Rn 5

Die vorschriftsmäßige Besetzung des erkennenden Gerichts ist von entscheidender Bedeutung für die Frage, ob das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter, Art 101 I 2 GG, gewährleistet wurde.

Der Richter muss im Vorhinein durch normative, abstrakt-generelle Bestimmung ermittelt werden können; seiner Bestimmung darf keine Ermessensentscheidung zu Grunde liegen, durch die etwa für einzelne Geschäfte bestimmte Richter ausgesucht oder die Verfahren ansonsten nicht nach allgemeinen Merkmalen zugeteilt werden (etwa BVerfG NJW 05, 2689 [BVerfG 16.02.2005 - 2 BvR 581/03]; BAGE 102, 242). Das Mittel zur Gewährleistung der Garantie des gesetzlichen Richters ist auch und va die Geschäftsverteilung, die durch das Gerichtsverfassungsrecht als innergerichtlicher Organisationsakt ausgestaltet wurde, und sowohl die gerichtsinterne Geschäftsverteilung als auch die spruchkörperinterne Geschäftsverteilung in einem Geschäftsverteilungsplan beinhaltet (Schilken GVR Rz 367, 368). Fehler in der Geschäftsverteilung können sich unter anderem im Hinblick auf deren Bestimmung im Voraus, die Offenlegung des Geschäftsverteilungsplans (s BAG AP Nr 5 zu § 21e GVG), die Genauigkeit der Bestimmung (s BFH NJW 92, 1062 [BFH 29.01.1992 - VIII K 4/91]), das Jährlichkeitsprinzip, das Stetigkeitsprinzip und das Prinzip der Bestimmung nach abstrakt-generellen Merkmalen (s BAGE 102, 242 [BAG 20.08.2002 - 3 AZR 133/02]) ergeben (ausf Schilken GVR §§ 16, 19).

Neben der unrichtigen Geschäftsverteilung kommt als Nichtigkeitsgrund auch ein Verstoß gegen die die grundgesetzliche Garantie des gesetzlichen Richters vornehmlich in § 309 konkretisierenden Grundsätze der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit in Betracht, wenn etwa ein nicht mitwirkender Richter das Urt unterschreibt, während des Verfahrens ein Wechsel in der Besetzung des Gerichts eintritt (BAG NJW 71, 1332 [BAG 16.12.1970 - 4 AZR 98/70]; HK-ZPO/Saenger § 309 Rz 4 f, 7; Zimmermann § 579 Rz 1) oder an Stelle eines Kollegiums ein einzelner Richter entschieden hat (LSG NRW v 22.3.11 – L 6 AS 3/11 – nv, Rz 15). Die Mitwirkung eines blinden Richters – auch bei der Einnahme des Augenscheins – verletzt das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter nicht und stellt deshalb keinen Nichtigkeitsgrund dar (str, wie hier Frankf MDR 10, 1015 [OLG Nürnberg 23.03.2010 - 4 W 2234/09]; aA Lange, in HHSp, § 119 FGO Rz 55 und Rz 101). Auch der Ablauf der Amtszeit eines beteiligten Richters vor Unterzeichnung des Tatbestandes und der Entscheidungsgründe ist kein Nichtigkeitsgrund, wenn dieser Richter bereits bei vorheriger Beratung und Verkündung das Urt unterzeichnet hat (LArbG München v 2.2.11 – 11 Sa 343/08 – nv, Rz 38). Es genügt dann ein Verhinderungsvermerk des Vorsitzenden der Kammer. Ist ein Beteiligter vor der Übertragung der Sache auf den Einzelrichter nicht angehört worden, führt dies nicht zu einer fehlerhaften Besetzung, da die Sache durch Beschluss des Senats auf den Senat übertragen werden kann (BSG NJW 19, 2886).

Angesichts der auf rechtsähnliche Ausnahmefälle beschränkten Analogiefähigkeit der Wiederaufnahmegründe (VGH Bayern v 28.3.19 – 20 S 19.384; v 27.3.19 – 10 C 19.223; §§ 578 ff Rn 1), ist § 579 I Nr 1 nicht analog anwendbar, wenn die Pflicht zur Anrufung des Großen Senats eines Bundesgerichts oder der Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nach Art 267 AEUV verletzt wird (aA BFHE 254, 481 [BFH 13.07.2016 - VIII K 1/16]; 260, 410 [BFH 07.02.2018 - XI K 1/17]; Wieczorek/Schütze/Büscher, § 579 Rz 11). Ohnehin müsste dafür der insoweit vorhandene Beurteilungsspielraum in unvertretbarer Weise überschritten worden sein (vgl Rn 6).

 

Rn 6

Nicht jeder Fehler in der Bestimmung der mitwirkenden Gerichtspersonen durch den Geschäftsverteilungsplan und dessen Anwendung führen zu einem Nichtigkeitsgrund, sondern nur offensichtliche schwere Gesetzesverletzungen, die bspw auf einer unvertretbaren Rechtsansicht und/oder objektiver Willkür beruhen (BVerfG NJW 97, 1497 [BVerfG 08.04.1997 - 1 PBvU 1/95]; BGH NJW 94, 1735, 1736; 95, 332, 335 [BGH 22.11.1994 - X ZR 51/92]; BAG v 13.10.15 – 3 AZN 915/15 [F] – nv; BFHE 254, 481 [BFH 13.07.2016 - VIII K 1/16]; Musielak/Voit/Musielak § 579 Rz 2; krit Sangmeister NJW 98, 721, 728).

Die Einlegung eines Rechtsmittels hat nach Abs 2 Vorrang vor der Nichtigkeitsklage, deren Statthaftigkeit entfällt, falls der Nichtigkeitsgrund auf diesem Wege hätte geltend gemacht werden können (was gilt, wenn ein Rechtsmittel erfolglos eingelegt worden ist, s noch Rn 19). Sieht eine landesrechtliche Regelung, z.B. § 92 Landesdisziplinargesetz Rheinland-Pfalz, die Wiederaufnahme nur unter engeren Voraussetzungen vor, sind diese angesichts des Vorrangs des Bundesrechts nicht abschließend zu verstehen (OVG Rheinland-Pfalz v 19.4.16 – 3 A 10151/16). Sie werden durch § 579 ergänzt.

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