Entscheidungsstichwort (Thema)

Leistungsabgrenzung bei Rehabilitationsmaßnahmen für Abhängigkeitskranke. Beiladung von Versicherten bei Ersatzstreitigkeiten zwischen Sozialhilfeträger und Kranken- bzw Rentenversicherungsträger

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die in der Sucht-Vereinbarung getroffene Zuständigkeitsregelung, nach der bei Abhängigkeitskranken für die Entzugs(Entgiftungs-)behandlung grundsätzlich die Krankenversicherung und für die Entwöhnungsbehandlung grundsätzlich die Rentenversicherung zuständig ist, leitet sich im wesentlichen bereits aus dem Gesetz ab.

2. Ist durch die Prüfung der versicherungsrechtlichen oder medizinischen Voraussetzungen die rechtzeitige Durchführung einer Entwöhnungsbehandlung gefährdet, so hat nach RehaAnglG § 6 Abs 2 Nr 1 der Rentenversicherungsträger die Leistung vorläufig zu erbringen.

3. Die Krankenversicherungsträger und die Rentenversicherungsträger sind auch für die Ermessensleistungen nach RVO § 184a und RVO §§ 1236ff vor dem Sozialhilfeträger leistungszuständig (BSHG § 2 Abs 2 S 2).

4. Bei einem Ersatzstreit zwischen Sozialhilfeträger und Kranken- bzw Rentenversicherungsträger nach RVO § 1531 ist der Versicherte nach SGG § 75 Abs 2 notwendig beizuladen.

 

Orientierungssatz

Notwendige Beiladung des Versicherten zum Ersatzstreit nach RVO § 1531 - Alkoholentwöhnungskur - Abgrenzung der Zuständigkeit zwischen Krankenversicherung, Rentenversicherung und Sozialhilfe - Zuständigkeitsvereinbarung vom 1978-11-20 (= Empfehlungsvereinbarung über die Zusammenarbeit bei der Rehabilitation - Abhängigkeitskranker) - Vorleistungspflicht des Rentenversicherungsträgers

 

Normenkette

SGG § 75 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03; RVO § 184a Fassung: 1974-08-07, § 1237 Fassung: 1974-08-07, § 1531; RehaAnglG § 6 Abs. 2 Nr. 1; BSHG § 2 Abs. 2 S. 2; RVO § 1236

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 24.05.1977; Aktenzeichen L 2 J 143/76)

SG Trier (Entscheidung vom 12.07.1976; Aktenzeichen S 1 J 81/75)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 24. Mai 1977 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Der klagende Landkreis begehrt Ersatz von Kosten für eine Alkohol-Entwöhnungskur.

Der Versicherte W befand sich vom 18. Juli bis zum 11. Oktober 1974 wegen chronischen Alkoholismus auf Kosten der beigeladenen Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) in der Landesnervenklinik A. Im August 1974 bat die Fachstelle für Drogen- und Suchtkrankenhilfe in B die AOK, die Kosten für eine in der Psycho-Sozialen Klinik E ab 21. Oktober 1974 für etwa sechs Monate vorgesehene stationäre Behandlung des W zu übernehmen. Nachdem der behandelnde Arzt Dr. K eine Rehabilitation zur Stabilisierung des in der Landesklinik A erreichten Zustandes und zur Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit empfohlen hatte, teilte die AOK der Fachstelle mit, für die Kostenübernahme sei die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) zuständig, da es sich um eine Rehabilitationsmaßnahme handele. Die LVA verneinte gegenüber der Fachstelle ihre Zuständigkeit im Hinblick auf § 1236 Abs 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Daraufhin erteilte der Kläger der Fachstelle vorläufig eine Kostenzusage. Er bat die Beklagte um Kostenübernahme und machte auch gegenüber der AOK vorsorglich einen Ersatzanspruch geltend (Schreiben vom 29. Oktober 1974). Die LVA lehnte mit Schreiben an den Kläger vom 20. Dezember 1974 die Kostenübernahme ab. W befand sich vom 21. Oktober 1974 bis zum 21. April 1975 in der Psycho-Sozialen Klinik E.

Im April 1975 erhob der Kläger Klage gegen die LVA; die AOK wurde beigeladen. Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 12. Juli 1976 die AOK verpflichtet, dem Landkreis die Kosten für die stationäre Behandlung des W in der genannten Klinik zu erstatten. Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 24. Mai 1977). Das LSG hat einen Erstattungsanspruch gegen die Beklagte und die Beigeladene nach § 1531 RVO schon deswegen verneint, weil W gegen die beteiligten Versicherungsträger keinen Anspruch auf Leistungen gehabt habe, diese ihre Leistungen vielmehr nach ihrem Ermessen hätten gewähren können. Im übrigen könnte von der Beklagten Kostenersatz nur aus Renten, nicht aus anderen Leistungen beansprucht werden (§ 1536 RVO). Für die Entscheidung gegenüber der Beigeladenen komme es nicht auf die Art der Krankheit und die Möglichkeit der Behandlung in einem Krankenhaus oder in einer Spezialeinrichtung wie der Psycho-Sozialen Klinik E (§ 184a RVO) an; maßgebend sei vielmehr, welche Mittel eingesetzt worden seien. Hier hätten bei der Behandlung in der Klinik E nichtärztliche Behandlungsformen im Vordergrund gestanden.

Der Kläger rügt in seiner Revision eine Verletzung des § 184a RVO: Der Versicherte W habe gegen die Beigeladene als Rehabilitationsträger einen Anspruch nach § 184a RVO gehabt. Der Kläger beantragt sinngemäß, das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 24. Mai 1977 aufzuheben und die Berufung der beigeladenen AOK gegen das Urteil des Sozialgerichts Trier vom 12. Juli 1976 zurückzuweisen, hilfsweise, die beklagte LVA zu verurteilen, die Behandlungskosten für W in der Klinik E zu erstatten.

Die beigeladene AOK hält sich weiterhin nach § 184a RVO nicht für leistungszuständig und beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen, hilfsweise, die beklagte LVA zur Erstattung des vom Kläger geforderten Betrages zu verurteilen.

Die Beklagte hat sich zu der Revision nicht geäußert und auch keinen Antrag gestellt.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

 

Entscheidungsgründe

Die - zulässige - Revision des klagenden Sozialhilfeträgers ist begründet. Das Urteil des LSG muß schon deswegen aufgehoben werden, weil der Versicherte W bisher nicht zum Rechtsstreit beigeladen worden ist, obwohl er nach § 75 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) hätte beigeladen werden müssen.

In einem Ersatzstreit nach § 1531 RVO, wie ihn der Kläger gegen die beteiligten Versicherungsträger führt, macht zwar der Sozialhilfeträger einen eigenen, selbständig (originär) neben den Anspruch des Versicherten gegen einen Versicherungsträger tretenden Ersatzanspruch geltend (BSGE 21, 84, 85; SozR Nr 26 zu § 1531 RVO). Der Anspruch des Versicherten bleibt - anders als bei einer rechtsgeschäftlichen Abtretung oder bei einem gesetzlichen Forderungsübergang - trotz des vom Sozialhilfeträger erhobenen Ersatzanspruchs im Vermögen des Versicherten (BSGE 29, 249, 252). Andererseits verliert der Versicherte die Verfügungsbefugnis über seinen Anspruch, soweit daraus der Ersatzanspruch des Sozialhilfeträgers zu befriedigen ist; dieser erwirbt - ähnlich wie ein Pfändungsgläubiger nach Überweisung der Forderung - das Recht des Zugriffs auf den Anspruch des Versicherten (BSG aaO). Wegen dieser Rechtswirkungen wird die Rechtssphäre des Versicherten durch die Erhebung eines Ersatzanspruchs nach § 1531 RVO unmittelbar berührt, so daß er notwendig zu dem Rechtsstreit beizuladen ist (SozR Nr 29 zu § 1531 RVO, Bl Aa 26 Rs; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd III, S. 972i; vgl auch SozR 1500 § 55 SGG Nr 4 zur notwendigen Beiladung des Entschädigungsberechtigten in einem Zuständigkeitsstreit nach § 1735 RVO aF).

Die Unterlassung einer notwendigen Beiladung ist ein Mangel des gerichtlichen Verfahrens, den bei einer zulässigen Revision das Revisionsgericht auch ohne Rüge, dh von Amts wegen, zu beachten hat (ständige Rechtsprechung des BSG seit dem Beschluß vom 12. März 1974, SozR 1500 § 75 SGG Nr 1; vgl aaO Nr 10 und Nr 20). Da eine unterbliebene Beiladung im Revisionsverfahren nicht nachgeholt werden kann (§ 168 SGG), hat der Senat das Urteil des LSG aufgehoben und den Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückverwiesen; diese wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens mitentscheiden.

Für die neue Sachentscheidung beschränkt sich der Senat auf einige Hinweise, da nicht auszuschließen ist, daß die beteiligten Versicherungsträger ihre Zuständigkeit zur Gewährung der fraglichen Leistungen noch einmal prüfen und dabei möglicherweise zu einem positiven Ergebnis kommen werden, nachdem die Spitzenverbände der Krankenversicherungs- und der Rentenversicherungsträger, einer Anregung des Bundessozialgerichts folgend (BSGE 46, 41, 46), am 20. November 1978 eine Empfehlungsvereinbarung über die Zusammenarbeit bei der Rehabilitation Abhängigkeitskranker geschlossen haben (vgl den Abdruck in Amtliche Mitteilungen der Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz 1979, S. 204, und dazu aaO S. 216 die Übersicht über die Rechtsentwicklung und aaO S. 218 Anmerkungen zu der neuen Vereinbarung). Diese - am 1. Januar 1979 in Kraft getretene und im wesentlichen schon aus dem Gesetz zu erschließende - Vereinbarung regelt die Zuständigkeit zur Gewährung stationärer Maßnahmen ua für Alkoholabhängige, wenn Leistungen sowohl der Krankenversicherung als auch der Rentenversicherung in Betracht kommen, und zwar in der Weise, daß die Entwöhnungsbehandlung - nach Durchführung einer etwa erforderlichen Entzugs(Entgiftungs-)behandlung, die grundsätzlich dem Krankenversicherungsträger obliegt (§§ 3 und 4 Abs 2 der Vereinbarung) - bei Erfüllung der versicherungsrechtlichen und medizinischen Voraussetzungen vom Rentenversicherungsträger, sonst vom Krankenversicherungsträger gewährt wird (§§ 2 und 4 Abs 1 der Vereinbarung). Ob die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind, wird sich in der Regel ohne Schwierigkeiten klären lassen. Kann dies im Einzelfall gleichwohl einmal nicht rechtzeitig geschehen oder ist ungeklärt, ob die medizinischen Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung durch den Rentenversicherungsträger vorliegen (§ 1236 RVO und § 2 Abs 1 der Vereinbarung), so hat nach § 6 Abs 2 Nr 1 des Rehabilitationsangleichungsgesetzes vom 7. August 1974 zunächst der Rentenversicherungsträger vorläufig die Leistungen zu erbringen, wenn andernfalls die rechtzeitige Durchführung von notwendigen medizinischen Maßnahmen gefährdet wäre. Ein Eingreifen des Sozialhilfeträgers wird hiernach in aller Regel nicht mehr erforderlich werden, sofern, wie in Fällen der vorliegenden Art, überhaupt "Leistungen sowohl der Krankenversicherung als auch der Rentenversicherung in Betracht kommen" (§ 1 Abs 1 der Vereinbarung). Sollte dennoch einmal ein Sozialhilfeträger ausnahmsweise vorläufig eintreten müssen oder ist er, wie hier, vor Inkrafttreten der genannten Vereinbarung eingetreten, so dürfte dies an der - vorrangigen - Leistungszuständigkeit eines der beiden Versicherungsträger im Ergebnis nichts ändern können, zumal die Gewährung von Sozialhilfeleistungen für den Leistungsempfänger, seine unterhaltspflichtigen Angehörigen und seine Erben uU mit Ersatzverpflichtungen verbunden ist (vgl §§ 76 bis 92c BSHG). Mit dieser Auffassung wäre allerdings kaum die Annahme des LSG vereinbar, bei der Behandlung eines Alkoholkranken in einer Spezialeinrichtung wie der Klinik E, in der der beizuladende W ab 21. Oktober 1974 behandelt worden ist, bestehe "eine echte Verpflichtungskonkurrenz zwischen Sozialhilfeträger, Krankenkasse und Rentenversicherungsträger". Diese Annahme könnte auch nicht damit begründet werden, daß es sich bei den Rehabilitationsleistungen der Rentenversicherung nach §§ 1236 ff RVO und denen der Krankenversicherung nach § 184a RVO der Art nach um Ermessensleistungen handelt. Auch bei solchen Leistungen bleiben nämlich die beteiligten Versicherungsträger, wenn die Voraussetzungen für die Gewährung der Leistungen vorliegen, vor dem Sozialhilfeträger leistungszuständig (vgl § 2 Abs 2 Satz 2 BSHG). Sie müßten deshalb wohl, wenn sie bei rechtmäßiger Ausübung ihres Ermessens die Gewährung der Leistung nicht hätten verweigern können, dem Sozialhilfeträger dessen Vorleistungen erstatten, und zwar, wenn andere Rechtsgrundlagen dafür nicht feststellbar wären, nach allgemeinen Grundsätzen über die Erstattung von öffentlich-rechtlichen Leistungen, die ein unzuständiger Leistungsträger für den zuständigen erbracht hat.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656033

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