Entscheidungsstichwort (Thema)

MdE bei Fingerverlust

 

Orientierungssatz

1. Es gibt keinen allgemeingültigen Erfahrungssatz, wonach die Funktionsfähigkeit der Hand durch den zusätzlichen Verlust eines viertel oder eines halben Gliedes des Zeigefingers demgegenüber um 5 % stärker beeinträchtigt ist.

2. Auch heute wird zum Teil der Verlust der Endglieder des 2. bis 5. Fingers der linken Hand wie früher weiterhin mit einer MdE von 15 % bewertet. Ein anerkannter allgemeingültiger Erfahrungssatz, solche Schäden seien mit 20 % zu bewerten, besteht nicht.

 

Normenkette

RVO § 581 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1963-04-30, § 627 Fassung: 1963-04-30

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Urteil vom 10.08.1977; Aktenzeichen L 6 U 257/77)

SG Stade (Entscheidung vom 21.03.1977; Aktenzeichen S 2 U 177/76)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 10. August 1977 und des Sozialgerichts Stade vom 21. März 1977 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Unter den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger mit einem Neufeststellungsbescheid Unfallrente zu gewähren.

Der Kläger erlitt am 19. Februar 1949 als Tischlerlehrling einen Arbeitsunfall, durch den er an der linken Hand die Endglieder des 3., 4. und 5. Fingers und am 2. Finger auch einen Teil des 2. Gliedes verlor. Die Beklagte gewährte ihm ab 3. Mai 1949 - an diesem Tage hatte der Kläger seine Arbeit als Tischler wieder aufgenommen - eine vorläufige Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 vH, ab 1. Februar 1950 nach einer MdE von 20 vH. Durch Bescheid vom 23. Juni 1950 entzog die Beklagte dem Kläger die Rente zum 1. August 1950, den das Oberversicherungsamt Hannover aufhob. Nachdem Dr. S aufgrund einer Untersuchung des Klägers ua festgestellt hatte, am linken Zeigefinger fehlten 1 1/4 Glieder und unter Anlehnung an eine Entscheidung des Reichsversicherungsamtes (RVA) die MdE auf 15 vH geschätzt hatte, entzog die Beklagte dem Kläger die vorläufige Rente unter Ablehnung einer Dauerrente mit Ablauf des Monats April 1951, weil die Erwerbsfähigkeit nur noch um 15 vH gemindert sei (Bescheid vom 8. März 1951).

Der Kläger beantragte im August 1976, ihm die Rente wieder zu gewähren. Die Unfallfolgen hätten sich verschlimmert. Im übrigen sei er auch 1951 mit der Entziehung der Verletztenrente nicht einverstanden gewesen.

Die Beklagte lehnte es ab, dem Kläger die Rente wieder zu gewähren (Bescheid vom 12. Oktober 1976). Dem Widerspruch half der Rentenausschuß nicht ab und legte ihn mit Einverständnis des Klägers dem Sozialgericht (SG) als Klage vor. Das SG Stade hat mit Urteil vom 21. März 1977 die Beklagte verurteilt, dem Kläger einen neuen Bescheid zu erteilen. Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 10. August 1977).

Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Revision eingelegt. Sie meint, § 627 RVO sei verletzt. Sie hält an ihrer Auffassung fest, die Ablehnung einer Dauerrente sei 1951 nicht offensichtlich unrechtmäßig gewesen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts vom 10. August 1977 sowie das Urteil des Sozialgerichts vom 21. März 1977 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist begründet. Die Urteile des LSG Niedersachsen vom 10. August 1977 und des SG Stade vom 21. März 1977 sind aufzuheben. Die Klage gegen den ablehnenden Bescheid der Beklagten vom 12. Oktober 1976 ist abzuweisen.

Die Beklagte ist nicht verpflichtet, dem Kläger eine Dauerrente wegen der Folgen des Unfalles vom 19. Februar 1949 zu gewähren. Die Beklagte hatte mit ihrem bindend gewordenen Bescheid vom 8. März 1951 dem Kläger die vorläufige Rente mit Ablauf des Monats April 1951 entzogen und es abgelehnt, ihm eine Dauerrente zu gewähren. Sie wäre nach § 627 RVO zur Neufeststellung verpflichtet gewesen, wenn sie sich bei erneuter Prüfung überzeugt hätte, daß die Leistung zu Unrecht abgelehnt worden war (BSGE 19, 38, 43). Die gesetzliche Voraussetzung des "Überzeugtseins" ist nicht wörtlich, dh in subjektivem Sinne zu verstehen. Das Gericht muß vielmehr in der Lage sein, aus von ihm nachprüfbaren objektiven Merkmalen die Folgerung zu ziehen, daß der Versicherungsträger als überzeugt zu gelten hat. Es darf jedoch nicht ohne weiteres seine eigene Überzeugung an die Stelle derjenigen des Versicherungsträgers setzen. Als von der Unrechtmäßigkeit der früheren Ablehnung überzeugt zu gelten hat der Versicherungsträger jedoch dann, wenn diese so offensichtlich ist, daß er sie bei erneuter Prüfung, sei es aufgrund tatsächlicher Feststellung, sei es aufgrund einer gesicherten Rechtsprechung, hätte erkennen müssen (BSGE 19, 38, 44; SozR Nr 4 zu § 627 RVO). Diese Voraussetzung ist dann erfüllt, wenn die gegenteilige Überzeugung unter keinen tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkten zu halten ist, also aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen die Unrichtigkeit des früheren Bescheides außer Zweifel steht (Urteil des erkennenden Senats vom 15. Mai 1974 - 8/2 RU 62/72 -, unveröffentlicht; Urteil des 1. Senats in SozR Nr 12 zu den gleichlautenden Vorschriften der §§ 1300 RVO, 79 AVG).

Eine solche außer Zweifel stehende Unrichtigkeit des ablehnenden Bescheides der Beklagten vom 8. März 1951 hat das LSG zu Unrecht angenommen. Diesem Bescheid lag das Gutachten von Dr. S vom 23. Februar 1951 zugrunde. Dieser hatte den Kläger untersucht und in Übereinstimmung mit den voraufgegangenen Gutachten festgestellt, der Unfall vom 19. Februar 1949 habe zum Verlust der Endglieder der Finger 2 bis 5 und von 1 1/4 Gliedern am Zeigefinger der linken Hand geführt. Dr. S hatte auch die Stümpfe und die Zirkulationsverhältnisse klinisch und röntgenologisch untersucht und festgestellt, der Händedruck sei kräftig und die Hand gut beschwielt. Wie schon Dr. B in seinem Gutachten vom 30. November 1949 (MdE "um 15%") und Dr. I im Verfahren vor dem Oberversicherungsamt Hannover hatte auch Dr. S entsprechend seiner eigenen Einschätzung im Gutachten vom 15. Juni 1950 die MdE in Anlehnung an eine Entscheidung des RVA, die den Verlust der Endglieder des 2. bis 5. Fingers bei bei einem Schauermann betraf, mit 15 vH bewertet. Das LSG hat unangegriffen aufgrund der im Neufeststellungsverfahren erstatteten Gutachten von Dr. D (vom 16. September 1976), Dr. L (vom 15. Februar 1977 nach Aktenlage) und Dr. J (vom 21. März 1977 in der mündlichen Verhandlung vor dem SG) festgestellt, eine Änderung der medizinischen Befunde der Unfallfolgen sei nicht eingetreten, jedoch sei die MdE schon seinerzeit mit 20 vH zu bewerten gewesen. Daraus ergibt sich aber schon deshalb kein Neufeststellungsanspruch des Klägers nach § 627 RVO, weil die seinerzeitige Bewertung nicht zweifelsfrei unrichtig im oben genannten Sinne war. Zwar hat Dr. L die Auffassung vertreten, die MdE sei 1951 ohne Zweifel zu Unrecht mit nur 15 vH bewertet worden, habe aber mindestens 20 vH betragen, und Dr. J hat ebenfalls eine MdE von 20 % angenommen. Dr. D dagegen hat von einem "Grenzfall" gesprochen und ausgeführt, man hätte vielleicht bei der Dauerrente unter dem Gesichtspunkt, daß vom Zeigefinger nicht 1 1/4, sondern 1 1/2 Glieder fehlten, "auch 20 % sagen können". Berücksichtigt man weiter, daß auch Günther/Hymmen, Unfallbegutachtung 1972, 6. Auflage (vgl Abbildung 30 auf Tafel III) den Verlust der Endglieder der 4 Langfinger an der linken Hand mit 15 vH bewerten und Liniger-Molineus, Der Unfallmann, 9. Auflage, 1974 auch heute noch den Verlust von Fingern oder Teilen der Finger an der linken Hand grundsätzlich niedriger bewerten als an der rechten Hand, scheidet eine unzweifelhaft unrichtige Bewertung der Unfallfolgen im Jahre 1951 aus.

Zu Unrecht beruft sich das LSG auf die Entscheidung des erkennenden Senats vom 7. Dezember 1976 (BSGE 43, 53 ff). Dort ist ausgeführt, unter welchen Voraussetzungen das Gericht berechtigt ist, eine von der Einschätzung der MdE durch den Versicherungsträger um nur 5 vH abweichende Bewertung der MdE zu berücksichtigen. Diese Entscheidung betraf aber die erste Feststellung einer Dauerrente, nicht dagegen die Frage, ob eine um 5 vH abweichende Bewertung der MdE zur Neufeststellung wegen zweifelsfreier Unrichtigkeit eines früheren bindenden Bescheides führen kann. In seiner Entscheidung vom 23. August 1973 (SozR Nr 4 zu § 627 RVO) hatte der Senat das selbst in einem Fall abgelehnt, in dem eine bestimmte Schädigung (Linsenlosigkeit eines Auges) allgemein höher bewertet wird als zur Zeit des ersten ablehnenden Bescheides (vgl dazu auch die Entscheidung des erkennenden Senats vom 20. Mai 1976 in SozR 2200 § 622 Nr 8). Auch die Entscheidung des 2. Senats vom 17. Dezember 1975 (BSGE 41, 99 ff), in der ausgesprochen ist, "der Grundsatz, daß die Festsetzung der MdE im Bescheid über die erste Feststellung der Dauerrente nicht als rechtswidrig anzusehen ist, weil die MdE nur aufgrund einer anderen ärztlichen Schätzung um 5 vH abweichend bewertet wird, erfaßt nicht die Fälle, in denen die abweichende Bewertung der MdE auf einem gefestigten allgemeinen Erfahrungssatz beruht", betrifft keinen Neufeststellungsanspruch nach § 627 RVO.

Selbst wenn man aber davon ausgehen wollte, daß eine Neufeststellung bei einer nur um 5 vH abweichenden Bewertung der MdE möglich wäre, wenn im Verwaltungsverfahren die Schätzungsgrundlagen nicht richtig ermittelt worden waren, ferner nicht die für die Schätzung wesentlichen Umstände hinreichend gewürdigt waren und die Schätzung auf falschen oder unrichtigen Erwägungen beruhte (BSGE 43, 53 ff), fehlten diese Voraussetzungen hier. Denn Dr. S hatte in seinem Gutachten vom 23. Februar 1951 alle wesentlichen Befunde erhoben, wobei es für die tatsächliche Funktionsfähigkeit der Hand nicht entscheidend sein konnte, daß er am Zeigefinger "nur" den Verlust von 1 1/4, und nicht wie Dr. D von 1 1/2 Gliedern, beschrieben hatte. Wenn er dann "in Anlehnung" an die Bewertung des Verlustes der Endglieder des 2. bis 5. Fingers die MdE mit 15 vH bewertete, war dies keine falsche oder unsachliche Erwägung. Er ist auch nicht, wie der Kläger meint, von einer "Fehldiagnose" ausgegangen, bei deren Vermeidung die MdE schon damals mit 20 vH hätte bewertet werden müssen. Es gab und gibt nämlich keinen allgemeingültigen Erfahrungssatz, wonach die Funktionsfähigkeit der Hand durch den zusätzlichen Verlust eines viertel oder eines halben Gliedes des Zeigefingers demgegenüber um 5 vH stärker beeinträchtigt ist (vgl die gutachtliche Stellungnahme von Dr. D). Das gleiche gilt für den zweiten, von dem LSG herangezogenen Grund. Denn auch neuere medizinische Erkenntnisse haben nicht die Unhaltbarkeit der früheren Entscheidung ergeben. Zwar mögen Handverletzungen und insbesondere der Teilverlust von Fingern zunehmend differenzierter und unter Berücksichtigung der Greiffunktionen (Spitzgriff, Breitgriff) beurteilt werden. Das hat aber nicht dazu geführt, daß der Verlust der Endglieder des 2. bis 5. Fingers jetzt übereinstimmend an beiden Händen gleichermaßen mit einer MdE von 20 vH bewertet wird (vgl Günther/Hymmen aaO; anders Krösl/Zrubecky, Die Unfallrente, 2. Aufl 1976, S. 80, Abbildung 108). In den hier in Betracht kommenden Bewertungsmaßstäben hat sich also gegenüber 1951 kein gefestigter neuer Erfahrungssatz herausgebildet (vgl BSGE 41, 99, 102), aus dem sich die Unhaltbarkeit der früheren Bewertung ergeben könnte.

Auch aufgrund der von dem erkennenden Senat im Urteil vom 21. März 1974 (BSGE 37, 177 ff) entwickelten Grundsätze ist der Neufeststellungsanspruch nach § 627 RVO nicht rechtlich abweichend zu beurteilen. Der Senat hat dort ausgesprochen, einer Bewertung der MdE mit 20 vH durch das Gericht stehe nicht entgegen, daß der Versicherungsträger zuvor den Rentenanspruch abgelehnt habe, weil ein rentenberechtigender MdE-Grad nicht erreicht werde, unabhängig davon, welche MdE der Gutachter im Verwaltungsverfahren angenommen habe (dort 15 vH). Hier hatte die Beklagte allerdings die Dauerrente versagt, "weil die MdE nur noch 15 vH" betrage. Es kann dahinstehen, ob dieser Fall anders zu entscheiden wäre, wenn es sich, wie bei dem von dem erkennenden Senat entschiedenen Fall, um die erste Feststellung der Dauerrente handeln würde. Hier wäre eine Neufeststellung nach § 627 RVO jedenfalls nur möglich, wenn die bindende Ablehnung der Dauerrente 1951 zweifelsfrei unrichtig gewesen wäre. Das war aber nach dem oben Gesagten nicht der Fall.

Der Neufeststellungsanspruch des Klägers könnte allerdings auch wegen einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse (§ 622 Abs 1 RVO) begründet sein. Es kommt nicht darauf an, aus welchem rechtlichen Grund der Kläger die Neufeststellung begehrt hat, sondern allein auf den materiellen Inhalt des geltend gemachten Anspruchs. Dieser war auf die Wiedergewährung der Rente gerichtet, und der Kläger hatte ihn anfangs auch auf eine Verschlimmerung der Unfallfolgen gestützt (vgl BSG in SozR Nr 4 zu § 627 RVO).

Eine Änderung (Verschlimmerung) in den Unfallfolgen selbst, ist nach den unangegriffenen Feststellungen des LSG nicht eingetreten.

Der erkennende Senat hat sowohl in dem Urteil vom 23. August 1973 (SozR Nr 4 zu § 627 RVO) als auch in demjenigen vom 20. Mai 1976 (SozR 2200 § 622 Nr 8) nicht darüber entschieden, ob eine rechtserhebliche wesentliche Änderung der Verhältnisse (§ 622 Abs 1 RVO) auch darin liegen kann, daß infolge einer Änderung der allgemeinen Lebensverhältnisse die MdE für bestimmte Unfallfolgen höher zu bewerten ist als früher. Im letztgenannten Urteil ist diese Frage ausdrücklich offengelassen. Indes bedarf diese Frage auch hier keiner Entscheidung. Denn selbst wenn man sie bejahen würde, fehlten die tatsächlichen Voraussetzungen. Abgesehen davon, daß es zweifelhaft sein kann, ob eine solche rechtserhebliche Änderung dann angenommen werden könnte, wenn die Bewertung sich nur um 5 vH verbessert hätte, müßte es sich mindestens um einen von den Besonderheiten des Einzelfalles losgelösten, von der Rechtsprechung sowie dem versicherungsrechtlichen oder versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten neuen oder geänderten allgemeinen Erfahrungssatz handeln. Diese vom 2. Senat in seinem Urteil vom 12. Dezember 1975 (BSGE 41, 99, 102) für die Erstfeststellung einer Dauerrente geforderten Voraussetzungen müßten ebenso bei einer Änderung der Verhältnisse im Sinne von § 622 RVO vorhanden sein. Dem ist hier jedoch nach dem oben Gesagten nicht so. Denn auch heute wird zum Teil der Verlust der Endglieder des 2. bis 5. Fingers der linken Hand wie früher weiterhin mit 15 vH bewertet (s. oben). Von einem anerkannten allgemeingültigen Erfahrungssatz, solche Schäden seien mit 20 vH zu bewerten, kann daher keine Rede sein.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656021

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