Leitsatz (amtlich)

1. Wird zugunsten des Berechtigten wegen besonderer beruflicher Betroffenheit (BVG § 30 Abs 2) ein neuer Bescheid erteilt (KOV-VfG § 40 Abs 1), so ist die Versorgungsverwaltung nicht befugt, den vorher wegen der Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben festgesetzten Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (BVG § 30 Abs 1) deshalb neu zu bewerten, weil sie diesen für überhöht hält, es sei denn, es wäre ein Fall des KOV-VfG § 41 oder des BVG § 62 gegeben (Fortführung von BSG 1965-04-28 9 RV 470/62 = BVBl 1966, 6; vergleiche auch BSG 1970-10-14 10 RV 807/69, insoweit in SozR Nr 46 zu § 30 BVG nicht abgedruckt).

2. Zur normativen Geltung und Bewährung von Hundertsätzen der Minderung der Erwerbsfähigkeit gemäß einer anerkannten Verwaltungsübung.

 

Normenkette

BVG § 30 Abs. 2; KOVVfG § 40 Abs. 1; BVG § 30 Abs. 1; KOVVfG § 24

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 14. September 1973 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Formel dieses Urteils wie folgt zu lauten hat:

Der Beklagte wird verpflichtet, wegen der Höherbewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit gemäß § 30 Abs. 2 Bundesversorgungsgesetz für die Zeit vom 1. November 1963 bis 31. Januar 1965 einen neuen Bescheid zu erteilen.

Der Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

In dem Umanerkennungsbescheid vom 18. April 1951 stellte die Versorgungsverwaltung - entsprechend älteren vorangegangenen Verwaltungsentscheidungen - als Folgen einer Schädigung des Klägers den Verlust des rechten Beines im Unterschenkel sowie reizlose Granatsplitternarben am rechten und linken Oberschenkel mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v.H. fest. Bei dieser Einschätzung der MdE blieb es, als die Verwaltungsvorschriften - hier: Nr 4 - zu § 30 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) über die Mindesthundertsätze für Körperschäden am 23. Januar 1965 (Bundesanzeiger Nr 19 vom 29. Januar 1965 = BVBl 1965, 14/7) neu gefaßt und ua dahin geändert wurden, daß für den Verlust eines Unterschenkels bei genügender Funktionstüchtigkeit des Stumpfes und der Gelenke der Minimalsatz von 40 auf 50 v.H. angehoben wurde.

Im November 1967 beantragt der Kläger, die MdE höher zu bewerten, weil er seinen angestrebten Beruf als selbständiger Landwirt nicht ausüben könne. - Der Kläger hatte nach dem Kriege bei der Deutschen Bundespost die Tätigkeit eines Briefzustellers und Postfacharbeiters aufgenommen. - Die von dem Versorgungsamt (VersorgA) eingeholten ärztlichen Stellungnahmen, vornehmlich die des - auch früher schon hinzugezogenen - Chirurgen Dr R, ergaben, daß die Schädigungsfolgen unverändert seien und daß die dadurch hervorgerufene Beeinträchtigung des Klägers im allgemeinen Erwerbsleben (§ 30 Abs. 1 Satz 1 BVG) mit einer Einbuße von 50 % richtig bemessen, für die Zeit vor Inkrafttreten der neuen Verwaltungsvorschrift Nr 4 zu § 30 BVG, also vor dem 1. Februar 1965, aber mit einer MdE von nur 40 % zu bewerten gewesen wäre. - Mit Rücksicht auf ein besonderes berufliches Betroffensein (§ 30 Abs. 2 BVG) gewährte das VersorgA Heide dem Kläger mit Wirkung vom 1. Februar 1965 Versorgungsrente nach einer MdE von 60 v.H. (Bescheid vom 25. Februar 1969). Mit seinem Widerspruch verlangte der Kläger, daß die Rentenerhöhung um vier Jahre, vom Antragsmonat an zurückgerechnet, vorverlegt werde. Der Widerspruch wurde zurückgewiesen (Bescheid vom 10. November 1969) mit der Begründung, für die Zeit vor dem 1. Februar 1965 sei die MdE mit 50 v.H. zu hoch festgesetzt gewesen; sie lasse sich rückblickend nur im Hinblick auf eine spezifische berufliche Behinderung des Klägers rechtfertigen.

Der Klage, die nach ihrer Antragsfassung darauf gerichtet war, den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger Versorgungsbezüge nach einer MdE um 60 v.H. auch für die Zeit vom 1. November 1963 bis 31. Januar 1965 zu gewähren, hat das Sozialgericht (SG) stattgegeben (Urteil des SG Schleswig vom 14. September 1973). Seines Erachtens war es ein Ermessensfehlgebrauch, daß der Beklagte die Aufstockung des Grades der Erwerbsbeschränkung auf 60 % erst von Februar 1965 an gelten ließ. Die vorhergehende Festsetzung auf 50 v.H. habe sich - so das SG - erkennbar lediglich auf die Beeinträchtigung des Klägers im allgemeinen Erwerbsleben (§ 30 Abs. 1 BVG) bezogen. Diese Festsetzung sei in dem Umanerkennungsbescheid von 1951 bindend ausgesprochen worden. Für eine Unrichtigkeit dieses Bescheides, die außer Zweifel stehen müßte (§ 41 Abs. 1 Satz 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes - VerwVG -), sei nichts dargetan. Infolgedessen sei davon bei der zusätzlichen Beachtung einer Berufsbelastung auszugehen gewesen. Hinzu komme, daß die in Hundertteilen der Erwerbsfähigkeit ausgedrückte Schädigungsfolge sich nur nicht an denjenigen Mindestwert gehalten habe, der den älteren Verwaltungsvorschriften zu entnehmen gewesen sei. Vielmehr sei die höhere Einstufung gestattet und in einem Falle wie dem des Klägers sogar damals richtig gewesen. Dies zeige die spätere generelle Neubewertung eines Befundes, wie er beim Kläger vorliege. - Das SG hat die Berufung zugelassen.

Der Beklagte hat mit Einwilligung des Klägers Sprungrevision eingelegt. Er meint, von einer fehlerhaften Ermessensentscheidung - und um die Ausübung des Ermessens handele es sich hier - könne keine Rede sein, weil die Bemessung des herabgesetzten Leistungsvermögens für die fragliche Zeit mit 50 % richtig sei. An dieser Entscheidung werde nicht gerüttelt. Jedenfalls sei der früheren Verwaltungsentscheidung nicht ausdrücklich zu entnehmen, daß sie bloß für den Versehrtheitsgrad in bezug auf das allgemeine Erwerbsleben getroffen worden sei; vielmehr sei der Gesamtschaden einheitlich nach dem seinerzeit geltenden § 30 Abs. 1 BVG beurteilt worden. Die Erwägungen, die dem Bescheid von 1951 zugrunde gelegen hätten, seien überdies nicht in Bindung erwachsen. Davon abgesehen, gehe aus den Verwaltungsakten auch nicht hervor, ob und welche Überlegungen zur beruflichen Betroffenheit damals angestellt worden seien.

Der Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen, eventuell hierbei das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 14. September 1973 dahin neuzufassen, daß der Beklagte zur Erteilung eines neuen Bescheides über die Rückwirkung der Zugunstenregelung (Bescheid des Versorgungsamtes Heide vom 25. Februar 1969 und Widerspruchsbescheid vom 10. November 1969) verpflichtet ist.

Er sieht in der Haltung der Versorgungsverwaltung, welche im nachhinein den Versehrtheitsgrad für die Zeit bis zum 31. Januar 1965 mit 50 % als zu hoch veranschlagt halte, eine unzulässige Umdeutung des Umanerkennungsbescheides. Im übrigen habe die Einschätzung, welche der Körperschaden des Klägers (Verlust eines Beines im Bereich des Unterschenkels bei genügender Funktionstüchtigkeit des Stumpfes und der Gelenke) im Umanerkennungsbescheid erfahren habe, einer damals weitverbreiteten Verwaltungspraxis entsprochen.

II

Die Sprungrevision ist zulässig. Dafür setzt § 161 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in der bis zum 31. Dezember 1974 geltenden Fassung (Art. III, VI des Änderungsgesetzes vom 30. Juli 1974, BGBl I 1625) voraus, daß das erstinstanzliche Urteil nach § 150 SGG mit der Berufung anfechtbar war. So ist es hier. Das SG hat die Berufung zugelassen (§ 150 Nr 1 SGG aF). Auf diese Zulassung kam es an, weil das Rechtsmittel an sich ausgeschlossen war; dies deshalb, weil das Streitobjekt, über welches in diesem Rechtsstreit aufgrund der getroffenen Zugunstenregelung (§ 40 Abs. 1 VerwVG) zu befinden ist, lediglich den Grad der Erwerbsfähigkeit betrifft, ohne daß hiervon die Schwerbeschädigteneigenschaft abhängig wäre (§ 148 Nr 3 SGG; zur Statthaftigkeit der Berufung in Fällen eines Zugunstenbescheides: BSG SozR Nr 34 zu § 148 SGG; Urteil vom 21. Mai 1974 - 10 RV 441/73 -). Im übrigen geht es auch nur um Versorgung für eine abgelaufene Zeit (§ 148 Nr 2 SGG).

In der Sache selbst ist die Revision unbegründet.

Strittig ist, ob die Erwerbsfähigkeit des Klägers, die unter Beachtung seiner besonderen beruflichen Betroffenheit (§ 30 Abs. 2 BVG) seit Februar 1965 als um 60 v.H. gemindert gilt, entgegen älteren Verwaltungsentscheidungen auch schon für die Zeit vorher als um diesen Grad herabgesetzt anzusehen ist. Rechtsgrundlage für die Beantwortung dieser Frage ist § 40 Abs. 1 VerwVG. Danach "kann" die Verwaltungsbehörde zugunsten des Berechtigten jederzeit einen neuen Bescheid erteilen. Sie hat ihn zu erteilen, wenn ältere Entscheidungen tatsächlich und rechtlich unrichtig gewesen sind (BSG 29, 278, 282). Von diesem Tatbestand ist die Versorgungsverwaltung ausgegangen. Ihrem neuen Verwaltungsakt hat sie jedoch eine nur begrenzte, auf zwei Jahre und neun Monate bemessene Rückwirkung, verliehen; im übrigen hat sie es bei der früher auf 50 v.H. bemessenen Einbuße an Erwerbsfähigkeit bewenden lassen.

Darüber, ob und inwieweit einer günstigeren Regelung gemäß § 40 Abs. 1 VerwVG Bedeutung für die Vergangenheit beizumessen ist, sagt das Gesetz ausdrücklich nichts aus (BSG 26, 146, 150; Urteil vom 23. Mai 1969 - 10 RV 846/67 = BVBl 69, 129). Der Wille des Gesetzes ist infolgedessen seinem Sinn und Zweck zu entnehmen. Daraus folgt, daß ein berichtigender Bescheid nicht schlechthin "an die Stelle" der früher getroffenen Entscheidung tritt und nicht einfach diese für die ganze Zeit ihrer Wirksamkeit ersetzt. Vielmehr hat die neue Regelung einen Ausgleich zu finden in dem Konflikt zwischen der Rechtssicherheit und der materiellen Gerechtigkeit: Die Bindungswirkung unanfechtbar gewordener Entscheidungen hat nicht in vollem zeitlichen Umfang hinter dem materiell-rechtlich Richtigen zurückzuweichen (BSG 26, 150 f; Urteil vom 21. März 1969 - 9 RV 476/67 -). Die angemessene Lösung, von wann an die Berichtigung eintreten soll, ist dem pflichtgemäßen Ermessen der Verwaltungsbehörde überlassen (BSG 26, 149 f; Urteil vom 21. März 1969; SozR Nr 133 zu § 54 SGG). Der Respekt vor der Bindungs- und Rechtskraftswirkung vorangegangener Entscheidungen legt es sogar nahe, die Neugestaltung des Versorgungsrechtsverhältnisses auf Gegenwart und Zukunft zu beschränken. Als Zeitpunkt der Änderung des früheren Bescheides wäre also der Beginn des Monats zu wählen, in dem die Erteilung des günstigeren Bescheides beantragt oder eingeleitet worden ist (Verwaltungsvorschrift - VV - Nr 8 zu § 40 VerwVG; BSG 26, 153; Urteil vom 23. Mai 1969). Diese Auffassung erscheint umso eher angebracht, als die Rechtsordnung weitgehend von der Erwägung beherrscht ist, daß "in der Vergangenheit nicht gelebt wird" (BSG 26. September 1968 - 8 RV 473/67 = BVBl 69, 66). Indessen hat sich die Verwaltungspraxis nicht streng an diese Richtschnur gehalten, sondern den Berechtigten die verbesserte Rechtsposition ganz allgemein für eine Zeit von vier Jahren vor dem Berichtigungsantrag zugestanden (vgl. BSG Urteil vom 26. September 1968 aaO; s.a. Urteil vom 23. Mai 1969 BVBl 69, 129, 130; Erlaß des Ministers für Arbeit, Soziales und Vertriebene des Landes Schleswig-Holstein vom 16. Januar 1968; IX 27a - 05/60 (AH) -). Hat man von einer solchen - ständigen - Übung auszugehen, so hat die Verwaltung dadurch aufgrund des Gleichheitssatzes ihr Ermessen eingeengt; sie hat sich zu gleicher Behandlung in vergleichbaren Sachverhalten selbst gebunden (grundlegend BVerwG 15, 196, 202 f; BSG 27, 54, 57; 31, 258, 262; 29, 246, 248; Urteil vom 30. Januar 1969 - 8 RV 467/68 = KOV 1969, 127 (L); 8. Oktober 1969 - 9 RV 164/69 -).

Die Begründung, aus der heraus die Verwaltungsbehörde den Kläger gleichwohl nicht in den vollen Genuß des zeitlichen Entgegenkommens gelangen ließ, ist darauf zu prüfen, ob sie die gesetzlichen Grenzen ihres Ermessens überschritten oder ob sie von dem Ermessen einen zweckwidrigen Gebrauch gemacht hat (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG). Die Versorgungsverwaltung lehnt die weiter zurückwirkende Anhebung des Grades der MdE ab, weil der Kläger in der fraglichen Zeit (November 1963 bis Januar 1965) "das bekommen" habe, "was das BVG ihm zubilligte". Die seinerzeit mit 50 v.H. angesetzte Beeinträchtigung des Leistungsvermögens sei auch aus heutiger Sicht "nicht unrichtig". Denn damals (1951) sei eine Gesamt-MdE allein nach § 30 Abs. 1 BVG zu bestimmen gewesen. Denkbarerweise - wenn auch aus dem Inhalt der Akten nicht nachweisbar - sei damals in die Beurteilung die berufliche Betroffenheit des Klägers miteingeflossen. Infolgedessen sei es nicht von Belang, daß die mangelnde Befähigung des Klägers zur Arbeit im allgemeinen Erwerbsleben, also ungeachtet spezifisch beruflicher Belastung, nach den VV'en zunächst auf 40 und nicht auf 50 % zu veranschlagen gewesen sei. Demgegenüber hat das SG festgestellt, daß für die anfänglich angenommene MdE des Klägers in Höhe von 50 v.H. sein Beruf, nämlich der eines Landwirts, keine Rolle gespielt habe. An diese Tatsachenfeststellung ist der Senat gebunden, da gegen sie keine zulässigen und begründeten Revisionsrügen vorgebracht worden sind (§ 163 SGG). Für die rechtliche Beurteilung in diesem Rechtszuge ist somit maßgebend, daß die wehrdienstbedingte generelle Erwerbseinbuße des Klägers schon vor 1965 mit einem Vomhundertsatz von 50 % bewertet worden war. Eine solche Einschätzung war nicht ungewöhnlich. Nach einer versorgungsärztlichen Statistik, die in den Ländern Bremen, Bayern, Hamburg, Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen aufbereitet und von dem Bundesminister für Arbeit und Soziales im Jahre 1962 in einem anderen sozialgerichtlichen Verfahren (SG Gelsenkirchen, S 4 V 122/60) mitgeteilt worden ist, betrug für eine Unterschenkelamputation in 26.940 von insgesamt 28.061 Fällen, das sind 96,01 v.H., die MdE 50 % und mehr. Nur in 3,99 v.H. der Fälle rechnete man also mit einer MdE bis zu 40 %. Dabei wurde allerdings nicht unterschieden, in welchem Ausmaß Stumpf und Gelenke funktionsbehindert waren. Sicher aber macht die Zahl derjenigen, bei denen der Teilverlust eines Beines mit genügender Funktionstüchtigkeit verbunden war, erheblich mehr als 3,99 % aller einseitig Unterschenkelamputierten aus. Dafür spricht ua, daß der Prozentsatz der Fälle mit einer MdE von 50 v.H. in den einzelnen Ländern differiert. In Hamburg erreichte er 99,14, in Westfalen 97,65, in Bayern 97,02 v.H., dagegen in Schleswig-Holstein bloß 82,30 v.H. Hier war also für eine Unterschenkelamputation die MdE bis zu 40 % mit einem Anteil von 17,70 v.H. vertreten. Hinzu kommt, daß auch in diesem Anteil die Fälle guter Stumpf- und Gelenkverhältnisse nicht restlos erfaßt gewesen sein dürften, wie gerade das Beispiel des Klägers zeigt. Im übrigen käme es hier, bei der Anwendung von Bundesrecht, auf das durchschnittliche Entscheidungsverhalten in einem einzelnen Land nicht an. Dem Kläger ist also darin beizupflichten, daß in der Praxis schon vor 1965 für den erwähnten Körperschaden, auch wenn Komplikationen und berufliche Besonderheiten nicht in Rechnung zu stellen waren, der Hundertsatz der MdE überwiegend abweichend von den damals geltenden allgemeinen Verwaltungsvorschriften (zu deren Rechtsnormqualität: BSG 29, 41 = SozR Nr 35 zu § 30 BVG) und Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen bestimmt wurde. In bezug auf den bezeichneten Schaden war ein höherer Grad der MdE wohl schon länger für sachlich angemessen und gerechtfertigt gehalten worden. Mit der dementsprechenden Änderung der VV im Jahre 1965 wurde diese Ansicht als zutreffend bestätigt.

Diese Entwicklung ist bedeutungsvoll. Die Vomhundertsätze, mit denen das Ausmaß an jeweiligem Leistungsunvermögen "gewichtet" und bewertet wird, sind nicht unmittelbar realen Gegebenheiten abgelesen; sie gehen nicht auf Analysen des durch die entgangene Erwerbsmöglichkeit individuell oder auch typischerweise entstandenen wirtschaftlichen Schadens zurück, sondern sind abstrakte Primärannahmen und Setzungen, von denen aus auf die Erwerbsbeeinträchtigung geschlossen wird (ua BSG 33, 151, 153; 6, 267; SozR Nr 42 zu § 30 BVG; dazu auch Wilke/Wunderlich, BVG, 4. Aufl. 1973 Anm. I zu § 30 BVG S. 267 f; Gitter, Schadensausgleich im Arbeitsunfallrecht 1969, S. 159 ff. m.N.). Die Stimmigkeit der Abstufungen und Gradbezeichnungen folgt in erster Linie aus Vergleichungen aller Einzelerscheinungen innerhalb des Gesamtsystems der Schadensbewertungen. Ob diese oder jene Bewertung zutreffend ist, läßt sich, weil sie ohne Prüfung realen Erwerbsausfalls vorgenommen wird, nicht beweisen; sie kann sich aber durch Werterfahrung als realitäts- und maßstabsgerecht erweisen, nämlich dadurch, daß sie immer wiederkehrend angewendet und von Gutachtern, Verwaltungsbehörden, Gerichten sowie Betroffenen anerkannt und akzeptiert wird. Besteht sie diese Bewährungsprobe nicht, indem man zunehmend und durchgehend häufiger einen anderen Maßstab verwendet und für richtig hält, so kann ein solcher Gebrauch, wenn er sich konkretisiert und verdichtet, zu einer neuen, die geschriebene Direktive verdrängenden Norm führen.

An der neuen Auffassung, die sich in Fällen wie dem des Klägers in der Gutachtererfahrung gebildet hat und die schließlich als Regel aufgestellt worden ist, darf die Versorgungsverwaltung zumal dann, wenn sie diese Auffassung in der konkreten Sache sich zu eigen gemacht hat, bei der später von ihr zu treffenden Ermessensentschließung nicht vorbeigehen. Dafür ist erheblich, daß gegenüber dem Kläger die einschlägige Schädigungsfolge mit einer MdE von 50 v.H. rechtsverbindlich eingeschätzt worden war. Von einer solchen Einschätzung darf die Behörde nachher im Zusammenhang mit der jetzt zu treffenden Entschließung über die Rückwirkung des Zugunstenbescheides nicht abrücken, es sei denn, die Voraussetzungen des § 41 oder des § 62 BVG wären erfüllt (BSG Urteil vom 28. April 1965 - 9 RV 470/62 = BVBl 66, 6, 7). Folgte man dagegen der Auffassung des Beklagten, dann erlaubt man der Verwaltung, einen Bescheid noch nach Eintritt seiner Bindungswirkung mit neuen Argumenten zu rechtfertigen; durch ein solches "Nachschieben von Gründen" könnte aber in einem Falle wie diesem der § 41 VerwVG über die Berichtigung zweifelsfrei falscher Verwaltungsakte umgangen werden (BSG 14. Oktober 1970 - 10 RV 807/69, insoweit in SozR Nr 46 zu § 30 BVG nicht abgedruckt -; vgl. auch Bayerisches LSG in BayAMBl 1969, B 39, 40). Hier ergibt sich die Entscheidung noch aus einem anderen, dem § 40 Abs. 1 VerwVG zu entnehmenden Grunde. Die Verwaltung darf sich zu dem Normverständnis, das sie durch die älteren Bescheide zu erkennen gegeben hat, nicht in Widerspruch setzen. Die der Behörde mit § 40 Abs. 1 VerwVG verliehene Ermächtigung zur Neuregelung des Versorgungsverhältnisses dient - wie oben ausgeführt - der Absicht, in dem Widerstreit zwischen der Bindung an vorangegangene Entscheidungen und der Verwirklichung objektiven Rechts zu vermitteln. Es wird aber nicht das Ziel verfolgt, der Behörde freie Hand für den Fall zu lassen, daß sie an einer früher von ihr befolgten, zudem weit verbreiteten und keineswegs als falsch erkannten Rechtshandhabung nicht länger festhalten will. Als eine dieser Art gewandelte Rechtsansicht erscheint aber die Argumentation, nach welcher die Versorgungsverwaltung ihre hier angefochtene Entschließung begründet hat. Ihr Ermessen bezöge sich insoweit nicht auf ihr gegenwärtiges Tun, im besonderen nicht auf die von ihr anzuordnende Rechtsfolge, sondern auf die Deutung dessen, was ihres jetzigen Erachtens früher Rechtens war. Die Behörde möchte Bedenken nachgeben, die ihr im nachhinein gegen ihre eigene frühere Normauslegung und -anwendung gekommen sind. Hier war also nicht ein Gestaltungsermessen im Spiel, von dem § 40 VerwVG handelt, sondern ein Beurteilungs- oder Kognitionsermessen. Damit hat sich die Behörde außerhalb des Bereichs begeben, den das Gesetz ihrem Ermessen abgesteckt hat. Zugleich stellt sich ihr Entscheidungsverhalten als Ermessensfehlgebrauch dar. Ungleiches wird ohne zureichenden Anlaß gleichbehandelt. Der Kläger wird auf eine Stufe mit ungezählten anderen gestellt, die zwar gleich ihm ein Bein im Unterschenkel verloren haben, aber nicht wie er zusätzlich in ihrer beruflichen Eigenart betroffen sind. Der höheren Einstufung in bezug auf seine MdE durfte mithin nicht aus dem angeführten Grunde die Rückwirkung um vier Jahre versagt werden. Hiernach erweist sich das vorinstanzliche Urteil im Ergebnis als zutreffend. Bedenken erweckt jedoch der Tenor dieser Entscheidung. Er lautet auf "Verurteilung" des Beklagten, dem Kläger auch für die strittige Zeit "Versorgungsbezüge nach einer MdE von 60 v.H. zu gewähren". Damit ist - jedenfalls dem Anschein nach - der Typ des Leistungsurteils gewählt. Die entsprechende Klageart (§ 54 Abs. 4 SGG) steht dem Kläger aber regelmäßig für die Durchsetzung einer Kann-Leistung, über welche die Versorgungsverwaltung nach ihrem Ermessen zu befinden hat, nicht zur Verfügung. Der Ausnahmefall, daß das Verwaltungsermessen fehlerfrei nur (noch) in einer einzigen Richtung ausgeübt werden könnte (BSG 30, 144, 150), ist nicht dargetan. Allerdings hat der Beklagte auch nicht angedeutet, daß er für seine Ermessensentschließung andere Gründe als den vorgebrachten geltend machen könnte und wollte. Die von der Sache her angebrachte Klage ist die Verpflichtungsklage (BSG 7, 46, 50 = SozR Nr 32 zu § 54 SGG; SozR Nrn 42 und 133 zu § 54 SGG). Das Urteil hat also dahin zu lauten, daß der Kläger erneut zu bescheiden ist (§ 131 Abs. 2 SGG). Die Formel des erstinstanzlichen Urteils ist neuzufassen . Dieser Neufassung liegt keine Klageänderung zugrunde, die in der Revisionsinstanz nicht gestattet wäre (§ 168 SGG). Es wird bloß verwirklicht, was von Anfang an tatsächlich gewollt war. Der Kläger hat - wie auch Tatbestand und Gründe des vorinstanzlichen Urteils ausweisen - immer nur den Standpunkt verfochten, daß die Versorgungsbehörde ihr Ermessen fehlerhaft ausgeübt habe und insoweit zu einer gewandelten Einstellung angehalten werden solle. Es ging ihm mithin um eine Verpflichtung der Verwaltung zur Neubescheidung, nicht um die direkte Verurteilung aufgrund eines Rechtsanspruchs. In diesem Sinne kann die Urteilsfassung auch noch in der Revisionsinstanz berichtigt werden, ohne daß damit das Verbot der Klageänderung (§ 168 SGG) mißachtet würde (vgl. BVerwG, DÖV 1962, 754; BVerwG 30, 46; 34, 353; VGH Bad.-Württ. ESVGH 18, 223, 224 ff.; ferner auch BSG 8, 178, 180).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1650952

BSGE, 120

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