Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialhilfe. Hilfe zum Lebensunterhalt. einstweilige Unterbringung im Maßregelvollzug. örtliche Zuständigkeit. Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung. notwendiger Lebensunterhalt. weiterer notwendiger Lebensunterhalt. angemessener Barbetrag zur persönlichen Verfügung. Verweis auf Taschengeld nach § 11 MVollzG ND trotz Ablehnung durch die Maßregelvollzugseinrichtung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung iS von § 98 Abs 4 SGB XII gehört nicht nur der Strafvollzug im engen Sinn, sondern auch der Maßregelvollzug (vgl auch BSG vom 20.4.2016 - B 8 SO 8/14 R = FEVS 68, 174 = juris RdNr 15) und die vorläufige Unterbringung in einer Maßregelvollzugseinrichtung nach § 126a StPO.

2. Im Maßregelvollzug - und dies gilt entsprechend für den Strafvollzug - wird der existentielle Bedarf der Betroffenen sowohl in physischer als auch in soziokultureller Hinsicht nach landesrechtlichen Vorschriften grundsätzlich durch die Einrichtung gedeckt, ohne dass es im Regelfall zur Sicherung des notwendigen Lebensunterhalts ergänzender Sozialhilfeleistungen bedarf.

3. Soweit dem Hilfebedürftigen von der Maßregelvollzugseinrichtung keine Leistungen zur Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums gewährt werden (sog Barbetrag oder "Taschengeld"), bemisst sich der Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt (§§ 19 Abs 1, 27 ff SGB XII) für vorläufig im Maßregelvollzug Untergebrachte (§ 126 StPO) nach § 27b Abs 2 S 2 SGB XII in analoger Anwendung.

4. Ein Bedürftiger kann wegen der Deckung seines gegenwärtigen existentiellen Bedarfs unter dem Gesichtspunkt der bereiten Mittel nicht auf Leistungen verwiesen werden, die von einer Behörde oder einem Beliehenen ausdrücklich abgelehnt werden (vgl auch BVerwG vom 12.10.1993 - 5 C 38/92 = Buchholz 436.0 § 2 BSHG Nr 16 = juris RdNr 18 f).

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 23. Februar 2015 und der Bescheid der Stadt Göttingen vom 9. Januar 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 29. Februar 2012 aufgehoben sowie die Leistungsbewilligung für den Monat November 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 29. Februar 2012 geändert.

Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 16. bis zum 30. November 2011 einen Betrag von 30,94 €, für Dezember 2011 einen Betrag von 98,28 € und für die Zeit von Januar bis März 2012 einen Betrag von 100,98 € je Monat zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Der Beklagte hat die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Klägers für das erst- und zweitinstanzliche Verfahren zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Zahlung eines monatlichen Barbetrages für die Zeit einer einstweiligen Unterbringung nach Maßgabe des § 126a Strafprozessordnung (StPO) vom 16. November 2011 bis zum 31. März 2012 sowie die Übernahme von Kosten der Unterkunft und Heizung für die Monate Dezember 2011 und Januar 2012.

Der 1971 geborene Kläger bezog bis Anfang Januar 2011 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Vom 15. Januar bis zum 15. November 2011 befand er sich in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt (JVA) O.; der Kläger hatte am 15. Januar 2011 in T. mehrere Menschen durch Messerstiche teils lebensgefährlich verletzt. Für die Zeit der Untersuchungshaft gewährte der Beklagte dem Kläger Hilfe zum Lebensunterhalt in monatlicher Höhe von 36,40 € (10 % der Regelbedarfsstufe 1) und übernahm die Kosten für Unterkunft und Heizung von 271,00 € Euro je Monat, bewilligt durch Bescheid der vom Beklagten herangezogenen und in dessen Namen handelnden Stadt Göttingen vom 7. April 2011 für die Monate Januar und Februar 2011. Die Leistungsgewährung in der Zeit vom 1. März bis 30. November 2011 erfolgte ohne schriftlichen Verwaltungsakt durch Überweisung der Leistungsbeträge an den Kläger und seinen Vermieter.

Durch Strafurteil des Landgerichts (LG) Göttingen vom 16. November 2011 (- 6 Ks 4/11 -) wurde der Kläger vom Tatvorwurf des versuchten Totschlags wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 Strafgesetzbuch (StGB) angeordnet. Da das Urteil nicht rechtskräftig war, erfolgte ab dem 16. November 2011 (zunächst) eine vorläufige Unterbringung des Klägers in dem Maßregelvollzugszentrum Niedersachsen, Moringen, nach § 126a StPO.

Nach Anhörung des Klägers teilte die Stadt Göttingen diesem mit Bescheid vom 9. Januar 2012 die Einstellung der Hilfe zum Lebensunterhalt zum 16. November 2011 mit. Während des folgenden Widerspruchsverfahrens kündigte der Vermieter am 14. Januar 2012 den Mietvertrag für die vom Kläger bis Mitte Januar 2011 genutzte Wohnung zum 31. Januar 2012. Ein gegen den Beklagten gerichteter Eilantrag des Klägers vom 19. Januar 2012 auf Gewährung eines Barbetrags hatte erstinstanzlich in der Sache und in zweiter Instanz mangels Statthaftigkeit der Beschwerde keinen Erfolg...

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