Leitsatz (amtlich)

Eine Promotionszeit nach einer das Hochschulstudium abschließenden Diplomprüfung ist keine Ausfallzeit iS des AVG § 36 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b (= RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b) (Anschluß an BSG 1963-09-18 1 RA 166/60 = BSGE 20, 35).

 

Normenkette

AVG § 36 Abs. 1 S. 1 Nr. 46 Buchst. b Fassung: 1965-06-09; RVO § 1259 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Buchst. b Fassung: 1965-06-09

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Sozialgerichts Hamburg vom 21. Dezember 1966 und des Landessozialgerichts Hamburg vom 5. April 1968 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind im Rechtsstreit nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Kläger bezieht von der Beklagten ein Altersruhegeld, bei dessen Berechnung Zeiten seines Studiums der Nationalökonomie bis zur Diplomprüfung im Juli 1925 als Ausfallzeit im Sinne des § 36 Abs. 1 Nr. 4 b Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) angerechnet worden sind. Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, auch das weitere Studium bis zur Promotion im Juli 1927 als Ausfallzeit zu berücksichtigen. Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen: § 36 Abs. 1 Nr. 4 b AVG sage bei mehreren Abschlußmöglichkeiten des Hochschulstudiums nichts darüber aus, welche Abschlußprüfung die Anrechenbarkeit als Ausfallzeit begrenze. Der Sachverhalt weiche hier von dem in BSG 20, 35 entschiedenen Fall ab. Der Kläger habe nach einem Studium von nur fünf Semestern im Juli 1925 die erstmals 1924 eingeführte Diplomprüfung für Volkswirte abgelegt, aber vom Studienbeginn im Jahre 1922 an ununterbrochen das Ziel verfolgt, das Studium durch die Promotion abzuschließen. Die maßgebenden Kreise des Wirtschaftslebens hätten damals beim studierten Volkswirt nur die Promotion als vollwertigen Studienabschluß angesehen. § 36 Abs. 1 Nr. 4 b AVG solle den Ausfall von Versicherungszeiten ausgleichen, der dadurch entstehe, daß der Versicherte vor der angestrebten Berufstätigkeit ein längeres Hochschulstudium absolvieren müsse. Es wäre unbillig und mit dem Gesetzeszweck unvereinbar, die für die Promotion erforderliche weitere Studienzeit nicht als Ausfallzeit anzurechnen, obwohl sie im vorliegenden Fall offensichtlich einen höheren Grad der Hochschulausbildung darstelle.

Mit der zugelassenen Revision rügt die Beklagte verfahrensrechtlich eine Verletzung des § 103 SGG; das LSG habe nicht geklärt, wie lange der Kläger nach der Diplomprüfung immatrikuliert gewesen sei, nach seinen Äußerungen im Verwaltungsverfahren sei dies nur bis zum Wintersemester 1925/26 der Fall gewesen. Sachlich-rechtlich hält die Beklagte § 36 Abs. 1 Nr. 4 b AVG für verletzt; über die Diplomprüfung hinaus dürfe keine weitere Studienzeit angerechnet werden.

Die Beklagte und der im Revisionsverfahren nicht vertretene Kläger haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Die Revision der Beklagten ist begründet.

Das Urteil des LSG enthält keine Ausführungen zu der Frage, weshalb die Zeit von August 1925 bis Juli 1927 vom LSG noch als Studienzeit gewertet worden ist. Nach den Äußerungen des Klägers hat er sich nach dem Wintersemester 1925/26 unter Vorbehalt seiner akademischen Bürgerrechte exmatrikulieren lassen und danach gegen geringere Studiengebühr noch Übungen und Seminare besucht sowie die Bibliothek benutzt. Mit dieser Frage und der Verfahrensrüge der Beklagten braucht sich der Senat jedoch nicht näher zu befassen; denn selbst im Falle einer weiteren Immatrikulation bis Juli 1927 kann die Zeit nach der Diplomprüfung entgegen der Ansicht der Vorinstanzen keine Ausfallzeit im Sinne des § 36 Abs. 1 Nr. 4 b AVG mehr sein.

Nach dieser Vorschrift ist eine "abgeschlossene Hochschulausbildung" bis zur Höchstdauer von fünf Jahren eine Ausfallzeit, wenn innerhalb bestimmter Frist danach eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen worden ist. Hierzu hat der 1. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 18. September 1963 (BSG 20, 35) nicht nur entschieden, daß die Hochschulausbildung - das Hochschulstudium - sowohl durch eine bestandene Prüfung (Hochschul-, Staatsprüfung) als auch durch eine Promotion abgeschlossen werden kann; er hat zugleich klargestellt, daß der erste Abschluß die anrechnungsfähige Ausfallzeit beendet und mit ihm die Frist für die Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit beginnt. Das ist nicht ohne Bezug auf den damaligen Sachverhalt ausgesprochen worden; nach den tatsächlichen Feststellungen war eine fortdauernde Immatrikulation nicht auszuschließen; die Entscheidung galt daher auch für diesen möglichen Fall.

In einem weiteren Urteil vom 26. Juni 1967 - 1 RA 131/65 - (Die RentV 1968, 13) hat der 1. Senat an diesen Grundsätzen festgehalten und ausgeführt: Werde nach abgelegter Hochschul- oder Staatsprüfung noch eine Dissertation angefertigt, so sei die darauf verwendete Zeit - auch wenn sie an einer Hochschule verbracht werde - keine Ausfallzeit mehr, weil sie dem bereits ordnungsgemäß abgeschlossenen Studium nachfolge. Das gelte auch dann, wenn (wie bei Chemikern) eine Promotion üblich und wünschenswert sei. In diesem Falle ist der Kläger offenbar nicht immatrikuliert geblieben, es hat sich dem Sachverhalt nach gehandelt um "Hochschulzeiten, die ohne Immatrikulation nach abgeschlossenem Studium zurückgelegt worden sind", das Urteil läßt jedoch nicht erkennen, daß der 1. Senat bei Fortdauer der Immatrikulation anders entschieden hätte.

Der erkennende Senat schließt sich diesen Entscheidungen an. Er hält es mit dem LSG für wesentlich, auf den Sinn und Zweck der Anrechnung von Ausfallzeiten in § 36 AVG abzustellen. Das Gesetz behandelt aus sozialpolitischen Gründen bei der Rentenberechnung bestimmte beitragslose Zeiten wie Beitragszeiten, "um auch denjenigen Versicherten, die unverschuldet - gewissermaßen als Schicksal - eine wesentliche Verkürzung ihrer Versicherungsdauer ... erleiden, einen Ausgleich bei der Rentenbemessung zu gewähren". Zu diesen Zeiten rechnet es auch die in § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG genannten "Ausbildungszeiten, soweit sie die übliche Dauer nicht überschreiten" (BT-Drucks. II/2437, S. 37). Diese Erwägungen zeigen, daß bildungspolitische Gesichtspunkte bei der Auslegung des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG zwar nicht vernachlässigt, im Interesse der Gesamtheit aller Versicherten aber auch andererseits nicht überbewertet werden dürfen. Das Gesetz hat nicht jede Berufsausbildung als Ausfallzeit berücksichtigt, sondern, wie § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG beweist, nur bestimmte typische Ausbildungszeiten mit geregeltem Ausbildungsgang; es hat bei dem Fachschul- und dem Hochschulstudium die Anrechnung außerdem begrenzt auf die Zeit, die bei verallgemeinernder Betrachtungsweise der regelmäßigen Dauer des Studiums entspricht. Der "Ausgleich" beitragsloser Zeiten durch Gewährung von Ausfallzeiten wird demnach bewußt in Grenzen gehalten; er setzt zusätzlich voraus, daß innerhalb bestimmter Frist danach der Eintritt in die Versicherungsgemeinschaft vollzogen wird. Diese Ausgestaltung des Gesetzes legt es aber nahe, die Hochschulausbildung als Ausfallzeit nur bis zu dem Abschluß zu berücksichtigen, der den Weg in das Berufsleben eröffnet. Das ist hier die Diplomprüfung im Juli 1925 gewesen. Dafür läßt sich ferner anführen, daß der Gesetzgeber die Höchstdauer von fünf Jahren wohl länger hätte bemessen müssen, wenn er die Promotionszeiten nach bereits abgeschlossenem Studium generell noch als Ausfallzeit hätte berücksichtigen wollen. Gesichtspunkte der Billigkeit helfen demgegenüber bei der Lösung von Einzelfragen im Rahmen der ohnedies schon großzügigen Regelung der Ausfallzeiten (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band III, S. 700 n, sowie Sieg, in "Die Sozialgerichtsbarkeit" 1970, S. 265 ff unter 6) nicht weiter. Außerdem muß hier einer umfangreichen Kasuistik vorgebeugt werden. Die Verhältnisse, unter denen nach abgeschlossenem Studium promoviert wird, sind unterschiedlich. Die Promotion kann sich alsbald anschließen, sie kann aber auch erst wesentlich später, unter Umständen erst nach Jahrzehnten, folgen. Von einem geregelten Ausbildungsgang kann in dieser Zeit kaum gesprochen werden. Die Anfertigung der Dissertation - als wesentlicher Teil des Promotionsverfahrens - ist keine Ausbildung mehr, sondern selbständige wissenschaftliche Tätigkeit. Eine Immatrikulation während des Promotionsverfahrens ist nicht vorgeschrieben; ein normales Studium, das die Zeit und Arbeitskraft ganz oder überwiegend in Anspruch nähme (BSG SozR Nr. 3 zu § 1228 RVO), findet oft nicht mehr statt. Die Anrechnung der Promotionszeit als weitere Ausfallzeit könnte also von zufälligen Besonderheiten abhängen und unter Umständen dazu führen, daß das Ende der anrechnungsfähigen Hochschulzeit und damit der Beginn der Frist für die Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit wesentlich hinausgeschoben würde, dann nämlich, wenn die Promotion erst wesentlich später erfolgt. Die Anrechnung aber auf den Fall zu beschränken, daß sie sich der Hochschul- oder Staatsprüfung anschließt (BABl 1959, 364, 365), erscheint nicht angängig; für eine solche Differenzierung bietet das Gesetz keinen triftigen Grund. Ebensowenig erscheint es gerechtfertigt, mit dem LSG darauf abzuheben, ob die Promotion zu Beginn und während des Studiums ständig angestrebt worden ist, oder danach zu unterscheiden, welche Bedeutung bestimmte Wirtschaftskreise der Promotion beimessen (vgl. BSG 18, 136, 139 ff). Der Senat sieht deshalb keinen Anlaß, von den angeführten Entscheidungen des 1. Senats abzuweichen.

Aus diesen Gründen sind die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben; die Klage ist abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669686

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