Leitsatz (redaktionell)

Zur Verpflichtung der Erteilung eines Zugunstenbescheides durch den Versicherungsträger in der gesetzlichen Unfallversicherung.

 

Normenkette

RVO § 627 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 27. Januar 1972 wird zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, gemäß § 627 der Reichsversicherungsordnung (RVO) einen Zugunstenbescheid zu erteilen.

Die Klägerin ist die Witwe des am 22. Oktober 1967 abends in C/Afrika während des Badens ertrunkenen Heiner T (T.). Dieser war als 1. Offizier an Bord des MS "A" beschäftigt. Am Unfalltage begab er sich gegen 18,30 Uhr mit dem 3. Offizier Rüdiger H zum Baden an den Strand unmittelbar westlich der Hafenmole. Hierbei wurde er nach den Aufzeichnungen in der Anlage zum Schiffstagebuch durch den Sog bald ins Meer abgetrieben und etwa gegen 20,00 Uhr in der Brandung wieder aufgefunden. Die Wiederbelebungsversuche blieben erfolglos.

Die von der Klägerin beantragte Hinterbliebenenrente lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 26. März 1970 mit der Begründung ab, T. habe sich auf einem privaten Landgang befunden, als er beim Baden tödlich verunglückte. Ein rechtlich wesentlicher ursächlicher Zusammenhang mit der betrieblichen Beschäftigung des T. hätte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr bestanden.

Am 9. Oktober 1970 bat die Klägerin um eine neue Prüfung und die Neufeststellung der Hinterbliebenenleistung. Zur Begründung führte sie an, sie habe die Rechtsbehelfsfrist aus Unkenntnis und Unerfahrenheit versäumt. Der Tod ihres Ehemannes habe mit der betrieblichen Tätigkeit in einem rechtlich wesentlichen ursächlichen Zusammenhang gestanden. Am Todestage sei es äußerst heiß gewesen, deswegen habe ihr verstorbener Ehemann das Bedürfnis gehabt, sich abzukühlen, um für den weiteren Dienst bei Kräften zu sein. Er habe ihr noch kurz vor dem Verlassen des Schiffes an diesem Tage einen Brief geschrieben, der folgenden Absatz enthalten habe: "Ich bin auch körperlich so fertig. Es ist heute so heiß, das nimmt einen so mit. An den Beinen und Armen und im Gesicht bin ich verbrannt. Gleich schnappe ich meine Badehose und gehe mit dem 3. Offizier hier zum Strand und stürze mich in die Brandung. Ich will mal für eine Stunde kein Schiff sehen. Ich habe zu nichts mehr Lust. Ich möchte mal acht Stunden schlafen, ohne im eigenen Schweiß gebadet zu sein, mal richtig im kalten Zimmer durchschlafen ..." Diesen nicht mehr abgesandten Brief habe sie erst später in seinem Nachlaß gefunden.

Die Beklagte lehnte mit ihrem Schreiben vom 3. November 1970 es ab, einen neuen Bescheid zu erteilen. Die Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil vom 1. Juli 1971). Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Berufung eingelegt. Im Laufe des Berufungsverfahrens hat die Beklagte das Widerspruchsverfahren nachgeholt und durch Bescheid vom 12. Januar 1972 den Widerspruch der Klägerin als begründet zurückgewiesen. Es hätten sich keine Tatsachen ergeben, die die Beklagte überzeugt hätten, daß der bindend gewordene Bescheid unrichtig gewesen sei.

Mit Urteil vom 27. Januar 1972 hat das Landessozialgericht (LSG) die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Die Beklagte hätte nicht überzeugt sein müssen, daß sie der Klägerin in dem bindend gewordenen Bescheid vom 26. März 1970 die Hinterbliebenenrente zu Unrecht abgelehnt habe. Einen Anspruch auf eine Neufeststellung hätte die Klägerin nur dann gehabt, wenn dieser Bescheid unrichtig gewesen wäre, die Beklagte dieses hätte erkennen müssen und ihr Festhalten an der früheren Regelung auch als unbillig anzusehen sei; insbesondere aber hätte die Fehlerhaftigkeit des früheren Bescheides so offenbar sein müssen, daß ein Festhalten der Beklagten an diesem Bescheid unter keinen tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkten haltbar gewesen wäre. Das sei im vorliegenden Fall nicht gegeben. Daran ändere auch nichts der Brief des verstorbenen Ehemannes der Klägerin. Im übrigen hätte eine mit der betrieblichen Tätigkeit noch im wesentlichen ursächlichen Zusammenhang stehende Reinigung und Erfrischung sich auf das notwendige Maß zu beschränken etwa dadurch, daß T. sich am Rand des offenen Meeres niedergebückt und sich dabei gereinigt hätte, des Schwimmens hätte es auch zu einer Erfrischung nicht bedurft, es hätte nur zur Hebung des Wohlbefindens gedient, letzteres stehe jedoch nicht mehr mit der betrieblichen Tätigkeit in einem rechtlich wesentlichen Zusammenhang. Der von der Klägerin aufgefundene Brief vom Todestage ihres Ehemannes ändere nichts an dem berechtigten Verharren der Beklagten auf ihren bindend gewordenen Ablehnungsbescheid vom 26. März 1970.

Gegen dieses Urteil hat die Klägerin die zugelassene Revision eingelegt und zur Begründung ausgeführt: Auch die Steigerung des persönlichen Wohlbefindens durch ein Bad müsse aus berufsbezogener Sicht gesehen und dabei berücksichtigt werden, daß T. neben dem Kapitän als 1. Offizier in entscheidender Verantwortung gestanden habe, zumal das Schiff über keine besondere Tropenausstattung (fehlende Klimaanlage, keine Wasserkühlvorrichtung usw.) verfügt habe. Das alles habe die Beklagte entweder übersehen oder nicht hinreichend gewürdigt.

Die Klägerin beantragt,

unter Aufhebung des Bescheides vom 3. November 1970 idF des Widerspruchsbescheides vom 12. Januar 1972 sowie der Urteile des SG Hamburg vom 1. Juli 1971 und des LSG Hamburg vom 27. Januar 1972 die Beklagte zu verurteilen, gemäß § 627 RVO eine neue Überprüfung des Rentenbescheides vom 26. März 1970 vorzunehmen,

hilfsweise,

die Sache unter Aufhebung des Berufungsurteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie meint, das "notwendige" Maß der Reinigung und Erfrischung hänge zweifellos von den Umständen ab, es ginge aber im vorliegenden Fall keinesfalls so weit wie die Revision meine. Dem 1. Offizier sei in dieser Hinsicht nicht mehr als anderen Besatzungsmitgliedern zuzubilligen.

Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet.

Die Voraussetzungen des § 627 RVO sind nicht erfüllt. Nach der genannten Vorschrift hat der Träger der Unfallversicherung Leistungen, die er zu Unrecht ganz oder teilweise abgelehnt, entzogen oder eingestellt hat, neu festzustellen, wenn er sich bei erneuter Überprüfung davon überzeugt hat, daß dieses zu Unrecht geschehen ist. Voraussetzung für die Überprüfung des Rentenbescheides ist also in diesem Fall, daß der Versicherungsträger von der Unrechtmäßigkeit seiner früheren Entscheidung i. S. von § 627 RVO überzeugt ist. Als überzeugt hat der Versicherungsträger dann zu gelten, wenn die Unrechtmäßigkeit so offensichtlich ist, daß er dies bei erneuter Überprüfung hätte erkennen müssen (BSG 19, 38, 44; BSG in SozR Nr. 4 zu § 627 RVO). Dabei handelt es sich nicht darum, ob er seiner Beurteilung in dem bindend gewordenen Bescheid die Rechtsauffassung zugrunde gelegt hat, die das entscheidende Gericht für richtig hält oder ob er bei Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens zu denselben tatsächlichen Feststellungen gelangt ist, die das entscheidende Gericht auf Grund seiner eigenen Beweiswürdigung für vorliegend erachten würde. Das gerichtliche Verfahren, ob der Versicherungsträger von der Unrechtmäßigkeit der bindenden Rentenablehnung überzeugt zu sein hat, ist - worauf das Bundessozialgericht (BSG) mehrfach hingewiesen hat (BSG 28, 173, 175 und 179, 182; BSG in SozR Nr. 12 zu § 1300 RVO) - anders geartet als das Verfahren hinsichtlich der Prüfung, ob der Versicherungsträger eine Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, zu Recht oder zu Unrecht abgelehnt hat. Im letzteren Verfahren steht allein die Anspruchsberechtigung des Versicherten zur Nachprüfung. Die Prüfung im Rahmen des § 627 RVO ist im wesentlichen darauf gerichtet, festzustellen, ob der Versicherungsträger von der Unrechtmäßigkeit der früheren Rentenablehnung überzeugt zu sein hat. Dies ist aber, wie bereits dargelegt, nur dann der Fall, wenn die Fehlerhaftigkeit des früheren Bescheides so offensichtlich ist, daß auch der Versicherungsträger zu der Überzeugung von der Rechtswidrigkeit des früheren Bescheides hätte gelangen müssen, weil die gegenteilige Überzeugung unter keinen tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkten zu halten ist (siehe insbesondere BSG in SozR Nr. 12 zu § 1300 RVO).

Die Beklagte hat ihre Rentenablehnung in dem bindend gewordenen Bescheid vom 26. März 1970 damit begründet, daß der Tod des Ehemannes der Klägerin mit der betrieblichen Tätigkeit nicht in einem rechtlich wesentlichen ursächlichen Zusammenhang stehe, da es sich um einen privaten Landgang gehandelt habe, als er beim Baden tödlich verunglückte. Der 2. Senat des BSG hat in seinem Urteil vom 28. Februar 1962 (SozR Nr. 50 zu § 542 RVO aF) ausgeführt: Der Schutz der Unfallversicherung könne einem Beschäftigten nicht versagt werden, der sich bei der Arbeitstätigkeit so starker Hitzeeinwirkung aussetze, daß er auf Erfrischung angewiesen sei, um ohne erhebliche Schwächung seiner Arbeitskraft bis zum Ende der Schicht durchhalten zu können. Eine der Erfrischung bzw. Abkühlung dienende Betätigung hänge in einem solchen Fall mit der Arbeitstätigkeit ursächlich zusammen (vgl. auch BSG in SozR Nr. 41 zu § 542 RVO aF; ebenso Nr. 53 zu § 542 RVO aF).

So lag im vorliegenden Fall der Sachverhalt jedoch nicht. T. hat sich von Bord des Schiffes erst gegen 18,30 Uhr entfernt, also nicht mitten in einer Arbeitsschicht, so daß das Baden und Schwimmen schwerlich dazu dienen konnte, etwa durch eine Erfrischung die Schwächung seiner Arbeitskraft wieder zu beseitigen, um bis zum Ende der Schicht durchzuhalten. Auch wenn - was das LSG zugunsten der Klägerin unterstellt hat - der Ehemann der Klägerin einer Erfrischung bedurft hätte, um alsbald seine dienstlichen Verpflichtungen an Bord wieder aufnehmen zu können, war dazu ein Schwimmen im Meer nicht notwendig. Diesen Zweck hätte er auch dadurch erreichen können, daß er sich auf dem Schiff unter die Dusche gestellt hätte. Ein die notwendige Erfrischung überschreitendes Verhalten steht nicht mehr im ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 7. Auflage, Stand August 1973 S. 482 c). Daraus folgt, daß die Beklagte nicht davon überzeugt zu sein brauchte, daß sie durch den Bescheid vom 26. März 1970 zu Unrecht eine Leistung ganz abgelehnt hatte.

Das Begehren der Klägerin auf erneute Prüfung und Neufeststellung der Leistung wird hier insgesamt gesehen auf keine wesentlich anderen Tatsachen gestützt als auf die bereits bei Erlaß des früheren Bescheides gewürdigten Tatsachen. Daran ändert auch nichts der von der Klägerin später vorgelegte Brief ihres Ehemannes, in dem er seiner Frau schrieb, er sei körperlich fertig und schnappe sich gleich seine Badehose, um mit dem 3. Offizier zum Strand zu gehen und sich in die Brandung zu stürzen. Er wolle mal für eine Stunde kein Schiff sehen, er habe zu nichts Lust, möchte mal 8 Stunden schlafen, ohne im eigenen Schweiß gebadet zu sein und mal richtig in einem kalten Zimmer durchschlafen. Dadurch wird die Würdigung des Gesamtvorgangs der Beklagten, daß es sich am Todestag des T. um einen Landgang privater Natur gehandelt hat, nicht so erschüttert, als daß sie nunmehr vom Gegenteil hätte überzeugt sein müssen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1648451

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