Gesetzestext

 

(1) Angriffs- und Verteidigungsmittel, die im ersten Rechtszuge zu Recht zurückgewiesen worden sind, bleiben ausgeschlossen.

(2) 1Neue Angriffs- und Verteidigungsmittel sind nur zuzulassen, wenn sie

1. einen Gesichtspunkt betreffen, der vom Gericht des ersten Rechtszuges erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten worden ist,
2. infolge eines Verfahrensmangels im ersten Rechtszug nicht geltend gemacht wurden oder
3. im ersten Rechtszug nicht geltend gemacht worden sind, ohne dass dies auf einer Nachlässigkeit der Partei beruht.

2Das Berufungsgericht kann die Glaubhaftmachung der Tatsachen verlangen, aus denen sich die Zulässigkeit der neuen Angriffs- und Verteidigungsmittel ergibt.

A. Systematik, Zweck, Anwendungsbereich.

 

Rn 1

Die Vorschrift ist Teil des berufungsrechtlichen Präklusionsrechts (dazu § 530 Rn 2). Erstinstanzlich verspätet vorgetragene und deswegen zu Recht zurückgewiesene Tatsachen bleiben nach Abs 1 auch zweitinstanzlich ausgeschlossen. Neue, erstinstanzlich gar nicht vorgetragene Tatsachen können in der Berufung nur unter den Voraussetzungen des Abs 2 berücksichtigt werden. Beide Absätze stellen die Einhaltung der Prozessförderungspflicht durch die Parteien sicher, indem diese angehalten werden, ihren Vortrag rechtzeitig in 1. Instanz zu bringen und ihn nicht für die 2. Instanz aufsparen (keine ›Flucht in die Berufung‹). Dass erstinstanzlich – wenn auch verspätet – vorgetragene Tatsachen zwingend ausgeschlossen sind, während erstinstanzlich gar nicht vorgetragene Tatsachen – unter den Voraussetzungen des § 531 II – zugelassen werden können, ist in sich nicht schlüssig, aber nicht verfassungswidrig (BVerfG NJW 81, 271; VerfGH Bay BauR 13, 1737).

 

Rn 2

Die Vorschrift erfasst den Vortrag beider Parteien (Berufungskläger und Berufungsbeklagter) in der Berufung und der Anschlussberufung, auch bei einer Entscheidung im Beschlussweg (§ 522; BGH NJW 17, 736 [BGH 14.07.2016 - V ZR 258/15]) und nach Zurückverweisung aus der Revisionsinstanz (BGH NJW 04, 2382 [BGH 02.04.2004 - V ZR 107/03]). Sie gilt in allen Berufungsverfahren, auch im WEG-Verfahren. Trotz grundsätzlicher Geltung auch in zweitinstanzlichen Eilverfahren (Stürner IPrax 04, 513) ist hier eine zurückhaltende Anwendung sinnvoll (Hamm VersR 08, 1118 [OLG Hamm 11.05.2007 - 9 U 37/07]). Im arbeitsgerichtlichen Berufungsverfahren ist gem § 67 ArbGG, in Ehe- und Familienstreitsachen gem §§ 65 III, 115 FamFG der Vortrag neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel in deutlich weiterem Umfang möglich.

B. Angriffs- und Verteidigungsmittel.

 

Rn 3

Anwendbar sind Abs 1 und Abs 2 nur auf Angriffs- und Verteidigungsmittel (dazu § 282 Rn 3, § 296 Rn 6, § 530 Rn 5). Erfasst werden alle von den Parteien zur Begründung des Sachantrags der Berufung bzw Anschlussberufung oder zur Verteidigung gegen ihn vorgebrachten Tatsachen. Hierunter fallen insb das Behaupten (BGH NJW 80, 1794), Bestreiten (BGH JZ 77, 102; KG Berlin WM 18, 121) oder Beweisen (BGHZ 198, 187; BGH MDR 09, 281; KG Urt v 12.5.11 – 23 U 72/11; Oldenbg MDR 10, 1078) von Tatsachen. Angriffs- bzw Verteidigungsmittel ist der Vortrag der zur Ausfüllung materieller oder prozessualer Rechte (Einwendungen und Einreden; BGH NJW 04, 2828 [BGH 08.06.2004 - VI ZR 230/03]) dienenden Tatsachen, bei den nur auf Geltendmachung hin zu berücksichtigenden Rechten auch diese Geltendmachung selbst (zur Verjährungseinrede BGH NJW 08, 3434 [BGH 23.06.2008 - GSZ 1/08] und Frankf Urt v 24.2.10 – 9 U 93/06; zur Geltendmachung von Obliegenheitsverletzungen im Versicherungsrecht BGH NJW 05, 1185; zum Vorbehalt beschränkter Erbenhaftung BGH NJW-RR 10, 664 [BGH 02.02.2010 - VI ZR 82/09]). Zur Anwendung des § 531 II auf Gestaltungsrechte Rn 18, 21, 24 und BGH NJW 19, 80; WM 18, 2196 [BGH 17.10.2018 - VIII ZR 212/17]; BAG MDR 84, 347; BGH NJW 64, 1797), Beweiseinreden stellen Angriffs- und Verteidigungsmittel nur dann dar, wenn sie über die bloße Würdigung hinausgehen und auf besondere Tatsachen gestützt werden (BGH NJW 06, 152; KG SchadensPraxis 10, 392). Sind Einwendungen gegen ein Gerichtsgutachten wegen der erforderlichen besonderen Sachkunde nur nach sachverständiger Beratung möglich (so vielfach im Arzthaftungs- oder Bauprozess), so können diese nach § 531 nicht zurückgewiesen werden (BGH NJW 07, 1531; NJW 06, 152). Auch die Aufrechnung ist Verteidigungsmittel (BGHZ 91, 293, 303), für sie gelten indes die besonderen Voraussetzungen des § 533. Keine Angriffs- und Verteidigungsmittel sind die mit der Stellung eines neuen oder der Änderung des bisherigen Antrags verbundenen selbstständigen Angriffe und Verteidigungen (Klage, Klageerweiterung, Klageänderung, Widerklage, Anschlussberufung; BGH NJW 17, 491 [BGH 20.09.2016 - VIII ZR 247/15]). Zum Angriff selbst und nicht zu den bloßen Angriffsmitteln gehört auch die im Hinblick auf § 253 II vorgenommene nähere Aufgliederung der Klageforderung (BGH NJW 13, 1367; 97, 870; 93, 1392 [BGH 10.02.1993 - XII ZR 241/91]); die Zulässigkeit neuen Tatsachenvortrags hierzu richtet sich nicht nach § 531, sondern nach § 533. Keine Angriffs- und Verteidigungsmittel sind auch...

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