Leitsatz (redaktionell)

Ein Neufeststellungsbescheid tritt in vollem Umfang an die Stelle des ursprünglichen, als unrichtig erkannten Bescheides. Die Einrede der Verjährung ist hierbei nicht grundsätzlich ausgeschlossen.

Der Anspruch eines Wanderversicherten auf die Gesamtleistung verjährt auch dann, wenn bei der Rentenfeststellung statt der Gesamtrente nur die Rente aus einem Versicherungszweig gewährt worden ist. Daß diese Entscheidung darauf zurückgeht, daß im Antragsvordruck die Entrichtung von Beiträgen zu einem weiteren Versicherungszweig verneint wurde, ist unerheblich. Insoweit trifft den Versicherungsträger an der unrichtigen Feststellung der Rente kein Verschulden.

 

Normenkette

RVO § 29 Abs. 3 Fassung: 1924-12-15; AVG § 205 Fassung: 1937-12-21, § 79 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1300 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 13. September 1962 und das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 15. März 1962 werden aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die Beteiligten streiten über den Beginn einer nach § 79 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) neu festgestellten Rente.

Der im Jahre 1881 geborene Kläger bezog auf Grund des seinerzeit rechtskräftig gewordenen Bescheides der Landesversicherungsanstalt (LVA) Oldenburg-Bremen (vom 27. Januar 1947) seit dem 1. August 1946 eine Altersinvalidenrente. Bei der Antragstellung hatte er sich in einem Vordruck als Handlungsgehilfe bezeichnet, die Frage nach einer Beitragsleistung zur Angestelltenversicherung (AV) aber verneint.

Am 3. Juli 1960 beantragte der Kläger die Neuberechnung der Rente unter Berücksichtigung seiner zur AV entrichteten Beiträge (für die Jahre 1913 und 1914 insgesamt 5 Monatsbeiträge). Die Beklagte - die sich für zuständig hielt - entsprach diesem Antrag in der Weise, daß sie die zur AV entrichteten Beiträge und die anschließende Kriegsdienstzeit des Klägers als Ersatzzeit berücksichtigte; sie gewährte dem Kläger vom 1. Juli 1956 an die erhöhte Rente; für die davor liegende Zeit berief sie sich auf Verjährung (Bescheid vom 27. April 1961). Der Kläger begehrt jedoch die erhöhte Rente schon vom Rentenbeginn an (1. August 1946). Das Sozialgericht (SG) gab seiner Klage statt. Das Landessozialgericht (LSG) bestätigte dieses Urteil.

Das Berufungsgericht ist - ebenso wie das SG - im Anschluß an eine Entscheidung des Bayerischen LSG vom 9. Juni 1961 (Breithaupt, 1961, 916) der Auffassung, die Verjährung eines Anspruchs auf die einzelnen Rentenleistungen könne erst beginnen, wenn diese festgestellt seien. Verjährung beginne immer erst mit der Fälligkeit, das bedeute mit dem Zeitpunkt, in dem der Berechtigte wisse, was er zu fordern, und der Versicherungsträger, ob und in welcher Höhe er zu leisten habe. Da über die Frage, ob dem Kläger eine Leistung aus der AV zustand, erst durch den angefochtenen Bescheid entschieden worden sei, sei eine Verjährung noch nicht eingetreten.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision beantragt die Beklagte,

die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Sie rügt die unrichtige Anwendung des § 29 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Nach ihrer Meinung tritt die Fälligkeit der Leistung bereits mit der Antragstellung ein. Auch der Sinn der Verjährung, nach Ablauf einer gewissen Zeit den Rechtsfrieden herbeizuführen, gebiete es, daß die Verjährung unabhängig von der formellen Feststellung der Rente eintrete. Im übrigen habe der Kläger den Mangel des Bescheides vom 27. Januar 1947 selbst durch seine unrichtigen Angaben bei der Antragstellung verschuldet.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1, 165 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Revision ist zulässig und auch begründet. Der Kläger hat - weil die Beklagte wirksam die Einrede der Verjährung nach § 205 AVG in Verbindung mit § 29 Abs. 3 RVO erhoben hat - keinen Anspruch darauf, daß ihm die erhöhte Rente schon für die Zeit vor dem 1. Juli 1956 gezahlt wird.

Der im April 1961 ergangene Bescheid der Beklagten beruht auf § 79 AVG. Das LSG geht zutreffend davon aus, daß dieser Neufeststellungsbescheid in vollem Umfang, also auch zeitlich, an die Stelle des früheren Bescheids der LVA Oldenburg-Bremen vom 27. Januar 1947 getreten ist (vgl. BSG 19, 93). Der Rechtsauffassung des LSG, daß der Rentenanspruch des Klägers für die streitige Zeit noch nicht verjährt sei, vermag der Senat jedoch nicht zu folgen. Nach § 29 Abs. 3 RVO in Verbindung mit § 205 AVG verjähren Leistungsansprüche des Versicherten in vier Jahren nach der Fälligkeit, soweit - wie hier - nichts anderes bestimmt ist. Hierzu gehören die Ansprüche auf die einzelnen, aus dem Stammrecht fließenden, in monatlichen Raten zu zahlenden Rentenbeträge (§ 74 AVG in Verbindung mit Art. 2 § 25 Abs. 2 Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz - vgl. Urteil des BSG vom 2. Dezember 1964 - 4 RJ 185/61 - SozR § 29 RVO Nr. 5). Die Einrede der Verjährung bei der Neufeststellung einer Rente nach § 79 AVG ist nicht grundsätzlich ausgeschlossen (vgl. BSG aaO - 19, 96). Wann die Fälligkeit eintritt, ist in der RVO nicht erläutert. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) müssen hierzu die materiell-rechtlichen Voraussetzungen des Anspruchs erfüllt sein und der Berechtigte ihn gegenüber dem Versicherungsträger geltend gemacht haben. Entgegen der Auffassung des LSG ist der Anspruch auf Rentenleistungen nicht erst dann fällig, wenn er durch den Rentenbescheid festgestellt ist; denn dieser hat nicht rechtsgestaltende, sondern nur rechtsfeststellende (deklaratorische) Bedeutung (vgl. BSG-Urteil vom 28. August 1964 - 12 RJ 342/61 - SozR § 29 RVO Nr. 6 sowie Urteil vom 4. Mai 1965 - 11 RA 356/64).

Für den vorliegenden Fall bedeutet das, daß die Verjährung - die während eines laufenden Feststellungsverfahrens unterbrochen ist (vgl. BSG aaO - SozR § 29 RVO Nr. 5) - mit dem Zugang des Bescheides vom 27. Januar 1947 an den Kläger zu laufen begonnen hat. Der im Juli 1960 gestellte Antrag nach § 79 AVG hat zwar wiederum die Verjährung unterbrochen. Das ändert aber nichts daran, daß der Anspruch auf die Rentenleistungen, soweit sie in der Vergangenheit zu Unrecht nicht gewährt worden sind, nach § 29 Abs. 3 RVO teilweise verjährt ist. Das LSG verkennt das Wesen der Wanderversicherung, wenn es meint, hinsichtlich der Verjährung müsse ein Unterschied gemacht werden zwischen dem Leistungsanteil der Rente aus der AV und dem aus der Invalidenversicherung (JV). Der Kläger hatte 1946 die Gewährung der Rente ohne Einschränkung, d. h. unter Anrechnung aller von ihm zurückgelegten Versicherungszeiten - also in der JV und in der AV - beantragt (vgl. § 1544 g Abs. 1 RVO aF). Ihm hätte daher von Anfang an eine Gesamtrente aus den beiden Versicherungszweigen gewährt werden müssen. Daß bei der Rentenfeststellung die - zufällig einzigen - AV-Beiträge nicht angerechnet worden sind, vielmehr statt einer Gesamtrente tatsächlich eine Rente nur aus einem Versicherungszweig (JV) gewährt worden ist, berührt die Frage der Verjährung nach § 29 Abs. 3 RVO nicht. Insoweit ist die Rechtslage nicht anders zu beurteilen, als wenn bei der Rentenfestsetzung im Jahre 1947 nicht die AV-Beiträge, sondern einzelne JV-Beiträge unberücksichtigt geblieben wären. Das folgt aus der Einheitlichkeit der Leistung an Wanderversicherte, wie sie in den Vorschriften der Rentenversicherungsgesetze - auch schon nach früherem Recht - bestimmt ist (§ 1544 g Abs. 2 RVO aF, § 89 Abs. 2 AVG nF, § 1310 Abs. 2 RVO nF).

Die Beklagte hat somit rechtswirksam die Einrede der Verjährung erhoben. Sie ist deshalb nicht verpflichtet, die Rente in der neu festgesetzten Höhe für eine vor dem Beginn des vierjährigen Zeitraumes - zurückgerechnet von dem Antrag auf Neufeststellung - liegende Zeit, also für die Zeit vor dem 1. Juli 1956, zu gewähren.

Nach Lage des Falles kann es auch nicht als unzulässige Rechtsausübung angesehen werden, wenn sich die Beklagte auf die Verjährungsvorschriften beruft (vgl. Palandt, 17. Aufl., Anm. 3 im Überblick vor S. 194). Ein Verstoß gegen Treu und Glauben wäre allenfalls anzunehmen, wenn die Beklagte auf den Ablauf der Verjährungsfrist arglistig eingewirkt oder - wenn auch unabsichtlich - beim Kläger die Vorstellung erweckt hätte, sie werde die Verjährungseinrede nicht erheben. Beides scheidet aber im vorliegenden Fall aus. Dafür, daß die Beklagte oder die LVA Oldenburg-Bremen an der unrichtigen Feststellung der Rente im Jahre 1947 ein Verschulden trifft, ist in Anbetracht des Umstandes, daß im Antragsvordruck die Entrichtung von Beiträgen zur AV verneint worden ist, kein Anhalt gegeben. Daran ändert auch nichts, daß sich der Kläger im Antragsvordruck als Handlungsgehilfe bezeichnet hat; denn aus dieser Berufsbezeichnung allein mußte der Versicherungsträger nicht notwendig auf eine Beitragsleistung zur AV schließen. Anscheinend waren dem Kläger jene fünf Beitragsmonate zur Zeit der Antragstellung aus dem Gedächtnis gekommen. In der Folgezeit hat er rund 14 Jahre lang Rente bezogen, ohne die Nichtberücksichtigung der AV-Beiträge zu beanstanden. Der Versicherungsträger hatte deshalb keinen Anlaß, an der Richtigkeit der Rentenfeststellung zu zweifeln und sie von Amts wegen zu überprüfen. Der Beklagten wäre es auch dann nicht verwehrt, sich auf Verjährung zu berufen, wenn das Vorbringen des Klägers zuträfe, es habe sich seinerzeit bei Verneinung der Frage seiner Zugehörigkeit zur AV um einen Hörfehler gehandelt.

Der Revision der Beklagten ist somit der Erfolg nicht zu versagen. Die Urteile des LSG und des SG müssen deshalb aufgehoben und die Klage abgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2374884

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