Leitsatz (amtlich)

Auch ein aus dem ehemaligen Protektorat Böhmen und Mähren ausgewanderter Verfolgter, dem als Härteausgleich eine Entschädigung für Schaden in der Ausbildung nach BEG § 171 Abs 2 Buchst c gewährt wurde, ist zur Nachentrichtung von Beiträgen entsprechend WGSVG § 10a Abs 2 berechtigt.

 

Leitsatz (redaktionell)

Nachentrichtung von freiwilligen Rentenversicherungsbeiträgen nach § 10a WGSVG vom 22.12.1970, wenn dem Verfolgten wegen eines Ausbildungsschadens iS des BEG eine Entschädigung gemäß § 171 Abs 2 Buchst c BEG zuerkannt worden ist:

1. Daß der Gesetzgeber diesen Kreis von Entschädigungsberechtigten bei der Einfügung des § 10a WGSVG im Jahre 1975 nicht ausdrücklich neben den §§ 116 und 118 BEG Entschädigungsberechtigten genannt hat, läßt nicht den Schluß zu, daß er diese Personen anders als die nach den §§ 116 und 118 BEG Berechtigten behandeln wollte.

2. Der erkennende Senat hält sich nach alledem für befugt, die von ihm angenommene Gesetzeslücke in § 10a Abs 2 WGSVG in der Weise zu schließen, daß auch Verfolgte, die wegen eines Ausbildungsschadens einen Härteausgleich nach § 171 Abs 2 Buchst c BEG erhalten haben, freiwillige Beiträge nachentrichten können.

 

Normenkette

WGSVG § 10a Abs. 2 Fassung: 1975-04-28; BEG § 171 Abs. 2 Buchst. c Fassung: 1965-09-14, §§ 116, 118

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 28.08.1979; Aktenzeichen L 12 An 15/79)

SG Berlin (Entscheidung vom 24.10.1978; Aktenzeichen S 16 An 1780/77)

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der in Israel lebende Kläger als rassisch Verfolgter für die Zeit von Februar 1942 bis Mai 1945 Beiträge zur deutschen Sozialversicherung nach § 10a Abs 2 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung vom 22. Dezember 1970 idF des Gesetzes vom 28. April 1975 (WGSVG) nachentrichten kann.

Der Kläger wurde am 12. Februar 1926 in Weipert/Böhmen geboren, besuchte dort sowie in Prag bis März 1939 die Schule und wanderte im April 1939 nach Palästina aus. Seinen Antrag auf Entschädigung eines Ausbildungsschadens nach §§ 115, 116 und 118 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) wies das Bezirksamt für Wiedergutmachung in Neustadt/Weinstraße mit Bescheid vom 31. August 1964 mit der Begründung zurück, daß er nicht zu dem nach §§ 4, 154 BEG entschädigungsberechtigten Personenkreis zähle. Mit Bescheid vom 31. Mai 1967 gewährte ihm das rheinland-pfälzische Landesamt für Wiedergutmachung jedoch wegen eines Ausbildungsschadens im Wege des Härteausgleichs nach § 171 Abs 2 Buchst c BEG eine einmalige Beihilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von 5.000,-- DM.

Am 14. Oktober 1975 beantragte der Kläger die Nachentrichtung von Beiträgen nach Art 2 § 49a des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) sowie § 10a Abs 2 WGSVG. Nachdem ihm die Beklagte informatorisch mitgeteilt hatte, daß er zur Beitragsnachentrichtung gem Art 2 § 49a AnVNG befugt sei, entrichtete der Kläger 60 Beiträge der Klasse 100 für den Zeitraum von Januar 1969 bis Dezember 1973 sowie 40 Beiträge der Klasse 600 für die Zeit von Februar 1942 bis Mai 1945.

Mit Bescheid vom 8. Dezember 1976 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf Beitragsnachentrichtung für die Jahre 1942 bis 1945 mit der Begründung ab, er habe keine Entschädigung nach §§ 116, 118 BEG bezogen und erfülle deshalb nicht die Voraussetzung des § 10a Abs 2 WGSVG. Widerspruch, Klage und Berufung sind erfolglos geblieben (Widerspruchsbescheid vom 27. Juli 1977; Urteil des Sozialgerichts -SG- Berlin vom 24. Oktober 1978 und Urteil des Landessozialgerichts -LSG- Berlin vom 28. August 1979). Das Berufungsgericht hat zur Begründung ausgeführt, daß nach dem klaren Wortlaut des § 10a Abs 2 WGSVG der Gesetzgeber die Nachentrichtungsberechtigung auf die gem §§ 116, 118 BEG entschädigungsberechtigten Personen begrenzt habe und eine erweiternde Auslegung dieser Vorschrift schon daher zweifelhaft sei. Auch Sinn und Zweck des Nachentrichtungsrechtes geböten keine Ausweitung des § 10a Abs 2 WGSVG, da dieses Gesetzeswerk für Versicherte gelte, die aufgrund von Verfolgungsmaßnahmen einen Schaden erlitten hätten. Weil der Kläger indessen niemals der deutschen Versichertengemeinschaft angehört habe, sei es nicht geboten, ihn zur Nachentrichtung zuzulassen. Wenn deshalb der Gesetzgeber das Nachentrichtungsrecht auf den Kreis der nach §§ 116, 118 BEG Entschädigten beschränkt habe, so habe er sich im Rahmen des ihm verfassungsrechtlich zugestandenen Ermessensspielraums bewegt.

Mit seiner - vom LSG zugelassenen - Revision vertritt der Kläger die Ansicht, aufgrund des deutsch-israelischen Sozialversicherungsabkommens könne die Mindestversicherungszeit durch Beitragsnachentrichtung erfüllt werden, so daß auch als Versicherter in der deutschen Sozialversicherung gelte, wer von dieser Möglichkeit Gebrauch mache. Der Kläger sei ferner den nach §§ 116, 118 BEG entschädigten Verfolgten gleichzustellen, weil auch ihm ein Ausbildungsschaden abgegolten worden sei und er ferner als Vertriebener aus den eingegliederten Gebieten den deutschen Versicherten gem §§ 15, 16 des Fremdrentengesetzes (FRG) gleichgestellt würde.

Der Kläger beantragt,

die Urteil des LSG Berlin vom 28. August 1979

und des SG Berlin vom 24. Oktober 1978 sowie

den Bescheid der Beklagten vom 8. Dezember 1976

in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. Juli 1977

aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihn zur

Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10a WGSVG

zuzulassen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung - § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) - einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist begründet.

Der Kläger ist in entsprechender Anwendung von § 10a Abs 2 WGSVG zur Nachentrichtung von Beiträgen in dem beantragten Umfang befugt.

Dem Kläger ist zwar nicht, wie § 10a Abs 2 WGSVG seinem Wortlaut nach erfordert, wegen eines Schadens in der Ausbildung iS des BEG rechtskräftig oder unanfechtbar "eine Entschädigung nach § 116 oder § 118 des genannten Gesetzes" zuerkannt worden. Denn eine solche Entschädigung konnten nach der alten Fassung des BEG (Gesetz vom 29. Juni 1956, BGBl I 562) und auch nach den Änderungen des BEG durch das BEG-Schlußgesetz vom 14. September 1965 (BGBl I 1315) nur die in § 4 genannten Gruppen von Verfolgten erhalten, zu denen der Kläger nicht gehört; insbesondere zählt er nicht zu den in § 4 Abs 1 Nr 1 Buchst c bezeichneten Personen, weil er, obwohl vor dem 31. Dezember 1952 ausgewandert, seinen letzten Wohnsitz oder dauernden Aufenthalt nicht im Reichsgebiet nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 oder im Gebiet der Freien Stadt Danzig gehabt hat. Daß er Verfolgter aus den in § 1 Abs 2 Nr 3 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) genannten Vertreibungsgebieten (Tschechoslowakei) ist, dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört hat und - durch Auswanderung nach Israel im Jahre 1939 - vor dem 1. August 1945 die Vertreibungsgebiete endgültig verlassen hat (§§ 150 Abs 1, 154 Abs 2 BEG nF), hat für ihn einen Anspruch auf Entschädigung wegen eines Ausbildungsschadens nicht begründen können, weil ein solcher Anspruch bei den - außerhalb des Reichsgebiets beheimatet gewesenen - Verfolgten nach ausdrücklicher Entscheidung des Gesetzgebers nicht besteht (§ 154 Abs 1 BEG, der den genannten Personen zwar eine Entschädigung für Schäden im beruflichen Fortkommen gewährt, dabei jedoch die §§ 115 ff - Schaden in der Ausbildung - ausnimmt).

Dem Kläger ist jedoch wegen seines Schadens in der Ausbildung aufgrund einer Sondervorschrift in § 171 Abs 2 Buchst c BEG im Wege des Härteausgleichs eine Entschädigung gewährt worden (einmalige Beihilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von 5.000,-- DM). Die genannte Sondervorschrift ist durch das BEG-Schlußgesetz (Art I Nr 103 Buchst c) mit Wirkung vom Tage der Verkündung des BEG-Schlußgesetzes (18. September 1965, vgl Art XII Nr 6) in das BEG eingefügt worden (während der abschließenden Beratung des Gesetzes in der 188. Sitzung des Deutschen Bundestags am 26. Mai 1965, vgl Sitzungsberichte der 4. Wahlperiode, S 9466 rechte Spalte iVm S 9482 rechte Spalte). Nach dieser Vorschrift kann ein Härteausgleich auch gewährt werden "... zugunsten von Verfolgten, die die Voraussetzungen der §§ 150, 154 erfüllen und ihren letzten Wohnsitz oder dauernden Aufenthalt in einem dem Deutschen Reich nach dem 30. September 1938 angegliederten Gebiet, einschließlich des ehemaligen Protektorats Böhmen und Mähren, gehabt haben". Die Vorschrift ergänzt damit den § 154 BEG, der für Verfolgte aus den Vertreibungsgebieten lediglich Entschädigung wegen eines Berufsschadens, nicht auch wegen eines Ausbildungsschadens vorsieht. Härteausgleichsberechtigt sind demnach in der Ausbildung geschädigte Verfolgte, die dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört, ihren letzten Wohnsitz in einem dem Deutschen Reich nach dem 30. September 1938 angegliederten Gebiet einschließlich Böhmen und Mähren gehabt, diesen Wohnsitz aufgegeben und die Vertreibungsgebiete des § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG endgültig verlassen haben (Blessin-Giessler, BEG-Schlußgesetz, § 171 BEG Anm IV 3). Zu diesem Personenkreis gehört der Kläger.

Entgegen der Ansicht des LSG sind auch Verfolgte, denen, wie dem Kläger, wegen eines Ausbildungsschadens iS des BEG eine Entschädigung gem § 171 Abs 2 Buchst c BEG zuerkannt worden ist, nach § 10a Abs 2 WGSVG nachentrichtungsberechtigt. Zwar geht die zuletzt genannte Vorschrift, die durch das 18. Rentenanpassungsgesetz vom 28. April 1975 (BGBl I 1018) mit Wirkung vom 4. Mai 1975 in das WGSVG eingefügt worden ist, insofern über den ursprünglichen Rahmen des WGSVG hinaus, als sie auch Verfolgten, die bei Beginn der Verfolgung noch nicht versichert waren, ein Nachentrichtungsrecht einräumt. Dies allein rechtfertigt es jedoch nicht, eine sinngemäße Anwendung der Vorschrift auf einen darin nicht ausdrücklich genannten Fall von vornherein auszuschließen, wie das LSG gemeint hat. Durch § 10a WGSVG hat der Gesetzgeber - was in seiner Macht stand und auch der allgemeinen Zielsetzung des WGSVG nach einem "vollen" Ausgleich verfolgungsbedingter Schäden in der Sozialversicherung entsprach (BT-Drucks VI/1449, S 1 unter A I 2) - den Kreis der Anspruchsberechtigten über die bei Beginn der Verfolgung bereits versichert gewesenen Personen auf diejenigen erweitert, die sich zur Zeit der Verfolgung noch in der beruflichen oder vorberuflichen Ausbildung befanden und deshalb noch nicht versichert sein konnten (BT-Drucks 7/3235, S 2 unter A V und S 6 unter Nr 7). Dabei hat der Gesetzgeber es allerdings nicht für ausreichend gehalten, daß ein verfolgungsbedingter Ausbildungsschaden entstanden ist, sondern hat darüber hinaus gefordert, daß für diesen Schaden "eine Entschädigung zuerkannt worden ist" (BT-Drucks aaO S 6). Gründe für diese zusätzliche Forderung sind aus den Gesetzesmaterialien nicht zu erkennen. Möglicherweise sollte den Versicherungsträgern eine eigene Prüfung, ob im Einzelfall ein verfolgungsbedingter Ausbildungsschaden entstanden ist, abgenommen werden und den für eine solche Prüfung besser geeigneten Wiedergutmachungsbehörden überlassen bleiben. Ein weiterer Grund für die Forderung nach einem "entschädigten" Ausbildungsschaden könnte darin zu suchen sein, daß eine Nachentrichtungsberechtigung nur bei solchen Ausbildungsschäden bestehen sollte, die in einem bestimmten Gebiet eingetreten sind, nämlich bei Schäden, die "im Zuge einer im Reichsgebiet nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 oder im Gebiet der Freien Stadt Danzig begonnenen Verfolgung" entstanden sind (§ 64 Abs 1 BEG idF des BEG-Schlußgesetzes iVm §§ 116 und 118 BEG). Gerade diese räumliche Begrenzung hatte der Gesetzgeber indessen mit der Einfügung des § 171 Abs 2 Buchst c BEG schon aufgegeben und auch solche Verfolgten in den Kreis der wegen eines Ausbildungsschadens Entschädigungsberechtigten einbezogen, die ihren letzten Wohnsitz oder dauernden Aufenthalt außerhalb des Reichsgebiets nach dem Stand vom 31. Dezember 1937, aber noch innerhalb der dem Reich später angegliederten Gebiete gehabt haben.

Daß der Gesetzgeber diesen Kreis von Entschädigungsberechtigten bei Einfügung des § 10a WGSVG im Jahre 1975 nicht ausdrücklich neben den nach §§ 116 und 118 BEG Entschädigungsberechtigten genannt hat, läßt nach Ansicht des Senats nicht den Schluß zu, daß er diese Personen anders als die nach den §§ 116 und 118 BEG Berechtigten behandeln wollte. Näher liegt vielmehr die Annahme, daß er die genannten Personen bei der - im übrigen erst während der parlamentarischen Beratungen erfolgten und nur kurz begründeten - Einfügung des § 10a WGSVG übersehen hat. Dafür spricht auch, daß in § 10a Abs 2 WGSVG noch der § 118 BEG angeführt worden ist ohne Hinweis darauf, daß diese Vorschrift bereits durch das BEG-Schlußgesetz (Art I Nr 70) gestrichen worden war.

Der erkennende Senat hält sich nach alledem für befugt, die von ihm angenommene Gesetzeslücke in § 10a Abs 2 WGSVG in der Weise zu schließen, daß auch Verfolgte, die wegen eines Ausbildungsschadens einen Härteausgleich nach § 171 Abs 2 Buchst c BEG erhalten haben, freiwillige Beiträge nachentrichten können. Das erscheint um so unbedenklicher, als in der Begründung zu § 10a WGSVG lediglich von der Zuerkennung "eine(r) Entschädigung" die Rede ist, ohne daß die Art der Entschädigung näher bezeichnet wird. Im übrigen besteht die für die Gewährung einer Entschädigung nach §§ 116, 118 BEG erforderliche räumliche Beziehung des Versicherten zum Deutschen Reich auch bei der Gewährung eines Härteausgleichs nach § 171 Abs 2 Buchst c BEG, denn auch diesen können nur Personen erhalten, die ihren letzten Wohnsitz oder dauernden Aufenthalt in einem dem Deutschen Reich nach dem 30. September 1938 angegliederten Gebiet einschließlich des ehemaligen Protektorats Böhmen und Mähren gehabt hatten.

Der Senat hat hiernach unter Aufhebung aller Vorentscheidungen die Beklagte verurteilt, die vom Kläger beantragte Nachentrichtung von Beiträgen zu gestatten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656357

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