Entscheidungsstichwort (Thema)

Rückwirkende Befreiung von der Rentenversicherungspflicht nach § 231 Abs 4b SGB 6 bei einem Unternehmensjuristen, der vor seiner Zulassung als Syndikusrechtsanwalt weder als Rechtsanwalt zugelassen noch Mitglied eines berufsständischen Versorgungswerkes gewesen ist. Verfassungsmäßigkeit. Verzicht des Verwaltungsträgers auf ein Rechtsmittel in einem ähnlichen Gerichtsverfahren. Selbstbindung der Verwaltung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Syndikusrechtsanwälte (§ 46 Abs 2 BRAO), die die Voraussetzungen für eine rückwirkende Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 231 Abs 4b S 4 SGB VI (Zahlung von Pflichtbeiträgen für ein berufsständisches Versorgungswerk bereits vor dem 1.4.2014) nicht erfüllen, können diese gem § 231 Abs 4b S 1 SGB VI (frühestens ab dem 1.4.2014) nur beanspruchen, wenn bereits im Rückwirkungszeitraum ein Bezug zum Versorgungssystem der Rechtsanwaltschaft bestand. Dies folgt aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift, mit der der Gesetzgeber das bis zu den Entscheidungen des BSG vom 3.4.2014 (B 5 RE 13/14 R = BSGE 115, 267 = SozR 4-2600 § 6 Nr 12, B 5 RE 9/14 R und B 5 RE 3/14 R) durch die Verwaltungspraxis geschaffene schutzwürdige Vertrauen bei der Befreiung von (vormals) "Syndikusanwälten" angemessen berücksichtigen wollte.

2. Ein Unternehmensjurist, der vor seiner Zulassung als Syndikusrechtsanwalt weder als Rechtsanwalt zugelassen noch Mitglied eines berufsständischen Versorgungswerkes gewesen ist und dies auch zu keinem Zeitpunkt beantragt, sondern seine Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung "hingenommen" hat, kann aus der Übergangsregelung des § 231 Abs 4b SGB VI keinen Vertrauensschutz in eine Rückwirkung seiner Befreiung vor den Zeitpunkt seiner Zulassung herleiten.

 

Orientierungssatz

1. Zwar fordert § 231 Abs 4b S 1 SGB 6 für Zeiten "derjenigen Beschäftigung, für die die Befreiung von der Versicherungspflicht erteilt wird", vor dem 1.1.2016 keine durch Pflichtmitgliedschaft in einer Rechtsanwaltskammer bedingte Pflichtmitgliedschaft in einem Versorgungswerk, sodass nach dieser Vorschrift rückwirkend auch befreit werden kann, wer nur freiwilliges Mitglied im berufsständischen Versorgungswerk war (vgl BSG vom 26.2.2020 - B 5 RE 2/19 R = SozR 4-2600 § 231 Nr 7 sowie LSG Darmstadt vom 14.2.2019 - L 1 KR 617/18). Gleichwohl muss (irgend)ein Bezug zu einem Versorgungswerk bereits für den Zeitraum der angestrebten rückwirkenden Befreiung bestanden haben (vgl BSG vom 26.2.2020 - B 5 RE 2/19 R aaO).

2. Auch der Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 3 Abs 1 GG gebietet nicht, die bei nichtanwaltlichen Arbeitgebern beschäftigten Volljuristen ohne Anwaltszulassung den vor dem 1.1.2016 bereits mit Anwaltszulassung tätig gewesenen Syndikusanwälten gleichzustellen, denn allenfalls bei Letzteren hat ein entsprechendes Vertrauen in die Aufnahme bzw den Verbleib im anwaltlichen Versorgungssystem entstehen können.

3. Selbst wenn im prozessualen (Nicht-)Agieren ein "Verwaltungshandeln" gesehen werden könnte, vermag der bloße Verzicht auf ein Rechtsmittel in einem einzelnen Gerichtsverfahren keine "Verwaltungspraxis" zu begründen, die am Maßstab des Art 3 Abs 1 GG zu einer "Selbstbindung" des Verwaltungsträgers führen könnte (vgl BVerfG vom 12.7.2007 - 1 BvR 1616/03 = SozR 4-2700 § 162 Nr 2).

 

Tenor

Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 26.2.2019 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten (noch) über die rückwirkende Befreiung des Klägers von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) für den Zeitraum vom 1.4.2014 bis 31.3.2016 sowie die Erstattung entsprechend bislang entrichteter Beiträge.

Der P. geborene Kläger ist Volljurist und seit dem 1.4.2013 bei der Beigeladenen zu 1), einem in Q. ansässigen Energieversorgungs- und Telekommunikationsunternehmen, als Unternehmensjurist tätig. Er war zuvor - zuletzt seit dem 1.5.2009 aufgrund einer Beschäftigung - pflichtversichert in der GRV und entrichtete auch seit Aufnahme der Tätigkeit bei der Beigeladenen entsprechende Pflichtbeiträge an den beklagten Rentenversicherungsträger.

Am 1.4.2016 beantragte der Kläger bei der Rechtsanwaltskammer (RAK) Q. seine Zulassung als Rechtsanwalt (Syndikusrechtsanwalt). Diesem Antrag entsprach die RAK mit Bescheid vom 23.6.2016; die Zulassung wurde nach Vereidigung und Aushändigung der Zulassungsurkunde am 16.8.2016 wirksam. Zugleich ist der Kläger seit diesem Datum Pflichtmitglied bei dem zu 2) beigeladenen Versorgungswerk.

Bereits am 31.3.2016 hatte der Kläger bei der Beklagten sowohl seine Befreiung von der (weiteren) Rentenversicherungspflicht als Syndikusrechtsanwalt als auch seine rückwirkende Befreiung ab dem 1.4.2013 sowie die Erstattung der insoweit geleisteten Pflichtbeiträge zugunsten des Beigeladenen zu 2) beantragt.

Mit Bescheid vom 6.9.2016 entsprach die Beklagte diesem Antrag für die Zeit ab dem 16.8.2016 (Tag de...

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