Leitsatz (amtlich)

Die Entziehung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit setzt ua voraus, daß der Empfänger der Rente bei der Rentenbewilligung berufsunfähig gewesen ist (Anschluß an BSG 1963-02-21 1 RA 47/60 = SozR Nr 6 zu § 1286 RVO; BSG 1966-07-07 1 RA 231/63 = SozR Nr 9 zu § 1286 RVO); es genügt nicht, daß er es zwischenzeitlich einmal war.

 

Normenkette

RVO § 1286 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 9. Oktober 1964 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Der Rechtsstreit wird um die Frage geführt, ob die Beklagte zur Entziehung der Rente der Klägerin wegen einer Änderung in den Verhältnissen berechtigt war (§ 1286 Abs. 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -), insbesondere welcher Ausgangszeitpunkt dem nach dieser Vorschrift anzustellenden Vergleich zugrunde zu legen ist.

Die Beklagte gewährte der Klägerin mit Bescheid vom 6. Dezember 1951 die Invalidenrente von August 1950 an. Durch Bescheid vom 13. Februar 1963 wurde die Rente mit Ablauf des Monats März 1963 wieder entzogen.

Die hiergegen erhobene Klage ist abgewiesen worden (Urteil des Sozialgerichts Münster vom 11. Mai 1964), die Berufung ohne Erfolg geblieben. Das Landessozialgericht (LSG) hat in den Entscheidungsgründen seines Urteils vom 9. Oktober 1964 u. a. ausgeführt: Nach Art. 2 § 24 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes sei auf den vorliegenden Fall § 1286 Abs. 1 Satz 1 RVO anzuwenden. Hiernach müsse eine wegen Invalidität gewährte Rente entzogen werden, wenn der Empfänger infolge einer Änderung der Verhältnisse nicht mehr berufsunfähig sei. In der Regel seien bei der Anwendung des § 1286 Abs. 1 Satz 1 RVO die Verhältnisse zu vergleichen, die bei der Rentenbewilligung und bei der Rentenentziehung vorgelegen hätten. Bei der Rentenentziehung sei die Klägerin nicht berufsunfähig gewesen; daran habe sich auch bis zur letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht nichts geändert. Demgegenüber könne für die Zeit der Rentenbewilligung nicht zweifelsfrei Berufsunfähigkeit angenommen werden. Darauf komme es jedoch im vorliegenden Fall nicht entscheidend an, so daß es insoweit einer Feststellung nicht bedürfe. Die Klägerin sei jedenfalls zwischenzeitlich - so um das Jahr 1955 - eine Zeitlang "gänzlich arbeitsunfähig" gewesen. Damals habe ihr ein Rentenanspruch zugestanden. Ein Vergleich dieses Zustandes mit dem bei der Rentenentziehung ergebe, daß die Klägerin zu diesem Zeitpunkt infolge einer Änderung in ihren Verhältnissen nicht mehr berufsunfähig gewesen sei. Damit seien die Voraussetzungen des § 1286 Abs. 1 Satz 1 RVO erfüllt, die Rentenentziehung berechtigt.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die - zugelassene - Revision der Klägerin. Sie ist der Meinung, daß die Beurteilung eines Entziehungsbescheides einen Vergleich der Verhältnisse bei der Rentenentziehung mit denen bei der Rentenbewilligung erfordere. Im übrigen sei die Klägerin - wie eine richtige Würdigung der ärztlichen Gutachten ergebe - sowohl bei der Entziehung der Rente als auch im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem LSG berufsunfähig gewesen. Schon aus diesem Grunde rechtfertige sich der Anspruch auf Fortzahlung der Rente.

Die Klägerin beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen sowie den Bescheid der Beklagten vom 13. Februar 1963 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Das LSG habe zu Recht die Berechtigung der Beklagten zur Rentenentziehung bejaht. Auch seien die vorliegenden Gutachten rechtsfehlerfrei gewürdigt worden.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.

Dieses Ergebnis läßt sich - entgegen der Meinung der Klägerin - nicht etwa daraus herleiten, daß sie bei der Entziehung der Rente oder zu einem späteren Zeitpunkt vor der letzten mündlichen Verhandlung berufsunfähig gewesen wäre. Die Würdigung der medizinischen Gutachten durch das Berufungsgericht ist rechtlich nicht zu beanstanden, ein Überschreiten des Rechts zur freien Beweiswürdigung nicht ersichtlich. Die Erwerbsfähigkeit der Klägerin - einer ungelernten Arbeiterin - war zur Zeit der Rentenentziehung und bis zur Zeit der letzten mündlichen Verhandlung hin wohl eingeschränkt, aber nicht auf weniger als die Hälfte einer gesunden Arbeiterin herabgesunken. Nach diesen Feststellungen des LSG lag Berufsunfähigkeit nicht vor (§ 1246 Abs. 2 RVO). Das angefochtene Urteil kann aber deshalb keinen Bestand haben, weil das Berufungsgericht § 1286 Abs. 1 Satz 1 RVO unrichtig ausgelegt hat. Nach dieser Vorschrift ist die Rente zu entziehen, wenn der Empfänger einer Rente wegen Berufsunfähigkeit (Invalidität) infolge einer Änderung in seinen Verhältnissen nicht mehr berufsunfähig ist. Das LSG hat nun angenommen, zur Rentenentziehung bedürfe es nicht in jedem Fall eines Vergleichs der Verhältnisse bei der Rentenentziehung mit denen bei der Rentenbewilligung; die Feststellung der Berufsunfähigkeit zu diesem Zeitpunkt sei dann nicht erforderlich, wenn zwischenzeitlich - vorübergehend - Berufsunfähigkeit vorgelegen habe. Der erkennende Senat vermag dieser Auffassung nicht zu folgen. Das Bundessozialgericht (BSG) hat bereits in mehreren Entscheidungen zu der Frage, welche Verhältnisse bei der Anwendung des § 1286 Abs. 1 Satz 1 RVO miteinander zu vergleichen sind, Stellung genommen. Während es in dem Urteil vom 21. Februar 1963 (BSG in SozR Nr. 6 zu § 1286 RVO) heißt, die Entziehung der Rente setze voraus, daß der Rentenempfänger früher einmal berufsunfähig gewesen, daß also eine "früher bestehende" Berufsunfähigkeit durch eine Änderung in den Verhältnissen des Rentenberechtigten beseitigt worden sei, wird der Ausgangszeitpunkt, zu dem Berufsunfähigkeit vorgelegen haben muß, im Urteil vom 7. Juli 1966 (BSG in SozR Nr. 9 zu § 1286 RVO) dahin konkretisiert, daß von den Verhältnissen zur Zeit der Rentenbewilligung ausgegangen werden müsse. In diesem Urteil war allerdings nur die Frage zu entscheiden, ob es auf die Verhältnisse beim Eintritt des Versicherungsfalls, die bei Rentenbeginn oder diejenigen bei Rentenbewilligung ankomme; es brauchte nicht ausdrücklich darüber befunden zu werden, ob Änderungen in den Verhältnissen während des Rentenbezugs eine Bedeutung beizumessen sei. Gleichwohl muß diese Entscheidung auch für einen Fall wie den vorliegenden beachtet werden. Das BSG hat darin ausgeführt, daß § 63 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) - = § 1286 RVO - dazu diene, die Bindungswirkung des Rentenbescheides (§ 77 SGG) zu durchbrechen, wenn die für seinen Erlaß maßgeblichen Verhältnisse sich nachträglich geändert hätten. Hieraus ergebe sich die Bezogenheit der Vorschrift zu dem vorausgegangenen Rentenbescheid und die Notwendigkeit, den Zeitpunkt seines Erlasses zum Ausgangspunkt für die Prüfung nach § 63 AVG zu machen. Diese Auffassung ist bereits vom erkennenden Senat geteilt worden (vgl. Urteil vom 29. Juni 1967 - 4 RJ 395/67 -). Wenn der Versicherungsträger eine Rente wegen Berufsunfähigkeit unbegrenzt für die Zukunft bewilligt, so bejaht er damit das Vorliegen der Voraussetzungen für die Rentengewährung, also auch das Vorliegen von Berufsunfähigkeit, gerade für den Zeitpunkt seiner Entscheidung. Der Bescheid hierüber wird für die Beteiligten bindend, auch bei einer Fehlbeurteilung der Berufsunfähigkeit. Die Bindungswirkung eines wegen Nichtvorliegens von Berufsunfähigkeit zu Unrecht ergangenen Rentenbescheides wird nicht dadurch beseitigt, daß nach seinem Erlaß eine Verschlechterung im Gesundheitszustand des Rentenempfängers eintritt. Nur dann, wenn die Berufsunfähigkeit bei der Rentenbewilligung bestanden hat, kann ein Rentenentziehungsbescheid zu Recht ergehen. § 1286 Abs. 1 Satz 1 RVO hat die Aufgabe, beim Eintritt einer Besserung im Gesundheitszustand des Rentenempfängers eine Rentenentziehung zu ermöglichen. Das LSG bejaht dagegen die Rechtmäßigkeit einer Rentenentziehung bei einer - vorübergehenden - Verschlechterung des Gesundheitszustandes. Das widerspricht dem Sinn dieser Vorschrift. Die Entscheidung über die Rentenentziehung erfordert auch in einem Fall wie dem vorliegenden einen Vergleich der Verhältnisse bei der Rentenentziehung mit denen bei der Rentenbewilligung. Darauf, daß die Klägerin zwischenzeitlich einmal berufsunfähig war, kommt es nicht an. - Für die Unfallversicherung (§ 622 RVO) und die Kriegsopferversorgung (§ 62 des Bundesversorgungsgesetzes) ist dieser Gedanke - sinngemäß - noch deutlicher als in § 1286 Abs. 1 Satz 1 RVO auch im Wortlaut des Gesetzes zum Ausdruck gekommen, ein Umstand, der ebenfalls für die vom Senat auf dem Gebiet der Rentenversicherung gewonnene Gesetzesauslegung spricht. Das LSG durfte hiernach die Frage nach den Verhältnissen bei der Rentenbewilligung nicht unbeantwortet lassen. Eine Prüfung in dieser Richtung ist noch erforderlich. Aus diesem Grunde muß der Rechtsstreit, weil das BSG an einer Entscheidung in der Sache selbst wegen Fehlens der erforderlichen Tatsachenfeststellungen gehindert ist, an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324412

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