Entscheidungsstichwort (Thema)

Sachaufklärung bei Berufsunfähigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

Die konkrete Bezeichnung einer Berufstätigkeit erfordert die Angabe einer Erwerbstätigkeit, die im Arbeitsleben tatsächlich ausgeübt wird und als Arbeitsplatz in nicht nur unbedeutendem Maße vorhanden ist; es genügt nicht die Bezeichnung bloßer Arbeiten oder Arbeitsgänge.

 

Orientierungssatz

Zur Sachaufklärung bei Berufsunfähigkeit:

Die Sachaufklärung muß grundsätzlich nach zwei Richtungen betrieben werden; einmal medizinisch zur Feststellung des Restleistungsvermögens und zum anderen berufskundlich zur Feststellung einer zumutbaren Erwerbstätigkeit.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs 2 S 1 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 16.07.1979; Aktenzeichen L 9 J 1886/78)

SG Stuttgart (Entscheidung vom 20.07.1978; Aktenzeichen S 9 J 177/76)

 

Tatbestand

Streitig ist der Anspruch des Klägers auf Berufs- oder Erwerbsunfähigkeitsrente.

Der im Jahre 1934 geborene Kläger hat den Beruf eines Zentralheizungsinstallateurs in Jugoslawien erlernt und ausgeübt. Seit 1960 arbeitete er im Bundesgebiet als Heizungsmonteur, Schlosser, Schweißer und Rohrleger. Seinen im Juli 1975 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 7. Januar 1976 ab.

Mit seiner Klage gegen diesen Bescheid trug der Kläger vor, aufgrund seines Gesundheitszustandes - Anerkennung als Schwerbehinderter nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 70 % später 80 %, Durchführung einer Magenresektion - sei er zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit nicht mehr in der Lage. Nach Einholung ärztlicher Gutachten und Beiziehung der Unterlagen des Arbeitsamtes, bei dem der Kläger als Arbeitsuchender gemeldet war, wies das Sozialgericht (SG) Stuttgart durch Urteil vom 20. Juli 1978 die Klage ab mit der Begründung, der Kläger könne noch als Hausmeister, Lagerverwalter, Reparierer von Kleinteilen oder als Werkzeugverkäufer zumutbare Arbeiten verrichten.

Mit seiner Berufung gegen dieses Urteil machte der Kläger geltend, seine fortgesetzten und intensiven Bemühungen um Erlangung eines Arbeitsplatzes seien erfolglos geblieben; nach Ansicht des Arbeitsamtes könne er nur noch Teilzeitarbeit verrichten. Die Berufung wurde durch Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Baden-Württemberg vom 16. Juli 1979 zurückgewiesen. Zur Begründung führt das LSG im wesentlichen aus: Der Kläger sei in die Gruppe der Facharbeiter einzuordnen und könne seinen Beruf als Heizungsinstallateur und Schlosser nicht mehr ausüben. Dies gelte auch für die vom SG aufgeführten Verweisungstätigkeiten. Nach den ärztlichen Gutachten könne der Kläger noch vollschichtig leichte Arbeiten in wechselnder Körperhaltung ohne Heben, Tragen und Schieben größerer Lasten, ohne Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, Akkord- und Fließbandarbeit, Kälte- und Nässeeinwirkung verrichten. Berufsfremde Anlerntätigkeiten kämen nicht in Betracht, weil sie eine Ausbildung von mehr als drei Monaten voraussetzten. Indessen könne der Kläger aber im Rahmen seines erlernten Berufes noch Tätigkeiten wie das Justieren von Waagen, die Herstellung und Reparatur von Drahterzeugnissen sowie die Herstellung und Anbringung von Raumsicherungen, Schlössern und Schlüsseln ausüben. Das sozialrechtliche Risiko des mangelnden Arbeitsplatzes sei nicht vom Rentenversicherungsträger zu tragen.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht der Kläger geltend, das LSG habe bei seiner Beweiswürdigung nicht beachtet, daß er arbeitsamtsärztlich nicht mehr für vollschichtig einsatzfähig gehalten werde. Weiterhin habe das LSG den Kläger auf Tätigkeiten verwiesen, die er aus gesundheitlichen Gründen nicht ausüben könne. Ihm sei aus gesundheitlichen Gründen der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen. Insoweit sei zu beachten, daß für ihn trotz Bemühungen des Arbeitsamtes keine freien Stellen aufzufinden gewesen wären.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung der Urteile der

Vorinstanzen und ihres Bescheides vom 7. Januar 1976

zu verurteilen, ihm Rente wegen Erwerbsunfähigkeit

hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen war. Die vom LSG getroffenen Feststellungen reichen zur abschließenden Entscheidung über das Vorliegen von Berufsunfähigkeit (§ 1246 Abs 2 Reichsversicherungsordnung -RVO-) oder Erwerbsunfähigkeit (§ 1247 Abs 2 RVO) nicht aus.

Nach § 1247 Abs 2 RVO ist erwerbsunfähig der Versicherte, der infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder von Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann. Berufsunfähig ist nach § 1246 Abs 2 Satz 1 RVO ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen auf weniger als die Hälfte derjenigen eines vergleichbaren gesunden Versicherten herabgesunken ist. Nach Satz 2 der Vorschrift ist dabei die Erwerbsfähigkeit des Versicherten nach allen seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechenden Tätigkeiten zu beurteilen, die ihm zugemutet werden können, und zwar unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfanges seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit. Hiernach stehen die sogenannten Verweisungstätigkeiten in einer abhängigen Beziehung zum bisherigen Beruf (Hauptberuf). Von ihm ist auszugehen bei der Bestimmung, welche Verweisungstätigkeiten als zumutbar in Betracht kommen.

Das Berufungsgericht hat unangefochten festgestellt, daß der Kläger den Beruf des Heizungsinstallateurs und Schlossers erlernt und ausgeübt hat. Es hat ihn zutreffend mit seinem Hauptberuf in die Gruppe der gelernten Facharbeiter eingeordnet. Nach den Feststellungen des LSG kann der Kläger seinen erlernten Beruf aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben. Daraus folgt jedoch noch nicht seine Berufsunfähigkeit, vielmehr bedarf es zunächst der Prüfung, ob für ihn zumutbare Verweisungstätigkeiten vorhanden sind. Das LSG ist dabei von einer vollschichtigen Einsatzfähigkeit des Klägers ausgegangen.

Die hiergegen erhobenen Verfahrensrügen greifen nicht durch. Das LSG gründet seine Überzeugung auf die vom SG eingeholten ärztlichen Gutachten. Hierbei konnte es diesen Gutachten gegenüber der Auffassung des Arbeitsamtes und der Beurteilung des Arbeitsamtsarztes Dr N den Vorzug geben. Insoweit bewegt sich das LSG im Rahmen seiner freien Beweiswürdigung nach § 128 Abs 1 Satz 1 SGG. Es hat im angefochtenen Urteil die Gründe für die Bildung seiner Überzeugung ausreichend dargelegt. Irgendwelche Beweisanträge des Klägers hat es dabei nicht übergangen.

Indessen hat das LSG die von ihm in Betracht gezogenen Verweisungstätigkeiten nicht hinreichend konkretisiert im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts -BSG- (vgl Urteil vom 19. April 1978 - 4 RJ 55/77 - SozR 2200 § 1246 Nr 30; Urteil vom 31. Oktober 1978 - 4 RJ 27/77 - SozR aaO Nr 33; Urteil vom 28. November 1978 - 5 RKn 10/77 - SozR aaO Nr 36; Urteil vom 15. Februar 1979 - 5 RJ 48/78 - SozR aaO Nr 38 und Urteil vom 28. Juni 1979 - 4 RJ 70/78 - SozR aaO Nr 45). Die konkrete Bezeichnung einer Verweisungstätigkeit dient dem Zweck, eine Nachprüfung dahin zu ermöglichen, ob ein Versicherter seine ihm verbliebene Arbeitskraft noch wirtschaftlich verwenden kann und ob ihm diese nach § 1246 Abs 2 RVO zumutbar ist oder nicht.

Die konkrete Bezeichnung einer Verweisungstätigkeit erfordert die Angabe einer Erwerbstätigkeit, die im Arbeitsprozeß tatsächlich ausgeübt und als Arbeitsplatz - in nicht nur geringfügigem Maße - vorhanden ist, wobei es gleichgültig bleibt, ob er frei oder besetzt ist. Dabei genügt es, eine typisierende Beschreibung des Arbeitsinhalts zu geben, aus der sich erkennen läßt, welche Anforderungen an das Leistungsvermögen sowie an die Kenntnisse und Fähigkeiten des Versicherten gestellt werden (vgl Wiegand, Soziale Sicherheit 1980 S 341 ff, 346). Insoweit bietet es sich an, auf den Inhalt von Tarifverträgen oder Auskünfte von Arbeitsämtern, Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften, Großbetrieben oder von berufskundigen Sachverständigen zurückzugreifen. Dies bedeutet, daß die Sachaufklärung grundsätzlich nach zwei Richtungen betrieben werden muß; einmal medizinisch zur Feststellung des Restleistungsvermögens des Versicherten und zum anderen berufskundlich zur Feststellung einer zumutbaren Erwerbstätigkeit.

Den Anforderungen an die konkrete Bezeichnung einer dem Kläger zumutbaren Berufstätigkeit genügt das angefochtene Urteil nicht. Einmal ergibt sich aus den vom LSG aufgeführten Verweisungstätigkeiten nicht, ob es sich dabei nur um einzelne Arbeiten oder bestimmte Arbeitsgänge handelt, die im Rahmen einer Erwerbstätigkeit betriebsüblich anfallen, oder ob es sich um Erwerbstätigkeiten handelt, für die es Arbeitsplätze gibt. Zum anderen hat das LSG keine Feststellungen darüber getroffen, welche Anforderungen die einzelnen von ihm genannten Tätigkeiten an den Kläger in gesundheitlicher wie auch in fachlicher Hinsicht üblicherweise stellen; so erfordert beispielsweise das Justieren von Apothekerwaagen andere Fähigkeiten als von Waagen für Schwergüter oder von elektronisch gesteuerten Verkaufswaagen mit Preisberechnung. Schließlich hat das LSG auch nicht aufgeklärt, ob die von ihm bezeichneten Arbeiten zu einem Arbeitsentgelt führen, das der tariflichen Entlohnung eines gelernten Facharbeiters entspricht oder das sonstigen Ausbildungsberufen vergleichbar tariflich eingestuft und ihm daher sozial zumutbar ist (vgl BSG Urteil vom 28. Juni 1979 - 4 RJ 70/78 = SozR 2200, § 1246 Nr 45 S 133).

Die noch erforderlichen Feststellungen kann der Senat nicht selbst treffen. Der Rechtsstreit war daher an das LSG zurückzuverweisen.

Über die Kosten wird das LSG zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1657942

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