Entscheidungsstichwort (Thema)

Bewertung der MdE

 

Leitsatz (amtlich)

Die MdE, die aus einem Entschädigungsfall nach dem BVG zusammen mit der MdE infolge eines Arbeitsunfalles wenigstens die Zahl 20 erreichen muß (§ 581 Abs 3 RVO), ist jedenfalls dann nach Maßstäben der gesetzlichen Unfallversicherung zu bestimmen, wenn sie noch nicht festgestellt ist.

 

Orientierungssatz

Anwendung unterschiedlicher Maßstäbe für die Einschätzung der MdE in den Bereichen der gesetzlichen Unfallversicherung und des Versorgungsrechts und ihre Auswirkungen.

 

Normenkette

RVO § 581 Abs 3 S 3 Fassung: 1963-04-30; BVG § 30

 

Verfahrensgang

LSG Hamburg (Entscheidung vom 26.08.1980; Aktenzeichen I UBf 49/79)

SG Hamburg (Entscheidung vom 21.09.1979; Aktenzeichen 24 U 408/78)

 

Tatbestand

Mit Bescheid vom 26. September 1978 erkannte die Beklagte bei dem Kläger eine Lärmschwerhörigkeit als Berufskrankheit an, lehnte jedoch die Zahlung einer Rente ab, weil diese Krankheit lediglich eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 10 vH zur Folge habe. Das Versorgungsleiden des Klägers - weitgehende Versteifung des Mittelgelenks des verkürzten zweiten Fingers rechts -, das durch Bescheid des Versorgungsamtes Hamburg vom 18. Juli 1952 anerkannt worden war, zog die Beklagte nicht zur Stütze heran, da diese Beschädigung keine MdE um wenigstens 10 vH bedinge.

Die Klage gegen diesen Bescheid hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger eine Verletztenrente nach einer MdE um 10 vH zu gewähren. Es hat dazu ausgeführt: Die Lärmschwerhörigkeit bedinge eine MdE des Klägers um 10 vH. Auch der MdE-Grad der Kriegsverletzung betrage 10 vH. Die durch das Versorgungsleiden eingetretene MdE sei nämlich nicht, wie das SG es getan habe, nach unfallversicherungsrechtlichen Maßstäben zu beurteilen, sondern nach versorgungsrechtlichen Gesichtspunkten. Hiernach komme für die Verletzung des Zeigefingers entsprechend den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen, Ausgabe 1973, S 200, für die Versteifung eines Fingers in günstiger Stellung eine MdE von 0 bis 10 vH in Betracht. Da eine mittelgradige Funktionsbehinderung des Zeigefingers vorliege, sei eine Einschätzung der MdE auf 10 vH vorzunehmen. Allerdings sei den gehörten Sachverständigen darin zu folgen, daß für die kriegsbedingte Zeigefingerverletzung unfallversicherungsrechtlich kein Grad der Erwerbsminderung anzunehmen sei.

Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie ist der Meinung, der Unfallversicherungsträger könne aus eigener Kompetenz MdE-Bewertungen nur nach den für ihn geltenden Grundsätzen treffen. Es sei deshalb nicht angebracht, ihr aufzuerlegen, nach den Kriterien der Kriegsopferversorgung zu urteilen.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er vertritt die Auffassung, mit der Gleichstellung von Arbeitsunfällen und Entschädigungsfällen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) in § 581 Abs 3 Satz 3 Reichsversicherungsordnung (RVO) sei ausgedrückt, daß die nach den Bestimmungen des BVG für Schädigungsfolgen festgesetzte MdE Beachtung zu finden habe.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung des Gerichts durch Urteil ohne mündliche Verhandlung zugestimmt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten hat Erfolg. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Auszahlung einer Rente wegen seiner als Berufskrankheit anerkannten Lärmschwerhörigkeit, die eine MdE um 10 vH bedingt.

Eine Verletztenrente wird nur gewährt, solange infolge des Arbeitsunfalls, als solcher gilt auch eine Berufskrankheit (§ 551 Abs 1 Satz 1 RVO), die Erwerbsfähigkeit des Verletzten um wenigstens ein Fünftel gemindert ist (§ 581 Abs 1 Ziffer 2 RVO). Die Lärmschwerhörigkeit mindert die Erwerbsfähigkeit des Klägers nicht um diesen Anteil, davon hab das Bundessozialgericht (BSG) auszugehen, weil gegen die entsprechenden Feststellungen des LSG keine zulässigen und begründeten Revisionsrügen vorgebracht sind (§ 163 SGG).

Obwohl der Kläger neben der Berufskrankheit auch an Folgen einer Kriegsverletzung leidet, ist eine Verletztenrente nicht zu zahlen. Nach § 581 Abs 3 RVO ist eine Verletztenrente zu gewähren, wenn die Erwerbsfähigkeit des Verletzten infolge mehrerer Arbeitsunfälle gemindert ist und die Hundertsätze der durch die einzelnen Arbeitsunfälle verursachten Minderung zusammen wenigstens die Zahl 20 erreichen. Hierbei stehen den Arbeitsunfällen gleich ua Entschädigungsfälle nach dem BVG. Das LSG hat festgestellt, daß die Verletzung des rechten Zeigefingers bei dem Kläger einem Fingerverlust entspricht, weil eine Versteifung in günstiger Stellung vorliegt. Hierfür, so meint das LSG, sei nach versorgungsrechtlichen Gesichtspunkten eine MdE um 10 vH anzusetzen. Dies lasse sich aus den ärztlichen Stellungnahmen und den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen, Ausgabe 1973, erkennen. Auf der anderen Seite gehen die Beteiligten und das LSG übereinstimmen mit den gehörten Sachverständigen davon aus, daß für die bei dem Kläger vorliegende Fingerverletzung nach unfallversicherungsrechtlichen Maßstäben eine Erwerbsminderung meßbaren Grades nicht festgestellt werden kann. Darauf ist abzuheben.

Für die Frage, ob dem Kläger eine Teilrente aus der Unfallversicherung zusteht, ist die Einschränkung seiner Erwerbsfähigkeit nach unfallversicherungsrechtlichen Maßstäben zu beurteilen. Dies gilt sowohl hinsichtlich seiner Berufskrankheit als auch hinsichtlich seiner Kriegsbeschädigung.

In den Bereichen der gesetzlichen Unfallversicherung und des Versorgungsrechts werden unterschiedliche Maßstäbe für die Einschätzung der MdE angewendet. Obwohl für die Bemessung der MdE in diesen beiden Rechtsgebieten im allgemeinen gleiche Kriterien gelten und eine medizinisch oder rechtlich bindend fundierte Unterscheidung bei der MdE-Bemessung für beide Rechtsgebiete nicht anzuerkennen ist (vgl BSG SozR 2200 § 581 Nr 6 S 29, 30), ist dennoch zu beobachten, daß für vergleichbare Funktionsausfälle in den beiden Rechtsgebieten unterschiedliche Bewertungen als Rechtens angesehen werden (vgl dazu BSG aaO). Das hängt damit zusammen, worauf der Senat in seinem Urteil vom 31. Juli 1975 - 9 RV 354/74 - in SozR 3100 § 30 Nr 8 = BSGE 40, 120, 123 hingewiesen hat, daß die Vomhundertsätze, mit denen das Ausmaß an jeweiligen Leistungsvermögen gewichtet und gewertet wird, nicht unmittelbar realen Gegebenheiten abgelesen sind; sie gehen nicht auf Analysen des durch die entgangene Erwerbsmöglichkeit individuell oder auch typischerweise entstandenen wirtschaftlichen Schadens zurück, sondern sind abstrakte Primärannahmen und Setzungen, von denen aus auf die Erwerbsbeeinträchtigung geschlossen wird. Die Stimmigkeit der Abstufungen und Gradbezeichnungen folgt in erster Linie aus Vergleichungen aller Einzelerscheinungen innerhalb des Gesamtsystems der Schadensbewertungen. Ob diese oder jene Bewertung zutreffend ist, läßt sich, weil sie ohne Prüfung realen Erwerbsausfalls vorgenommen wird, nicht beweisen; sie kann sich aber durch Werterfahrung als realitäts- und maßstabsgerecht erweisen, nämlich dadurch, daß sie immer wiederkehrend angewendet und von Gutachter, Verwaltungsbehörden, Gerichten sowie Betroffenen anerkannt und akzeptiert wird. Sie werden in der Unfallversicherung als von der Rechtsprechung sowie von dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeitete allgemeine "Erfahrungssätze" bezeichnet (BSG SozR 2200 § 581 Nr 5 = BSGE 41 S 99). Daß diese allgemeinen "Erfahrungssätze" in der gesetzlichen Unfallversicherung und dem Versorgungsrecht dennoch nicht in allen Punkten übereinstimmen, ist bekannt und wird hingenommen (vgl dazu BSG SozR 2200 § 581 Nr 6 und Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen, Ausgabe 1973, lfd Nr 14 Abs 3).

Dem LSG ist auch darin zuzustimmen, daß die Beklagte kraft eigenen Rechts befugt ist, in eine Nachprüfung darüber einzutreten, welche MdE das Versorgungsleiden des Klägers im Zeitpunkt der Feststellung der Verletztenrente noch zur Folge hatte (BSG Urteil vom 7. März 1969 - 2 RU 121/66 - = SozR Nr 5 zu § 581 RVO, BSG Urteil vom 7. März 1969 - 2 RU 53/67 - und BSG Urteil vom 30. Juli 1968 - 2 RU 79/67 -).

Es kann dahinstehen, ob der Träger der Unfallversicherung dann, wenn der Grad der MdE bereits in einem Versorgungsbescheid unanfechtbar bestimmt ist und aufgrund dessen eine Rente gezahlt wird, eine eigenständige Überprüfung nicht mehr vornehmen darf (vgl BSG SozR 2200 § 581 Nr 14 und dazu die ablehnende Besprechung von Friedrich in SozVers 1981, S 317, 318; ferner Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung einschl des Sozialgesetzbuches, 9. Aufl, Band 2, S 571). Im Falle des Klägers hat das Versorgungsamt die Höhe der Erwerbsminderung nicht festgestellt. Schon aus diesem Grunde kann eine Bindung der Beklagten nicht eingetreten sein.

Die Beklagte hat mit Recht die Auswirkungen des versehrten rechten Zeigefingers des Klägers auf seine Erwerbsfähigkeit nach unfallversicherungsrechtlichen Maßstäben geprüft. Der gegenteiligen Ansicht des LSG vermag sich der Senat nicht anzuschließen. Es ist zwar richtig, daß für die Addition der MdE-Zahlen, die in § 581 Abs 3 Satz 1 RVO vorgeschrieben ist, es mathematisch ausreicht, wenn für jede Gesundheitsstörung eine einheitliche Recheneinheit, nämlich ein MdE-Grad, festgestellt worden ist. Diese Überlegung erscheint jedoch zu vordergründig und gibt sich mit dem numerischen Ergebnis zufrieden. Das BSG hat bereits in dem vom LSG zitierten Urteil vom 7. März 1969 - 2 RU 53/67 - zu bedenken gegeben, ob nicht der Umstand, daß § 581 Abs 3 Satz 1 RVO eine aus der Addition mehrerer Gesundheitsstörungen folgende "Gesamt-MdE" (wenigstens 20 vH) vorsieht, zu deren Errechnung die Anwendung einheitlicher Maßstäbe erfordern könnte. Das ist zu bejahen. Insbesondere wird dadurch nicht, wie das LSG meint, die Gleichstellung von Entschädigungsfällen mit Arbeitsunfällen wieder aufgehoben. Im Gegenteil, die Gleichstellung bezieht sich dann nicht mehr nur auf ein vordergründiges Zahlenwerk sondern auf den materiellen Inhalt. Der kriegsbeschädigte Kläger wird genau so gestellt, als sei die Verletzung seines Zeigefingers durch einen Arbeitsunfall hervorgerufen worden. Er steht damit einem Verletzten gleich. Eine Besserstellung, wie sie uU eine Schätzung der MdE nach Versorgungsgrundsätzen ermöglicht, wird ihm allerdings verwehrt. Für eine Besserstellung gibt das Gesetz in § 581 Abs 3 RVO keinen Hinweis. Dafür fehlt es auch an einem sachlichen Grunde.

Dieser Auslegung kann nicht mit dem Einwand begegnet werden, sie sei unpraktikabel. Das Gegenteil ist der Fall. Die Beklagte weist zu Recht darauf hin, daß die Unfallversicherungsträger mit Kompetenz eine MdE-Einschätzung nur nach den in ihrem Bereich geltenden Maßstäben treffen können. In diesem Bereich mit einer nicht geringen Anzahl von "Erfahrungswerten" vermögen die Unfallversicherungsträger in gewissem Umfang eine Gleichbehandlung gleicher Schadensfälle zu gewährleisten. Müßten sie darüberhinaus auch die Bewertungssätze aus dem Bereich des BVG, des Beamtenrechts und der anderen in § 581 Abs 3 RVO genannten Gesetze berücksichtigen, so würde die Verwaltungsarbeit erschwert.

Diese Auffassung hat ihre Parallele in der Lösung, die im Gesetz zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft (Schwerbehindertengesetz -SchwbG-) in § 3 Abs 1 und 2 gefunden worden ist. Dort stellen die für die Durchführung des BVG zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad einer auf ihr beruhenden MdE fest. Eine derartige Feststellung ist jedoch nicht zu treffen, wenn eine Feststellung über das Vorliegen einer Behinderung und den Grad einer auf ihr beruhenden MdE schon ua in einem Rentenbescheid getroffen worden ist, es sei denn, daß der Behinderte ein Interesse an anderweitiger Feststellung durch die zuständigen Behörden nach dem BVG glaubhaft macht. Dann erfolgt eben die Feststellung wieder durch die Versorgungsbehörden nach den von ihnen üblicherweise angewandten Anhaltspunkten für die ärztliche Begutachtung Behinderter. Hier ist allerdings anzumerken, daß § 3 Abs 3 SchwbG vorschreibt, bei mehreren Behinderungen sei der Grad der MdE durch die Beurteilung der Behinderungen in ihrer Gesamtheit festzustellen (vgl BSGE 48, 82, 84 ff). Nach dem Schwerbehindertengesetz ist also eine einzige Gesamt-MdE für die durch mehrere Behinderungen verursachte Erwerbsbeschränkung zu ermitteln. In § 581 Abs 3 RVO ist jedoch eine Addition der Hundertsätze der MdE aus den nebeneinander zu bewertenden Schadensfällen vorgesehen, die eben nicht zu einer einheitlichen Gesamtbewertung der Erwerbsminderung führen sollen, sondern nebeneinander bestehen bleiben und uU mehrere getrennte Rentenansprüche auslösen. Es ist deshalb nicht ganz korrekt, wenn auch diese "Additions-" oder "Summen"-MdE als "Gesamt-MdE" bezeichnet wird (vgl zB BSG Urteil vom 7. März 1969 - 2 RU 53/67 -).

Auf die Revision der Beklagten war die Berufung des Klägers gegen das klagabweisende Urteil zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Breith. 1982, 954

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