Gesetzestext

 

Die schriftliche Begutachtung kann durch die Verwertung eines gerichtlich oder staatsanwaltschaftlich eingeholten Sachverständigengutachtens aus einem anderen Verfahren ersetzt werden.

A. Historische Entwicklung, Normzweck und Gesetzessystematik.

 

Rn 1

Die Vorschrift wurde durch das 1. JuMoG eingefügt und durch das 2. JuMoG auf Gutachten aus staatsanwaltlichen Verfahren erweitert. Zuvor war die Verwertung von Gutachten aus anderen Verfahren nur im Wege des Urkundenbeweises möglich, nicht aber mit dem Beweiswert eines Sachverständigenbeweises (s vor §§ 402 ff Rn 6–13). Über § 411a ist es nun möglich, die schriftliche Begutachtung zu ersetzen. Dadurch können unnötige Doppelbegutachtungen und so Zeit und Kosten erspart werden (vgl BTDrs 15/1508, 20).

 

Rn 2

Mit der Vereinfachung und Beschleunigung soll indes keine Einschränkung der Parteirechte einhergehen. Es wird nur § 411 I ergänzt, die Vorschriften über den Sachverständigenbeweis iÜ bleiben unberührt (KG VRR 08, 385), insb finden die §§ 406 und 411 III Anwendung (BTDrs 15/1508, 20). Problematischer ist die Wahrung der Interessen des SV. Zu Einzelheiten, insb zum Vergütungsanspruch und einem Widerspruchsrecht, auch zur Haftung nach § 839a BGB s.u. Rn 9–12.

 

Rn 3

Übergangsregelung: Die Urfassung ist seit dem 1.9.04 gültig (§ 29 Nr 3 EGZPO), die geänderte Fassung seit 31.12.06 in Kraft (Art 28 I 2. JuMoG). Maßgeblich ist, wann das Verfahren anhängig geworden ist (s zB Naumbg GesR 10, 318, 321).

B. Einzelerläuterungen.

I. Voraussetzungen.

1. Sachverständigengutachten.

 

Rn 4

Es muss sich um ein Sachverständigengutachten handeln (nicht eine sachverständige Zeugenaussage, § 414). Unproblematisch gilt die Vorschrift für Gutachten, die im damaligen Verfahren schriftlich vorgelegen haben. Soweit sie hinreichend protokolliert worden sind (vgl § 160 III Nr 4 ff), sind aber auch mündlich erstattete Gutachten sowie mündliche Erläuterungen verwertbar.

2. Identität des Beweisthemas oder gleichartiger Gegenstand.

 

Rn 5

Soll das verfahrensfremde Gutachten eine selbstständige Beweiserhebung völlig ersetzen, muss ihm dieselbe Beweisfrage zugrunde liegen (Zö/Greger § 411a Rz 3; Musielak FS Vollkommer 06, 237, 247; aA Saenger ZZP 121, 139, 156; offen Jena MedR 12, 266 [OLG Köln 25.05.2011 - 5 W 18/11]: bei Arzthaftung jedenfalls fachgleicher SV nötig). Anders bei lediglich zusätzlicher Verwertung des fremden Gutachtens: Hier muss der Gegenstand nicht identisch, sondern nur insoweit gleichartig sein, als die Verwertung zur Beantwortung der Beweisfrage beiträgt, und sei es durch parallele Schlussfolgerung. An dieser Gleichartigkeit fehlt es, wenn nach § 404a III das Prozessgericht selbst Tatsachen feststellen muss (München NJW-Spez 11, 43 – red LS) oder wenn Feststellungen nötig sind, die ihrerseits die Beauftragung eines SV erfordern. Auch terminologische Divergenzen können der Übertragung im Wege stehen, vgl Rn 14.

3. Verfahrensarten.

 

Rn 6

Als gerichtliche Verfahren kommen auch solche nach FamFG (§ 113 I), InsO, ArbGG (§§ 46 II, 80 II), VwGO (§ 98), SGG, StPO (§§ 72 ff) usw in Betracht, nicht jedoch Verfahren vor ausländischen Gerichten (aA MüKoZPO/Zimmermann § 411a Rz 2). Seit der Neufassung durch das 2. JuMoG können außerdem von der Staatsanwaltschaft eingeholte Gutachten (§ 161a StPO) verwertet werden, nicht jedoch Gutachten aus Verwaltungsverfahren (zB § 26 I Nr 2 VwVfG; BVerfG NJW-RR 12, 393, 396 [BVerfG 26.10.2011 - 2 BvR 320/11]: amtsärztliches Zeugnis ungenügend). Für die Verwertung von Gutachten aus dem selbstständigen Beweisverfahren ist in dessen Anwendungsbereich § 493 lex specialis (zwischen denselben Parteien), iÜ § 411a.

II. Anordnung.

 

Rn 7

Liegen diese Voraussetzungen vor, so steht es grds im Ermessen des Gerichts, ob es das ›fremde‹ Gutachten beizieht (s.a. Köln VersR 11, 1397, 1400 [OLG Köln 26.01.2011 - 5 U 81/10]: § 355 kann entgegenstehen). Dabei hat es einen geäußerten Wunsch auf ein neues Gutachten zu berücksichtigen. Verlangen die Parteien übereinstimmend ein neues Gutachten, so ist das Gericht aufgrund der Verhandlungsmaxime daran gebunden (s.a. § 404 Rn 14; aA Zö/Greger § 411a Rz 3 [§ 144 I]; St/J/Berger § 411a Rz 12). Weiterhin sind ua die Gleichwertigkeit, Qualität und Beurteilung des Gerichts sowie Einwendungen der Parteien im früheren, ›einholenden‹ Verfahren zu berücksichtigen. Den Parteien muss vor Erlass der Anordnung Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden (BGH FamRZ 12, 297; Musielak/Voit/Huber § 411a Rz 11: einschl Beiziehung des Gutachtens und Übermittlung an die Parteien; BRDrs 550/06, 79; zweifelnd St/J/Berger § 411a Rz 16; s aber Stuttg BauR 11, 555, 558: rügelose Verhandlung macht Fehlen der Anordnung unbeachtlich, § 295 I). Die Anordnung bewirkt die Ernennung des SV für dieses Verfahren (Saenger ZZP 121, 139, 157) und ist ihm daher mitzuteilen.

III. Anzuwendende Vorschriften.

 

Rn 8

s Rn 2. Für die Frist des § 406 II 1 ist der Verwertungsbeschl des § 411a maßgeblich. Ein Verlust von Rechten im vorangegangenen Prozess ist grds irrelevant (St/J/Berger § 411a Rz 23; aA Musielak/Voit/Huber § 411a Rz 12). Entspr gilt für § 411 IV. Eine mündliche Erläuterung (auf Antrag zwingend) ist genauso wie eine schriftliche Ergänzung nach den allg Grundsätzen möglich. Für ein weiteres Gutachten gilt § 412. Zu § 408s Rn 10.

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