Entscheidungsstichwort (Thema)

Anspruch auf rückwirkendes Elterngeld bei nachträglicher Rechtsprechungsänderung. doppeltes Elterngeld für Zwillinge. sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Überprüfungsverfahren. bestandskräftige Elterngeldbewilligung. keine nachträgliche Überprüfung von Amts wegen. kein generelles Durchforsten der Akten. keine Pflicht der Elterngeldbehörde zum Hinweis auf spätere Rechtsprechungsänderung. sozialrechtlicher Herstellungsanspruch. 4-jährige Ausschlussfrist des § 44 Abs 4 SGB 10. Ausschluss der Rücknahme für weit zurückliegende Zeiträume. Maßgeblichkeit des tatsächlichen Rücknahmezeitpunkts

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Behörde ist nicht verpflichtet - auch nicht auf Grund einer neuen Rechtslage (hier im Hinblick auf die geänderte Rechtsprechung des BSG zum Elterngeld für Zwillinge in BSG vom 27.6.2013 - B 10 EG 8/12 R = BSGE 114, 26 = SozR 4-7837 § 1 Nr 4) -, Akten von sich aus auf Rücknahmemöglichkeiten durchzuarbeiten. Aus der Formulierung „im Einzelfall“ in § 44 Abs 1 S 1 SGB 10 ergibt sich vielmehr, dass sich konkret in der Bearbeitung eines Falles ein Anhaltspunkt für eine Aufhebung ergeben haben muss.

2. Die Regelung des § 44 Abs 4 S 1 SGB 10 wird über ihren engen Wortlaut hinaus dahin ausgelegt, dass bereits die Rücknahme des belastenden Verwaltungsaktes bei Eingreifen der Verfallklausel des § 44 Abs 4 SGB 10 schlechthin ausgeschlossen ist (vgl BSG vom 6.3.1991 - 9b RAr 7/90 = BSGE 68, 180 = SozR 3-1300 § 44 Nr 1).

3. In entsprechender Anwendung des § 44 Abs 4 SGB 10 gilt ebenfalls eine Ausschlussfrist von vier Jahren, wenn aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs eine Leistung rückwirkend verlangt werden kann (vgl BSG vom 9.9.1986 - 11a RA 28/85 = BSGE 60, 245 = SozR 1300 § 44 Nr 24).

4. Im Übrigen wird die „4-Jahres-Frist“ nach dem Wortlaut des § 44 Abs 4 S 2 SGB 10 von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem die Rücknahme von Amts wegen tatsächlich erfolgt und nicht ab Beginn des Jahres, in dem die Rücknahme gegebenenfalls hätte erfolgen müssen.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 04.07.2017; Aktenzeichen B 10 EG 20/16 B)

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 28.01.2016 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt im Wege des Überprüfungsverfahrens die Gewährung weiteren Elterngelds anlässlich der Geburt der Zwillinge S. und St. 2009.

Die 1977 geborene Klägerin ist verheiratet und lebt zusammen mit ihrem Ehemann und den 2009 geborenen Zwillingen S. und St. sowie zwei weiteren Kindern.

Auf ihren Antrag bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 21.07.2009 der Klägerin Elterngeld für den 1. bis 12. Lebensmonat der Zwillinge (18.04.2009 bis 17.04.2010) unter Berücksichtigung des Mehrlingszuschlags von monatlich 300 €. Rechtsbehelfe gegen diesen Bescheid wurden nicht eingelegt.

Am 14.01.2015 stellte die Klägerin einen Ergänzungsantrag auf Elterngeld für Mehrlingskinder. Mit Bescheid vom 15.01.2015 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Nach der neuen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) bestehe für jedes Kind einer Zwillingsgeburt ein eigenständiger Elterngeldanspruch. Elterngeld könne für Zeiträume, die länger als vier Jahre zurückliegen, jedoch nicht gewährt werden. Der Zeitraum von vier Jahren werde ab dem 1. Januar des Jahres, in dem der Antrag eingegangen sei, berechnet.

Mit ihrem Widerspruch vom 26.01.2015 machte die Klägerin geltend, sie habe erstmals Ende 2014 von der neuen Rechtsprechung des BSG Kenntnis genommen. Die sechsköpfige Familie könne das Geld wirklich brauchen. In anderen Bundesländern seien die Mehrlingseltern sogar angeschrieben worden. Behörden seien doch zu verfassungsmäßigem Handeln und Gleichbehandlung verpflichtet.

Mit Widerspruchsbescheid vom 29.01.2015 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Nach § 44 SGB X sei ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn bei Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen worden sei, soweit deshalb ua Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden seien. Nach § 44 Abs 4 SGB X könne jedoch Elterngeld nur vier Jahre rückwirkend gewährt werden. Bei Antragstellung am 14.01.2015 könne ausgehend vom 01.01.2015 längstens bis zum 01.01.2011 Elterngeld rückwirkend gewährt werden, somit bestehe kein Anspruch.

Hiergegen richtet sich die am 02.03.2015 zum Sozialgericht Stuttgart (SG) erhobene Klage. Zur Begründung hat der Klägerbevollmächtigte ausgeführt, dass die Beklagte verpflichtet gewesen sei, die Klägerin auf die geänderte Rechtsprechung und die 4-Jahres-Frist rechtzeitig hinzuweisen. In anderen Bundesländern sei dies geschehen. Deshalb habe die Beklagte treuwidrig gehandelt. Zudem sei der ursprüngliche Verwaltungsakt nach § 43 SGB X umzudeuten.

Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat ausgeführt, dass die 4-Jahres-Frist absolut gelte und nicht im Ermessen der Verwaltung stehe. Eine Wiedereinsetzung nac...

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