Entscheidungsstichwort (Thema)

Unterschiedliche Ausbildungsgänge in den Bundesländern. Hochschulausbildung als Ausfallzeit

 

Leitsatz (amtlich)

Eine Hochschulausbildung ist Ausfallzeit nur bis zu dem Abschluß, der den Weg in das Berufsleben eröffnet, auch wenn die Berufsausübung in anderen Bundesländern ein Zusatzstudium erfordert.

 

Orientierungssatz

Stehen zur Erreichung des Berufswunsches mehrere Ausbildungsgänge zur Verfügung, so ist allein die tatsächlich gewählte Ausbildung maßgebend. Es kann nicht je zugunsten des Versicherten teils auf den gewählten und teils auf den hypothetischen Ausbildungsgang abgestellt werden. Die Praktizierung des föderalistischen Prinzips auf dem Gebiete des Bildungswesens kann keine Ausnahme rechtfertigen.

 

Normenkette

AVG § 36 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b; RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 23.05.1984; Aktenzeichen L 4 An 22/84)

SG Itzehoe (Entscheidung vom 12.12.1983; Aktenzeichen S 3 An 45/83)

 

Tatbestand

Streitig ist, ob ein nach der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Volks- und Realschulen begonnenes zweisemestriges Studium zur Erlangung der Lehrbefähigung in einem zweiten Fach als Ausfallzeit vorzumerken ist.

Die in Schleswig-Holstein wohnende Klägerin begann im Oktober 1971 ihr Studium mit dem Ziel, Realschullehrerin in Schleswig-Holstein zu werden, wegen der günstigen Verkehrsverbindungen an der Universität Hamburg. Nach einer Studiendauer von sechs Semestern bestand sie im Januar 1975 die Erste Staatsprüfung für das Lehramt an Volks- und Realschulen in Hamburg "mit Auszeichnung", wobei die beiden Fächer Erziehungswissenschaft und Mathematik jeweils mit "sehr gut" bewertet wurden. Da für den Eintritt in das Lehramt an Realschulen in Schleswig-Holstein das Studium in einem weiteren wissenschaftlichen Fach erforderlich war, setzte sie ihr Studium an der Universität Hamburg während der hier streitigen zwei weiteren Semester im Fach Sozialkunde fort. Hierüber legte sie im Februar 1976 eine Zusatzprüfung ebenfalls "mit Auszeichnung" ab. Nach Ablegung der Zweiten Staatsprüfung ist die Klägerin seit September 1977 als Realschullehrerin im Angestelltenverhältnis in Schleswig-Holstein beschäftigt. Nach einer Bescheinigung des Prüfungsamts für Lehrer beim Landesschulamt in Schleswig-Holstein vom 2. Januar 1978 wurde ihre Prüfung im Fach Mathematik "als erste Teilprüfung" und die Prüfung im Zusatzfach Sozialkunde "als zweite Teilprüfung" für das Lehramt an Realschulen in Schleswig-Holstein anerkannt.

Die Beklagte beschränkte die Vormerkung der Hochschulausbildung auf die Zeit bis zur Ablegung der Ersten Staatsprüfung in Hamburg am 9. Januar 1975; die Zeit vom 10. Januar 1975 bis zum 19. Februar 1976 könne nicht als Ausfallzeit anerkannt werden, weil die Ausbildung keine Lehrzeit, Schul-, Fachschul- oder Hochschulausbildung iS des § 36 Abs 1 Nr 4 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) sei (Bescheid vom 13. Januar 1983). Den auf Vormerkung der weiteren Hochschulausbildung vom 9. Januar 1975 bis zum 16. Februar 1976 gerichteten Widerspruch hat die Beklagte als Klage an das Sozialgericht (SG) weitergeleitet. Die Klage hatte in beiden Vorinstanzen Erfolg (Urteil des SG vom 12. Dezember 1983; Urteil des Landessozialgerichts -LSG- vom 23. Mai 1984). Das LSG sah die Voraussetzungen einer Ausfallzeit nach § 36 Abs 1 Nr 4 Buchst b des AVG als erfüllt an, da die Klägerin für ihren Berufswunsch, in Schleswig-Holstein Realschullehrerin zu werden, das umstrittene zusätzliche Studium benötigt habe. Die vom Bundessozialgericht (BSG) wegen des wahlweise entweder durch Staatsprüfung oder Promotion möglichen Studienabschlusses vorgenommene Einschränkung, daß der "erste mögliche Abschluß" die anrechnungsfähige Ausfallzeit beende (Hinweis auf BSGE 20, 35), betreffe den vorliegenden Fall nicht. Diese Rechtsprechung gelte für Fälle, in denen der Versicherte aufgrund des ersten Abschlusses grundsätzlich ohne örtliche Beschränkung seinen Beruf ausüben könne; die Klägerin habe jedoch ohne die Zusatzprüfung nur in Hamburg, nicht aber im Lande Schleswig-Holstein als Lehrerin tätig werden dürfen.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte Verletzung des § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b AVG. Abschluß beim Ausfallzeittatbestand einer Hochschulausbildung sei die von der Ausbildungsstätte vorgesehene abschließende Prüfung ohne Berücksichtigung der Berufswünsche des jeweiligen Absolventen. Daß es sich bei der Weiterbildung der Klägerin nicht um ein neues in sich abgeschlossenes Studium gehandelt habe, ergebe die Bezeichnung als "Zusatzprüfung".

Die Beklagte beantragt, unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen die Klage abzuweisen.

Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.

Beide Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

 

Entscheidungsgründe

Auf die Revision der Beklagten war die Klage abzuweisen.

Das LSG hat die Verurteilung der Beklagten zu Unrecht schon damit begründet, daß der die Vormerkung ablehnende Bescheid rechtswidrig sei, weil ihm die vorgeschriebene Begründung fehle. Dabei hat das LSG übersehen, daß eine fehlende Begründung allenfalls die Aufhebung des ablehnenden Verwaltungsakts rechtfertigen könnte, daß jedoch bei der verbundenen Anfechtungs- und Verpflichtungsklage die Entscheidung über die Verpflichtung der Beklagten, hier zur Vormerkung, im Vordergrund steht. Im übrigen bliebe eine fehlende Begründung hier auch angesichts des § 42 Satz 1 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren (SGB X) ohne Folgen, weil bei der nicht im Ermessen der Beklagten stehenden Vormerkung in der Sache keine andere Entscheidung hätte getroffen werden können. Damit kann offen bleiben, ob die gegebene Begründung, das Zusatzstudium sei keine Hochschulausbildung im Sinne des Ausfallzeittatbestandes, nach § 35 Abs 1 SGB X an sich nicht ausreicht; immerhin hat sie im vorliegenden Fall ein sachgemäßes Widerspruchsvorbringen ausgelöst.

Entgegen der Ansicht der Vorinstanzen hat die Beklagte die streitige Zeit nicht als Ausfallzeit vorzumerken. Der Ausfallzeittatbestand einer abgeschlossenen Hochschulausbildung iS des § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b AVG ist durch das Hochschulstudium in der streitigen Zeit nicht erfüllt, da die Hochschulausbildung mit der Ablegung der ersten Staatsprüfung abgeschlossen war. Die Tatbestände einer abgeschlossenen Fachschul- oder Hochschulausbildung erfordern anders als der einer weiteren Schulausbildung einen Abschluß (zur Hochschule BSGE 20, 35, 36 = SozR Nr 9 zu § 1259 Reichsversicherungsordnung -RVO-; zur Fachschule BSGE 48, 219, 221 = SozR 2200 § 1259 Nr 42), der Fall, daß bei ihnen ausnahmsweise ein Abschluß überhaupt nicht vorgesehen ist (BSG SozR Nr 61 zu § 1259 RVO; SozR 2200 § 1259 Nrn 4 und 14), scheidet hier aus. Sind bei einem Hochschulstudium dabei verschiedene Abschlußarten möglich, etwa außer einer Staatsprüfung die Promotion, und kann jeder dieser Abschlüsse den Erfolg des Studiums beweisen, so liegt eine abgeschlossene Hochschulausbildung schon dann vor, wenn der erste mögliche Abschluß erreicht ist. Die Rechtsprechung des BSG hat für eine nach dem ersten Abschluß fortgesetzte Hochschulausbildung deshalb stets die Anerkennung als Ausfallzeit abgelehnt. Der erste Senat des BSG hat im Urteil vom 18. September 1963 (BSGE 20, 35, 36) die Beendigung des Ausfallzeittatbestandes durch den ersten möglichen Abschluß damit begründet, daß schon dieser den Erfolg des Studiums beweise und dem Gesetzgeber für die Anrechnungsfähigkeit der Hochschulausbildung als Ausfallzeit genüge. Das gilt nach einem weiteren Urteil vom 26. Juli 1967 - 1 RA 131/65 - (RV 1968, 13) auch, wenn (wie bei Chemikern) eine Promotion üblich und wünschenswert sei. Der erkennende Senat hat in einem Urteil vom 27. August 1970 - 11 RA 109/68 - zur Begründung darauf hingewiesen, daß das Gesetz nicht jede Berufsausbildung als Ausfallzeit berücksichtige, sondern nur bestimmte typische Ausbildungszeiten mit geregeltem Ausbildungsgang; das lege es nahe, die Hochschulausbildung nur bis zu dem Abschluß zu berücksichtigen, der den Weg in das Berufsleben eröffne. Auf dieser Grundlage hat die Rechtsprechung das Vorliegen des Ausfallzeittatbestandes ferner verneint für eine dem Abschluß der Hochschulausbildung folgende Fachschulausbildung (BSGE 52, 131 und 54, 162 = SozR 2200 § 1259 Nrn 56 und 71) und für ein an das Studium der Tiermedizin anschließendes Studium der Humanmedizin (SozR 2200 § 1259 Nr 38). Auch die vom SG für die Gegenansicht angeführte Entscheidung des 12. Senats (SozR 2200 § 1259 Nr 38) knüpft daran an, daß der Gesetzgeber nicht jede eine Beitragsentrichtung ausschließende Ausbildung als Ausfallzeit anerkennt; sie folgert daraus, daß der Gesetzgeber, wie auch in der Begründung zum Ausdruck gebracht (BR-Drucks 196/56, S 74 zu § 1263 RVO), nur eine einzige erfolgreich abgeschlossene Hochschulausbildung als Ausbildungszeit berücksichtigt wissen wolle (SozR 2200 § 1259 Nr 38). Auf die dort für Berufe, die ein Doppelstudium erfordern, erwogene Ausnahme ist hier nicht näher einzugehen, da der von der Klägerin erstrebte Beruf eines Lehrers an Realschulen des Landes Schleswig-Holstein kein Doppelstudium voraussetzt.

Demgegenüber hat das LSG dem speziellen Berufswunsch der Klägerin, Realschullehrerin in Schleswig-Holstein zu werden, dessen Verwirklichung das Zusatzstudium erforderte, zu Unrecht entscheidende Bedeutung beigemessen. Das Gesetz orientiert den Begriff der Ausbildung nicht am Berufswunsch des Versicherten, sondern berücksichtigt nach objektiven Kriterien nur bestimmte Ausbildungsgänge; diese objektiven Kriterien bestimmen ebenfalls das Ende der Ausbildungszeit. Auch insoweit ist zu berücksichtigen, daß der Gesetzgeber neben der zeitlichen Beschränkung des Ausfallzeittatbestandes auf fünf Jahre eine Einschränkung auf bestimmte typisierte Ausbildungsgänge für erforderlich gehalten hat.

Die vom LSG herausgestellten besonderen Umstände, daß bei einer Ausbildung in Schleswig-Holstein ebenfalls eine Ausfallzeit von acht Semestern vorzumerken gewesen wäre, daß ohne Zusatzausbildung die Möglichkeit der Berufsausübung örtlich beschränkt gewesen wäre, und die nach Ansicht des LSG übermäßige Praktizierung des föderalistischen Prinzips auf dem Gebiete des Bildungswesens können eine Ausnahme ebenfalls nicht rechtfertigen. Ähnlichen Erwägungen hat der Senat schon im Urteil vom 11. Mai 1983 (SozR 2200 § 1259 Nr 75) entgegengehalten, daß Gedanken über den Wert von Ausbildungen zwar bei Schaffung des § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 AVG mit von Bedeutung gewesen sein mögen, daß aber nicht zu übersehen sei, daß der Gesetzgeber nur bestimmte typische Ausbildungen und diese zudem meist zeitlich begrenzt als Ausfallzeiten habe berücksichtigen wollen. Stehen zur Erreichung des Berufswunsches mehrere Ausbildungsgänge zur Verfügung, so ist allein die tatsächlich gewählte Ausbildung maßgebend. Es kann nicht je zugunsten des Versicherten teils auf den gewählten und teils auf den hypothetischen Ausbildungsgang abgestellt werden. Hätte die Klägerin ihre Ausbildung in Schleswig-Holstein absolviert, so hätte sie den Nachteil in Kauf nehmen müssen, daß mit der ersten Teilprüfung ihre Hochschulausbildung noch nicht abgeschlossen war (vgl zu Vorprüfungen SozR 2200 § 1259 Nr 75), so daß beim Versagen in der zweiten Teilprüfung die Hochschulausbildung in vollem Umfang den Ausfallzeittatbestand nicht erfüllt hätte. Dementsprechend ist zur Ausbildungsförderung entschieden worden, daß ein berufsqualifizierender Abschluß iS des § 7 Abs 1 Bundesgesetz über individuelle Förderung der Ausbildung (BAföG) dann anzunehmen sei, wenn die durchlaufene Ausbildung in dem Bundesland, in dem die Ausbildung stattgefunden habe, zum Eintritt in den Lehrerberuf berechtigte; eine für einen erforderlichen Länderwechsel notwendige Zusatzausbildung könne nur nach der Härteregelung des § 7 Abs 2 Satz 2 BAföG gefördert werden (Hess VGH FamRZ 1983, 536). Eine solche Härteregelung, nach der berücksichtigt werden könnte, daß infolge der Kulturhoheit der Länder nicht alle Lehramtsprüfungen in den einzelnen Ländern anerkannt werden (vgl Blätter für Berufskunde, Bd 3 e, 3 - III B 01 S 14), enthält die typisierende Regelung der Ausfallzeittatbestände nicht.

Auf die Revision der Beklagten war die Klage mit der Kostenfolge aus § 193 Sozialgerichtsgesetz abzuweisen.

 

Fundstellen

BSGE, 27

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