "besonderen Anforderungen", d. h. von den positiv zu bewertenden Merkmalen der bisherigen Berufstätigkeit abhängig macht, stellt das Gesetz den qualitativen Wert des bisherigen Berufs an den Ausgangspunkt aller rechtlichen Überlegungen. Auch in der Wirklichkeit des Berufslebens unterscheiden sich die Berufstätigkeiten in ihrer Qualität ganz augenscheinlich. Zwischen der Tätigkeit zF. eines Kraftfahrzeugelektrikers und eines Bauhilfsarbeiters bestehen manifeste qualitative Unterschiede, die nichts mit berufsständischen Eingrenzungen oder mit dem Fortschreiben eines veralteten Sozialprestiges zu tun haben. Diese Qualitätsunterschiede spiegeln die Vielfalt der technisch-wirtschaftlichen Anforderungen, die der moderne Industriestaat an Fähigkeiten und Können der arbeitenden Bevölkerung stellt. Für die Abgrenzung des Kreises der zumutbaren Tätigkeiten verlangt nach alledem § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO die Ermittlung der Qualität des bisherigen Berufs, nicht etwa einen Vergleich willkürlicher äußerlicher Merkmale. Unter anderem um dies klarzustellen, hat der Senat wiederholt herausgestellt, daß selbst die Erwähnung von Umfang und Dauer der Berufsausbildung in Satz 2 aaO keine selbständige Bedeutung hat, sondern allein den Weg kennzeichnet, auf dem die berufsqualifizierenden Kenntnisse und Fähigkeiten regelmäßig erworben werden (vgl. SozR Nr. 22 zu § 45 RKG; BSGE 38, 153 = SozR 2200 § 1246 Nr. 4). Folgerichtig hat der Senat weiter betont, daß ein Arbeiter, der einen der oberen oder mittleren Gruppe des Schemas einzufügenden Beruf nicht nur vorübergehend vollwertig ausgeübt hat, der entsprechenden Gruppe zuzuordnen ist, auch wenn er die für diesen Beruf vorgesehene Ausbildung nicht durchlaufen hat. Daher bestehen auch keine Bedenken, der oberen oder der mittleren Gruppe auch Berufe zuzuweisen, für die keine oder keine besonders qualifizierte Ausbildung vorgesehen ist, sofern nur die Bedeutung des Berufs im Betrieb oder in an ihn zu stellenden, positiv zu bewertenden Anforderungen eine entsprechende Einordnung verlangen und erlauben. Deshalb sieht der Senat im anerkannten Lehrberuf nur den Leitberuf der oberen Gruppe, im anerkannten Anlernberuf nur den Leitberuf der mittleren Gruppe des Schemas (vgl. z. B. SozR Nr. 103 zu § 1246 RVO). Der äußerliche Vergleich vorgeschriebener Berufsqualifikationen bestimmt mithin nach dieser Rechtsprechung nicht die Einordnung in das Mehrstufenschema.

Dieses Schema ist nach alledem nichts anderes als ein Hilfsmittel, den § 1246 Abs. 2 RVO auf der Grundlage der vom Gesetz vorgegebenen Leitlinien auch für die Massenverwaltung der gesetzlichen Rentenversicherungen sinnvoll handhabbar zu machen und dabei zugleich den Ansprüchen an Rechtssicherheit und gleichmäßige Sachbehandlung zu genügen. Dabei entzieht sich einer starren dogmatischen Festlegung, wie viele "Stufen" das Schema zu umfassen habe. Hierfür sind die Gegebenheiten der Berufswelt entscheidend. Der Senat übersieht nicht, daß nach § 25 des Berufsbildungsgesetzes (BBiG) vom 14. August 1969 (BGBl I 1112) die frühere Unterscheidung zwischen anerkanntem Lehr- und anerkanntem Anlernberuf aufgegeben worden ist und nunmehr nur noch von Ausbildungsberufen gesprochen wird. Im Hinblick darauf, daß die Dauer der berufsqualifizierenden Ausbildung bei den einzelnen Ausbildungsberufen erheblich differiert (vgl. das Verzeichnis der anerkannten Ausbildungsberufe nach § 30 BBiG, herausgegeben vom Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Stand 1. Juli 1975) und die Unterscheidung zwischen anerkanntem Lehr- und anerkanntem Anlernberuf nach § 108 BBiG weiterhin bedeutsam ist, erscheint es weiterhin sinnvoll, zur Ermittlung des qualitativen Wertes eines bestimmten Arbeiterberufes an einem Schema im Grundsatz an einer dreistufigen Aufgliederung festzuhalten. Ein anerkannter Ausbildungsberuf mit einer vorgeschriebenen qualifizierenden Ausbildung von mehr als zwei Jahren wird in der Regel wie ein anerkannter Lehrberuf, ein anerkannter Ausbildungsberuf mit einer vorgeschriebenen Ausbildung von ein bis zwei Jahren in der Regel wie ein anerkannter Anlernberuf zu behandeln sein. Eine Ergänzung, Abänderung oder Bereicherung des Mehrstufenschemas nach den Anforderungen und Bedürfnissen der Berufswelt hält der Senat jedoch durchaus für möglich und zulässig. So könnte z. B. daran gedacht werden, Arbeiter, deren Tätigkeit nach ihrer Bedeutung im Betrieb und/oder nach ihren besonderen positiv zu bewertenden Merkmalen qualitativ die des Facharbeiters noch überragt - wie etwa Meister im Arbeiterverhältnis oder bestimmte Vorarbeiter -, einer noch oberhalb der normalen oberen Gruppe des Schemas einzufügenden Stufe zuzuordnen.

Bei alledem ist dem Mißverständnis entgegenzutreten, § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO verstehe unter bisherigem Beruf oder bisheriger Berufstätigkeit die konkret vom Versicherten an einem bestimmten Arbeitsplatz verrichtete Arbeit. Nicht auf die individuell vom Versicherten erbrachte Arbeitsleistung kommt es an, sondern abstrakt betrachtet auf den vom Versicherten ausgeübten Beruf, auf die von ihm verrichtete Berufstätigkeit als solche. Dies folgt zunächst schon daraus, daß eine Massenverwaltung, wie sie die Träger der gesetzlichen Rentenversicherungen durchzuführen haben, die vielfältigen Besonderheiten einer individuellen Arbeitsleistung des Versicherten ebensowenig wie die Besonderheiten eines Arbeitsplatzes überblicken und auch praktisch nicht in jedem Einzelfall aufklären können. Dies kann der Gesetzgeber nicht übersehen haben. Gesetzeskonstruktiv ergibt sich dies aus § 1246 Abs. 1 Satz 1 RVO: Diese Vorschrift verlangt den Vergleich der vollen mit der verbliebenen Erwerbstätigkeit, wobei als volle Erwerbstätigkeit diejenige eines gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten zu setzen ist. Die Vorschrift geht also von der durchschnittlichen vollen Erwerbsfähigkeit einer Gruppe aus und läßt bewußt die besonderen Verhältnisse einer individuellen Arbeitsleistung und die besonderen Gegebenheiten eines bestimmten Arbeitsplatzes unberücksichtigt (vgl. BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 4). Im übrigen stellt die vom Gesetzgeber in Satz 2 aaO getroffene Formulierung ausreichend klar, daß der Versicherte in der Beziehung zu seinem Beruf als solchem geschützt wird und seine persönlichen beruflichen Stärken und Schwächen sowie die Vor- oder Nachteile seines Arbeitsplatzes außer Betracht zu bleiben haben.

Der Umstand, daß der Gesetzgeber in § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO auf die abstrakt betrachtete Berufstätigkeit abstellt, ermöglicht es, bei der vom Gesetz geforderten Ermittlung der Qualität eines Berufes die Anschauung der am Berufsleben teilnehmenden Bevölkerungskreise, d. h. vorrangig der Tarifpartner zu berücksichtigen. Diese stufen die Arbeitnehmer nach dem generellen Wert der von ihnen ausgeübten Tätigkeiten ein. So etwa erhält der Maschinenwärter einen geringeren Tariflohn als der Metallfacharbeiter. Für die konkrete Lohneinstufung berücksichtigen die Tarifpartner ähnlich wie § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO vor allem die Bedeutung der Berufstätigkeit für den Betrieb und ihre positiven oder weniger positiven Merkmale. Die tarifliche Einstufung vermag daher ein wichtiges Indiz für die Bewertung der Qualität eines Berufs abzugeben. Wird etwa ein Beruf tariflich so hoch wie der bisherige Beruf des Versicherten eingestuft, so wird dies vielfach als Beleg dafür dienen können, daß den Berufstätigkeiten vergleichbarer qualitativer Wert zugemessen worden ist. Anderes gilt naturgemäß dann, wenn die relativ hohe Einstufung eines Berufes auf die mit seiner Ausübung verbundenen Nachteile oder Erschwernisse zurückzuführen ist (z. B. Akkord-, Nacht- oder Schmutzarbeit u. ä.). Die Tarifverträge sind deshalb für die Ermittlung einer zumutbaren Verweisungstätigkeit mit heranzuziehen (BSG SozR Nr. 17, 25, 26 zu § 46 RKG; 80, 103, 107, 110 zu § 1246 RVO; zustimmend z. B. Wiegand, Sgb 1975, 337, 338).

Da es für die Ermittlung des Kreises der zumutbaren Tätigkeiten auf die Qualität der dem Versicherten nach seinen gesundheitlichen Kräften und beruflichen Kenntnissen und Fähigkeiten möglichen Berufstätigkeiten ankommt, ist die Frage, welche Lohneinbuße der Versicherte im Einzelfall in Kauf zu nehmen hat, von untergeordneter Bedeutung. § 1246 Abs. 2 RVO liefert keinen Anhalt für die Annahme, daß für die Frage, auf welche Tätigkeiten ein Versicherter zumutbar verwiesen werden kann, die Höhe der Lohneinbuße eine entscheidende Rolle spiele. § 1246 Abs. 1 Satz 1 RVO erklärt einen Lohnverlust bis zur Hälfte dessen, was ein gesunder vergleichbarer Versicherter erwerben kann, für zumutbar; damit bringt der Gesetzgeber zum Ausdruck, daß er der Tatsache einer Einkommensminderung nur geringe Bedeutung beimißt. Da also das Gesetz die "Lohnhälfte" für immerhin zumutbar hält, ist es von vornherein problematisch, im Rahmen der hier anzuwendenden Bestimmung eine niedrigere Grenze der zulässigen Lohnminderung festzulegen. Rechtlich unstatthaft ist es, bei Überschreiten einer Lohneinbuße von 20 v. H. Berufsunfähigkeit anzunehmen, wie dies gelegentlich gefordert wird (vgl. z. B. LSG Niedersachsen in RSpDienst 1400 § 1246 RVO, 48-52). Hierbei wird übersehen, daß damit aus dem System der abgestuften Renten in den Zweigen der gesetzlichen Rentenversicherung die Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit nach § 45 Abs. 1 Nr. 1 RKG eliminiert würde: Erst eine Lohndifferenz von mehr als 20 v. H. rechtfertigt regelmäßig die Annahme, daß der Versicherte eine andere im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertige Arbeit im Sinne des § 45 Abs. 2 RKG nicht mehr ausübt (vgl. BSG in SozR Nr. 26, 32, 37 zu § 45 RKG). Das Bestreben, Berufsunfähigkeit beim Überschreiten einer bestimmten Lohnminderungsgrenze zu bejahen, kann letztlich deswegen nicht gebilligt werden, weil dadurch der dem bisherigen Beruf durch § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO verliehene Schutz beseitigt würde; dieser Schutz besteht - wie dargelegt - darin, daß das Gesetz dem Versicherten nur solche Tätigkeiten zumutet, die der Qualität des bisherigen Berufes angemessen entsprechen.

Für den konkreten Fall folgt aus alledem:

Der Auffassung der Beklagten, der Kläger könne als Waldfacharbeiter allenfalls der mittleren Berufsgruppe der Angelernten, nicht aber der oberen Gruppe der Gelernten zugeordnet werden, kann nicht zugestimmt werden. Der Kläger hat nämlich, wie den - knappen - Feststellungen des LSG entnommen werden kann, von 1950 bis 1952 als Waldfacharbeiter und Rottenführer vollwertig gearbeitet; er war offensichtlich lohnmäßig entsprechend eingestuft (vgl. BSG in SozR Nr. 103 zu § 1246 RVO). Bei diesem Sachverhalt könnte der Kläger nach der oben dargestellten Rechtsprechung des BSG nur dann nicht der oberen Gruppe des "Schemas" zugeordnet werden, wenn die die Qualität des Waldfacharbeiterberufes kennzeichnenden, positiv zu bewertenden Anforderungen als so gering anzusehen wären, daß sie denen der im allgemeinen der oberen Berufsgruppe zuzuordnenden Berufe nicht ernsthaft vergleichbar wären. Das ist aber nicht der Fall. Der Ausbildungsberuf in der Forstwirtschaft ist zwar - aufgrund des § 25 BBiG - erst durch die Verordnung vom 27. Februar 1974 (BGBl I 453, 833) unter der Bezeichnung "Forstwirt" bundeseinheitlich anerkannt und geregelt. Schon vorher war indessen der Lehrberuf Waldfacharbeiter in den einzelnen Ländern durch besondere Bestimmungen staatlich anerkannt und der Ausbildungsgang festgelegt (vgl. hierzu die Übersicht in dem Verzeichnis der anerkannten Ausbildungsberufe, Stand 1. Juni 1973, S. 38, 39). Diese Länderbestimmungen verlangten eine zumindest drei Jahre, häufig auch vier Jahre dauernde Ausbildung mit Prüfungsabschlüssen. Für den Kläger, im Lande Hessen beschäftigt, galten 1950 die oben bereits erwähnten WAB in der Fassung vom 27. Januar 1949 (vgl. dazu die späteren Fassungen vom 31. März 1958 und vom 12. Februar 1965). Danach gliedert sich die Ausbildung zum Waldfacharbeiter in eine zweijährige Waldarbeiterlehrzeit mit Prüfungsabschluß und in eine anschließende zwei Jahre umfassende Waldarbeitergehilfenzeit, die mit der Facharbeiterprüfung abzuschließen war. Eine berufliche Qualifikation, die im Regelfall erst nach vier Jahre dauernder Ausbildung und Ablegung mehrerer Prüfungen erworben werden kann, steht der Berufsqualifikation eines Facharbeiters in Gewerbe oder Industrie nicht nach. Der Kläger ist daher mit seinem bisherigen Beruf als Waldfacharbeiter der oberen Gruppe des Schemas zuzuordnen.

Als Angehöriger der oberen Berufsgruppe kann der Kläger nicht auf alle, sondern, wie dargestellt, nur auf herausgehobene Tätigkeiten der unteren Berufsgruppe verwiesen werden. Dies hat das LSG verkannt und den Kläger auf alle ungelernten Tätigkeiten verwiesen. Das LSG hat - von seinem Rechtsstandpunkt aus zu Recht - auch keine Feststellungen darüber getroffen, welche - gegebenenfalls auch berufsfremden - Tätigkeiten der oberen, der mittleren sowie welche herausragenden Tätigkeiten der unteren Gruppe der Kläger nach seinen gesundheitlichen Kräften und beruflichen Fähigkeiten noch verrichten kann. Schon deshalb war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Das LSG wird hierbei im Rahmen der notwendig werdenden Prüfung, welche Tätigkeiten der unteren Gruppe des Schemas aus dem allgemeinen Bereich der ungelernten Tätigkeiten so positiv herausragen, daß sie die Verweisung eines Angehörigen der oberen Berufsgruppe auf sie zumutbar erscheinen lassen, die einschlägige Rechtsprechung des erkennenden Senats zu berücksichtigen haben. Danach kommt es darauf an, ob diese Tätigkeiten in ihrer betrieblichen Bedeutung angelernten Tätigkeiten gleichstehen. Hierbei wird es vielfach von Bedeutung sein, ob sie ebenso wie diese tariflich eingestuft sind (Urteil des erkennenden Senats vom 24. Oktober 1975 - 5 RJ 35/75 -). Bei der Prüfung der Frage, welche Tarifverträge für die Ermittlung der Qualität bestimmter Berufe heranzuziehen sind, wird das LSG so zu verfahren haben, daß in erster Linie in dem für den Kläger in bezug auf seinen bisherigen Beruf (Hauptberuf) maßgebenden Tarifvertrag nachgeforscht wird. Falls sich hier keine für den Kläger in Betracht kommende Verweisungstätigkeit findet, sind insbesondere hinsichtlich der Höhe der tariflichen Einstufungen vergleichbare andere Tarifverträge desselben Tarifbezirks heranzuziehen. Das LSG wird hierbei, wenn eben möglich, zunächst zu versuchen haben, Verweisungstätigkeiten zu finden, die dem Hauptberuf des Klägers verwandt sind; erst wenn sich solche Tätigkeiten nicht finden lassen, wird es andere Verweisungsberufe zu berücksichtigen haben. Das LSG wird weiter zu berücksichtigen haben, daß eine Verweisung des Klägers auf ausgewählte Tätigkeiten im eigenen landwirtschaftlichen Betrieb auszuscheiden hat. Grundsätzlich kommt im Rahmen des § 1246 Abs. 2 RVO eine Verweisung auf selbständige Tätigkeiten nicht in Betracht (BSGE 1, 82, 89). Wo die höchstrichterliche Rechtsprechung in engen Grenzen Ausnahmen zugelassen hat, sind diese u. a. noch dahin eingeschränkt, daß die Anforderungen in selbständiger Tätigkeit und bisheriger Berufstätigkeit einander entsprechen müssen (so die vom LSG zitierte Entscheidung BSGE 22, 265, 269). Es ist jedoch nicht ersichtlich, daß die Tätigkeit eines Waldfacharbeiters und die eines selbständigen landwirtschaftlichen Unternehmers einander mehr als in Randbereichen entsprechen. Im vorliegenden Fall müßte eine Verweisung auf die Tätigkeit im eigenen landwirtschaftlichen Unternehmen auch daran scheitern, daß sie der Kläger nach den Feststellungen des LSG wegen gesundheitlicher Einschränkungen nur noch in einzelnen ausgewählten Arbeitsbereichen verrichten kann.

Der Kostenausspruch war der abschließenden Entscheidung vorzubehalten.

Mit dem Einverständnis der Beteiligten hat der Senat ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes).

 

Fundstellen

BSGE, 129

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