Entscheidungsstichwort (Thema)

Maßgebender Vergleichszeitpunkt für Rentenentziehung bei mehrfachen Entziehungsversuchen

 

Orientierungssatz

1. Für die Frage, ob eine Änderung in den Verhältnissen des Versicherten eingetreten ist, sind zum Vergleich die Verhältnisse zur Zeit der Rentengewährung auch dann heranzuziehen, wenn die Rente bereits entzogen war, der Entziehungsbescheid aber im Laufe des anschließenden Gerichtsverfahrens aufgehoben oder vom Versicherungsträger zurückgenommen worden ist (so auch BSG vom 1959-12-18 3 RJ 140/57 = SozR Nr 15 zu § 1293 RVO aF).

2. Die Entziehung der Rente wegen Berufsunfähigkeit setzt voraus, daß bei der Rentenbewilligung Berufsunfähigkeit vorgelegen hat, weil nur dann die Änderung in den Verhältnissen kausal für die Beseitigung der Berufsunfähigkeit sein kann (vgl BSG vom 1968-03-15 4 RJ 589/64 = SozR Nr 14 zu § 1286 RVO).

 

Normenkette

RVO § 1286 Abs 1 S 1 Fassung: 1957-02-23, § 1246 Abs 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 09.08.1979; Aktenzeichen L 6/2 J 55/78)

SG Wiesbaden (Entscheidung vom 18.10.1977; Aktenzeichen S 1 J 60/77)

 

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen die Entziehung der Rente wegen Berufsunfähigkeit.

Vor der Rentengewährung war der im Jahre 1940 geborene Kläger in einer kaufmännischen Lehre ohne Abschlußprüfung, dann bis Mai 1959 als Bauhilfs- und Gartenarbeiter sowie bis Ende September 1962 als Beifahrer und als Kraftfahrer beschäftigt. Nach operativer Behandlung eines Melanoms über dem linken Schulterblatt mit Drüsenmetastasen in der linken Achselhöhle bewilligte die Beklagte ihm mit Bescheid vom 26. August 1963 Rente wegen Berufsunfähigkeit.

Am 24. Februar 1964 nahm der Kläger seine Tätigkeit als Bote bei einem Finanzamt auf. Dort wurde von Mai bis Oktober 1969 die Vorbereitungszeit für die Übernahme in den einfachen Dienst durchgeführt. Nach Auskunft seines Arbeitgebers vom Dezember 1969 wurde der Kläger als Adrema-Arbeiter, Kraftfahrer und als Vertreter des Hausmeisters eingesetzt. Entlohnt wurde er nach der Lohngruppe VI des Manteltarifvertrages für die Arbeiter der Länder (MTL II).

Mit Bescheid vom 11. März 1970 entzog die Beklagte dem Kläger zum ersten Mal die Rente, weil eine weitgehende Anpassung und Gewöhnung an den Zustand der praktischen Einarmigkeit eingetreten sei. Dafür spreche auch die seit 1964 ausgeübte Berufstätigkeit. Auf die vom Kläger dagegen gerichtete Klage hob das Sozialgericht (SG) Wiesbaden durch Urteil vom 24. November 1972 (Az. S-4/J-73/70) diesen Bescheid auf, da in den Verhältnissen des Klägers keine Änderung eingetreten sei, die zum Wegfall der Berufsunfähigkeit geführt habe. Während des Rechtsstreits war der Kläger zum 1. März 1972 in das Beamtenverhältnis übernommen worden.

Erneut entzog die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 20. April 1977 die Rente nun mit Ablauf des Monats Mai 1977. In den für die Feststellung der Rente maßgebenden Verhältnissen sei insofern eine Änderung eingetreten, als der Kläger mit einem monatlichen Nettogehalt von derzeit 1.770,35 DM seinen Lebensunterhalt bestreiten könne.

Das SG hat auf die erneute Klage auch den Bescheid vom 20. April 1977 aufgehoben und die Beklagte zur Weitergewährung der Rente verurteilt (Urteil vom 18. Oktober 1977). Die Berufung der Beklagten ist vom Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen worden (Urteil vom 9. August 1979): Zwar sei in den Verhältnissen des Klägers im Vergleich zur Rentenbewilligung eine Änderung eingetreten. Die Rentenentziehung könne aber nur auf solche Tatsachen gestützt werden, die nach Schluß der mündlichen Verhandlung im Vorprozeß (24. November 1972) entstanden seien. Seit diesem Zeitpunkt sei aber keine Änderung mehr festzustellen, die die Berufsunfähigkeit beseitigt habe.

Die Beklagte hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Sie rügt eine Verletzung der §§ 128ö der Reichsversicherungsordnung (RVO) und 141 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Die rechtserhebliche Änderung in den Verhältnissen sei darin zu erblicken, daß der Kläger mit der Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit beim Finanzamt neue Kenntnisse und Fähigkeiten erworben habe, aufgrund deren er in das Beamtenverhältnis übernommen worden und zum Oberamtsmeister aufgestiegen sei. Der Auffassung der LSG, wonach die Entziehung nur auf Tatsachen gestützt werden könne, die nach dem 24. November 1972 entstanden seien, vermöge die Beklagte nicht zu folgen. Zwar könne die Verwaltung einen aufgehobenen Verwaltungsakt bei gleicher Sachlage nicht mit derselben Begründung wiederholen, das sei aber im Falle des Klägers nicht geschehen. Im übrigen hätten sich die Verhältnisse des Klägers auch seit dem 24. November 1972 geändert, denn er sei danach befördert worden.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG vom 9. August 1979 und des SG

vom 18. Oktober 1977 aufzuheben und die Klage

abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen wird. Die vom Berufungsgericht festgestellten Tatsachen reichen zu einer abschließenden Entscheidung nicht aus.

Die Beklagte hat die Rentenentziehung im angefochtenen Bescheid auf § 1286 Abs 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung in der vor dem 1. Januar 1981 gültigen Fassung (RVO aF) gestützt. Obgleich diese Vorschrift mit Wirkung vom genannten Zeitpunkt an aufgehoben worden ist (Art 2 § 4 Nr 1 Sozialgesetzbuch, Verwaltungsverfahren - SGB 10), richtet sich die Rentenentziehung im hier anhängigen Verfahren weiterhin nach § 1286 Abs 1 Satz 1 RVO aF (Art 2 § 40 Abs 2 SGB 10; vgl auch Urteil des Senats vom 25. Februar 1981 - 5a/5 RKnU 5/79 - und BSG-Urteil vom 19. März 1981 - 4 RJ 1/80 -).

Nach § 1286 Abs 1 Satz 1 RVO aF wird die Rente entzogen, wenn der Empfänger der Rente wegen Berufsunfähigkeit infolge einer Änderung in seinen Verhältnissen nicht mehr berufsunfähig ist. Dem LSG kann nicht darin gefolgt werden, daß eine Entziehung der 1963 bewilligten Rente nur auf Tatsachen gestützt werden kann, die nach Schluß der mündlichen Verhandlung vom 24. November 1972 im Vorprozeß eingetreten sind. Wie das Bundessozialgericht (BSG) bereits mehrfach zum Ausdruck gebracht hat, sind für die Frage, ob eine Änderung in den Verhältnissen des Versicherten eingetreten ist, zum Vergleich die Verhältnisse zur Zeit der Rentengewährung auch dann heranzuziehen, wenn die Rente bereits entzogen war, der Entziehungsbescheid aber im Laufe des anschließenden Gerichtsverfahrens aufgehoben oder vom Versicherungsträger zurückgenommen worden ist (so BSGE 7, 215, 216; BSG in SozR Nr 15 zu § 1293 RVO idF vor dem 1. Januar 1957). Die erwähnte Rechtsprechung ist zwar zu § 1293 RVO in der bis zum 1. Januar 1957 gültigen Fassung ergangen, aber auch schon dieser Vorgänger des § 1286 RVO in der Fassung des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes vom 23. Februar 1957 (ArVNG) machte die Entziehung der alten Invalidenrente von einer Änderung in den Verhältnissen abhängig. Deshalb ist auch im Falle des Klägers die erwähnte Rechtsprechung des BSG zu beachten.

Zu Unrecht beruft sich das LSG auf die Entscheidung des BSG vom 10. Oktober 1978 (SozR 4100 § 151 Nr 10). Sie steht nicht im Widerspruch zu der vorstehend erwähnten Rechtsprechung. Für den vorliegenden Fall folgt aus dieser Entscheidung nur, daß die Verwaltung den aufgehobenen Verwaltungsakt im Hinblick auf die Rechtskraftwirkung des Urteils nicht bei gleicher Sachlage mit derselben Begründung wiederholen darf. Das hat die Beklagte im Falle des Klägers indes nicht getan. Nach den Feststellungen des LSG ist die Rentenentziehung 1970 darauf gestützt worden, durch die weitgehende Anpassung und Gewöhnung des Klägers an die praktische Einarmigkeit sei eine Änderung in den Verhältnissen eingetreten. Diese Anpassung und Gewöhnung hat das SG im Vorprozeßurteil verneint. Die Rentenentziehung 1977 hat die Beklagte dann mit der jetzigen Tätigkeit des Klägers als Beamter beim Finanzamt begründet. Durch die Aufhebung des Entziehungsbescheides vom 11. März 1970 im ersten Urteil vom 24. November 1972 ist der Bewilligungsbescheid vom 26. August 1963 wieder voll wirksam geworden (vgl BSG in SozR Nr 7 zu § 123 SGG). Zwar hatte das SG außerdem die Beklagte zur Weitergewährung der Rente verurteilt; darin ist aber keine neue Feststellung der Rente zu erblicken. Ob neben der gegen den Entziehungsbescheid gerichteten Anfechtungsklage überhaupt für eine Leistungsklage auf Weiterzahlung der bewilligten Rente ein Rechtsschutzbedürfnis bestand (verneinend BSG Urteil vom 22. Februar 1979 - 8a RU 32/78 -) wird das LSG bei seiner erneuten Entscheidung - falls erforderlich - zu prüfen haben.

Das LSG hat zwar eine Änderung in den Verhältnissen im Vergleich zu dem bei der Rentenbewilligung am 26. August 1963 bestehenden Zustand angenommen, wenn man mit der Beklagten davon ausgehe, daß der Kläger im Zeitpunkt der Rentenbewilligung berufsunfähig gewesen sei. Ob das der Fall war, hat es aber unentschieden gelassen. Eine dahingehende Prüfung war vom Rechtsstandpunkt des Berufungsgerichts auch nicht erforderlich. Da jedoch - entgegen der Ansicht des LSG - die Rentenentziehung hier nicht nur auf Tatsachen gestützt werden kann, die nach Schluß der mündlichen Verhandlung vom 24. November 1972 eingetreten sind, kommt es auf die vom LSG offen gelassene Frage an. Die Entziehung der Rente wegen Berufsunfähigkeit setzt nämlich voraus, daß der Versicherte bei der Rentenbewilligung berufsunfähig gewesen ist (vgl BSG in SozR Nr 14 zu § 1286 RVO mwN), weil nur dann die Änderung in den Verhältnissen kausal für die Beseitigung der Berufsunfähigkeit sein kann. Veranlassung zu Feststellungen in dieser Richtung bieten die Ausführungen im angefochtenen Urteil, wonach dem Kläger im ärztlichen Gutachten vom 27. Mai 1963 eine Arbeitsaufnahme empfohlen worden und eine Gefährdung der Gesundheit von einer leichten Arbeit bereits damals nicht zu erwarten gewesen sei.

Das LSG wird daher festzustellen haben, von welchen Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit des Klägers zur Zeit der Rentengewährung im Bescheid vom 26. August 1963 auszugehen ist und ob er damals bereits wieder in der Lage war, unter Berücksichtigung seiner "bisherigen Berufstätigkeit" iS des § 1246 Abs 2 RVO eine zumutbare Verweisungstätigkeit zu verrichten oder nicht. Davon hängt es ab, ob durch die zwischenzeitlich eingetretene Änderung in den Verhältnissen die Berufsunfähigkeit beseitigt worden ist.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1658323

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