Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Erstattung zu Unrecht gewährter Sozialleistung. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Rücknahme der Leistungsbewilligung gegenüber Mitgliedern einer Bedarfsgemeinschaft. Einkommensberücksichtigung. Kindergeld. Vertrauensschutz bei Überzahlungen. Verletzung der Sorgfaltspflicht. grobe Fahrlässigkeit. Überprüfung von Bewilligungsbescheiden. Kenntnis

 

Orientierungssatz

1. Ein Verwaltungsakt ist hinreichend bestimmt iS des § 33 Abs 1 SGB 10, wenn seine Eigenschaft als verbindliche Regelung erkennbar ist. Aufhebungs- und Erstattungsbescheide genügen dem Bestimmtheitsgebot, wenn aus ihnen eindeutig hervorgeht, wem gegenüber welche Bewilligung in welcher Höhe aufgehoben und wie viel vom einzelnen Mitglied der Bedarfsgemeinschaft zurück erstattet verlangt wird (vgl LSG Stuttgart vom 18.10.2007 - L 7 SO 2899/06 und LSG Essen vom 11.1.2007 - L 20 B 312/07 AS ER).

2. Eine Rücknahmeentscheidung stellt das Spiegelbild der Leistungsbewilligung dar, so dass die Rückabwicklung im jeweiligen individuellen Leistungsverhältnis erfolgt (vgl SG Koblenz vom 16.6.2006 - S 11 AS 305/05). Der Grundsicherungsträger kann die Erstattung der überzahlten Leistungen nach § 50 SGB 10 nur von dem jeweiligen Mitglied der Bedarfsgemeinschaft in Höhe der tatsächlichen Überzahlungen verlangen. Dies gilt gerade auch dann, wenn an Minderjährige zu Unrecht Leistungen gewährt worden sind. Auch hier kann ein Erstattungsanspruch nicht gegen die Eltern gerichtet werden, selbst dann nicht, wenn diese die Überzahlung durch Verletzung von Mitteilungspflichten verursacht und die überzahlten Beträge ausgegeben haben (vgl BVerwG vom 30.4.1992 - 5 C 29/88 = NDV 1992, 340).

3. Zwar ist das Kindergeld als Einkommen des Kindes iS des § 11 Abs 1 S 1 und 3 SGB 2 anzurechnen, jedoch steht einer Rückforderung nach § 45 Abs 1 SGB 10 der Vertrauensschutz gem § 45 Abs 2 S 2 SGB 10 entgegen, wenn die überzahlten Leistungen bereits vollständig ausgegeben sind. Gem § 45 Abs 2 S 3 Nr 3 SGB 10 kann sich der Begünstigte trotz des Verbrauchs der Leistungen auf Vertrauen nicht berufen, soweit er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Bei minderjährigen Hilfebedürftigen ist auf das Wissen des gesetzlichen Vertreters abzustellen. Macht ein Elternteil im Antragsverfahren unzutreffende Angaben bzw hätte dieser nach Erlass der Entscheidung die Rechtswidrigkeit des Bescheides erkennen können, so findet eine Zurechnung des Vertreterhandelns (§ 276 BGB) bzw des Vertreterwissens (§ 166 Abs 1 BGB) statt (vgl BSG vom 13.12.1984 - 9a RV 40/83 = BSGE 57, 274 = SozR 1300 § 48 Nr 11).

4. Grundsätzlich trifft den Begünstigten, der zutreffende Angaben gemacht hat, keine Verpflichtung, Bewilligungsbescheide des Näheren auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Aus dem Grundsatz von Treu und Glauben lässt sich herleiten, dass die Beteiligten im Sozialrechtsverhältnis verpflichtet sind, sich gegenseitig vor vermeidbarem Schaden zu bewahren. Diesem Grundsatz entspricht es, dass der Begünstigte rechtlich gehalten ist, den Bescheid zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen (vgl BSG vom 8.2.2001 - B 11 AL 21/00 R = SozR 3-1300 § 45 Nr 45). In diesem Rahmen ist der Begünstigte gehalten, die im Bewilligungsbescheid formulierte Begründung auch in Form von Zahlenangaben nachzuvollziehen (vgl SG Koblenz vom 16.6.2006 aaO). Die notwendige Folge dieser Obliegenheit ist es, dass eine Begründung der Bewilligungsentscheidung, die den in der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt wieder gibt, auch einen rechtlich unkundigen Adressaten auf die Fehlerhaftigkeit der Bewilligung aufmerksam machen muss, soweit diese augenfällig ist.

5. Die Augenfälligkeit der Rechtswidrigkeit der überzahlten Leistungen scheitert jedoch, wenn der Bewilligungsbescheid das Fehlen der Kindergeldanrechnung nicht ausdrücklich erkennbar macht.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit zweier Rücknahme- und Erstattungsentscheidungen.

Die Kläger stehen seit dem 01.01.2005 im Leistungsbezug bei der Beklagten. In ihrem Antrag auf Leistungen nach dem SGB 2 vom 18.08.2004 gaben die Kläger an, dass sie als Einkommen 154,00 EUR Kindergeld beziehen. Darüber hinaus verdiene die Klägerin zu 1) monatlich 325 EUR aus einer Erwerbstätigkeit bei der Firma M. Der Kläger zu 2) beziehe Arbeitslosengeld I.

Mit Bescheid vom 30.11.2004 bewilligte die Beklagte Leistungen nach dem SGB 2 für den Zeitraum vom 01.01.2005 bis zum 30.04.2006. Im Rahmen der Bedarfsberechnung berücksichtigte die Beklagte das Einkommen der Kläger zu 1) und 2) sowie das Kindergeld in Höhe von 154,00 EUR bedarfsmindernd. Am 28.06.2005 teilte die Klägerin zu 1) der Beklagten mit, dass der Kläger zu 2) wieder in Arbeit stehe. Die Leistungseinstellung erfolgte zum 01.09.2005. Aus den Lohnnachweisen ergibt sich, dass der Kläger zu 2) im Juli 2005 einen Betrag in Höhe von 214,64 EUR, im August 2005 in Höhe von 1248,27, im September 2005 in Höhe von 1.367,96 EUR und...

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