Orientierungssatz

Divergenz iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG:

1. Zur Frage des Vorliegens einer Divergenz iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG zur Rechtsprechung des BSG zur Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der versicherten Tätigkeit und einer Infektionskrankheit nach Nr 3101 der Anlage 1 zur BKVO.

2. Nach der Rechtsprechung des BSG zur Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der versicherten Tätigkeit und einer Infektionskrankheit nach Nr 3101 der Anl 1 zur BKVO bedarf es keines Nachweises einer bestimmten Infektionsquelle, wenn der betrieblichen Gefahr einer Infektion im Verhältnis zum Risiko, im privaten Bereich zu erkranken, ein deutliches Übergewicht beizumessen ist. Dieser Grundsatz gilt auch für von Tieren auf Menschen übertragbare Krankheiten nach Nr 3102 der Anl 1 zur BKVO.

3. Bei der Tätigkeit eines Schneidemaschinenarbeiters in einer Zuckerfabrik liegen im Hinblick auf eine Leptospirose-Infektion die Voraussetzungen einer gegenüber der allgemeinen Bevölkerung erhöhten Gefahr vor. Denn das Risiko, sich aufgrund der Berührung durch Leptospirose-Erreger verseuchten Wassers bei der Aufbereitung mit Rattenurin kontaminierter Rübe zu infizieren, wiegt weit deutlicher als die Wahrscheinlichkeit einer entsprechenden Infektion im Privatbereich.

 

Normenkette

SGG § 160 Abs. 2 Nr. 2; RVO § 551 Abs. 1 S. 2; BKVO Anl 1 Nr. 3101

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 07.02.1989; Aktenzeichen L 5 U 118/86)

 

Gründe

Streitig ist die Gewährung von Hinterbliebenenleistungen, insbesondere, ob der Ehemann der Klägerin (Versicherter) am 28. Dezember 1981 an den Folgen einer Berufskrankheit nach Nr 3102 - von Tieren auf Menschen übertragbare Krankheiten - der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) vom 8. Dezember 1976 (BGBl I S 3329) verstorben ist (Bescheid der Beklagten vom 21. Dezember 1982; klageabweisendes Urteil des Sozialgerichts -SG- vom 11. April 1986; zusprechendes Urteil des Landessozialgerichts -LSG- vom 7. Februar 1989). Das LSG ist zu dem Ergebnis gelangt, der Anspruch der Klägerin sei begründet, weil der Versicherte an einer als Berufskrankheit anzusehenden Leptospirose vom Typ des Morbus Weil gestorben sei. Diese Erkrankung sei im Hinblick auf die gutachterlichen Ausführungen der Dres. Prof. S.       , Prof. G.    , Prof. D.       und J.   voll bewiesen. Die abweichende Meinung des staatlichen Gewerbearztes Dr. K.     habe demgegenüber nicht überzeugen können. Der Versicherte sei bei seiner Tätigkeit als Schneidemaschinenarbeiter in der Zuckerfabrik auch einer gegenüber der allgemeinen Bevölkerung erhöhten Infektionsgefahr ausgesetzt gewesen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei davon auszugehen, daß die auf dem Rübenhof lagernden Rüben mit Rattenurin kontaminiert gewesen seien. Mit dem bei der Rübenaufbereitung von Leptospirose-Erregern verseuchten Wasser sei der Versicherte gehäuft in Berührung gekommen. Die dabei gegebene Infektionsgefahr habe sich auch mit Wahrscheinlichkeit realisiert, während konkrete Hinweise für eine Infektion im privaten Bereich fehlten. Unerheblich sei, ob der Versicherte - wie es Dr. K.     ausgedrückt habe - versicherungsrechtlich dem Personenkreis zuzurechnen sei, der durch seine berufliche Tätigkeit einer über das normale Maß hinausgehende Gefährdung durch vom Tier auf Menschen übertragbaren Erkrankungen ausgesetzt gewesen sei. Auch der Umstand, daß die Beklagte jahrzehntelang noch keinen vergleichbaren Fall habe entschädigen müssen, stehe dem gefundenen Ergebnis nicht entgegen.

Mit ihrer hiergegen gerichteten Nichtzulassungsbeschwerde macht die Beklagte geltend, das LSG sei von mehreren Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) abgewichen. So habe das BSG in den Urteilen vom 30. Januar 1986 (BSGE 59, 295), vom 27. Februar 1985 - 2 RU 40/84 - (USK 8537) und vom 30. Mai 1988 - 2 RU 33/87 - folgenden Rechtsgrundsatz aufgestellt: Die Voraussetzung einer höheren Gefährdung bestimmter Personengruppen bezieht sich auf das allgemeine Auftreten der Krankheit, nicht dagegen auf die Verursachung der Krankheit durch die gefährdende Tätigkeit. Ob eine Krankheit in einer bestimmten Personengruppe im Rahmen der versicherten Tätigkeit häufiger auftritt als bei der übrigen Bevölkerung, erfordert den Nachweis einer Fülle gleichartiger Gesundheitsbeeinträchtigungen und eine langfristige zeitliche Überwachung derartiger Krankheitsbilder, um mit Sicherheit daraus schließen zu können, daß die Ursache für die Krankheit in einem schädigenden Arbeitsleben liegt (BSGE 59, 295, 298 zum Meniskusschaden). In den anderen - zur Hepatitis als Berufskrankheit - ergangenen Urteilen habe das BSG entschieden, die Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen der versicherten Tätigkeit und einer Infektionskrankheit nach Nr 3101 der Anlage 1 zur BKVO sei grundsätzlich gegeben, wenn nachgewiesen sei, daß der Versicherte bei der Berufstätigkeit einer besonderen, über das normale Maß hinausgehenden Ansteckungsgefahr ausgesetzt gewesen sei. Diese Rechtsgrundsätze habe das LSG mißachtet. Zwar habe es die Entscheidung vom 30. Mai 1988 zitiert, die darin enthaltenen Rechtsgrundsätze seiner Beweiswürdigung jedoch nicht zugrunde gelegt. Dabei ziele die vorliegende Divergenzrüge nicht auf eine Kritik an der Beweiswürdigung selbst ab, sondern auf den rechtlichen Ausgangspunkt, nämlich die Frage nach den Anforderungen an den Nachweis einer über das normale Maß hinausgehenden Ansteckungsgefahr. So habe das LSG keinen einzigen Fall einer konkreten Ansteckungsgefahr am Arbeitsplatz des Versicherten namhaft gemacht. Weder in irgendeinem dort vorhandenen Wasser, noch an irgendeiner Zuckerrübe, noch an irgendeinem Messer habe der Erreger festgestellt werden können. Das LSG habe auch keine einzige Ratte in der Zuckerfabrik, schon gar keine an Leptospirose erkrankte Ratte festgestellt. Dazu hätten weder die Sachverständigen, noch das LSG irgendwelche Ermittlungen angestellt. Alle hätten sich in diesem Zusammenhang auf allgemeine Ausführungen darüber beschränkt, ob in einer Zuckerfabrik ideale oder nicht ideale Bedingungen für eine Infektion gegeben seien. Demgegenüber stehe fest, daß in keiner Zuckerfabrik je ein Arbeitnehmer an Leptospirose erkrankt sei. Darüber hinaus verschweige das LSG, daß das BSG eine "Fülle gleichartiger Gesundheitsbeeinträchtigungen" verlange.

Falls man der Auffassung sei, die zitierte Rechtsprechung des BSG betreffe nur spezielle Berufskrankheiten und nicht die hier in Streit stehende Krankheit nach Nr 3102 der Anlage 1 zur BKVO, stelle sich folgende Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung: "Inwieweit bedarf es bei der Berufskrankheit der Nr 3102 eines Nachweises, daß der Versicherte einer über das normale Maß hinausgehenden Ansteckungsgefahr ausgesetzt war und welches Beweismaß ist an diesen Nachweis anzulegen?" Genüge es dazu, eine Ansteckungsgefahr schon daraus zu folgern, daß der Versicherte einerseits im privaten Bereich keinen Kontakt mit Tieren gehabt habe, andererseits aber mit Werkzeugen in Berührung gekommen sei, die mit Rattenurin kontaminiert sein könnten? Voraussetzung für die Anerkennung einer Berufskrankheit müsse doch sein, daß der Versicherte zu einer Personengruppe gehöre, die durch ihre Arbeit in erheblich höherem Maße als die übrige Bevölkerung einer Ansteckungsgefahr ausgesetzt sei.

Schließlich sei die Revision gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zuzulassen. Das LSG habe nämlich in zwei tragenden Gründen das rechtliche Gehör der Beklagten verletzt. So sei das LSG mit keinem Wort auf die von der Beklagten übergebenen Zeitungsartikel eingegangen, aus denen sich ergebe, daß ein Kanufahrer an Leptospirose erkrankt sei. Auch habe sich das LSG nicht näher mit den Ausführungen des staatlichen Gewerbearztes auseinandergesetzt, wonach die Leptospirose-Erkrankung bei dem verstorbenen Versicherten nicht einmal nachgewiesen sei. Dementsprechend habe das LSG nicht alle Aufklärungsmöglichkeiten ausgeschöpft.

Die Beschwerde ist unbegründet.

1) Eine Divergenz iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG ist nicht gegeben. Soweit die Beschwerde rügt, das LSG sei von dem Urteil des BSG vom 30. Januar 1986 (BSGE 59, 295, 298) abgewichen, übersieht sie, daß diese Entscheidung bezüglich des zitierten Rechtssatzes die Frage betraf, unter welchen Voraussetzungen eine Krankheit iS von § 551 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) wie eine Berufskrankheit zu entschädigen ist. Nur insoweit ist es für das Gericht erforderlich festzustellen, daß der Versicherte zu einer bestimmten Personengruppe gehört, die durch ihre Arbeit in erheblich höherem Maße als die übrige Bevölkerung besonderen Gefährdungen ausgesetzt ist, die nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft geeignet sind, Krankheiten solcher Art, wie sie bei ihm bestehen, zu verursachen. Anders verhält es sich bei den Berufskrankheiten iS des § 551 Abs 1 Satz 2 RVO, also bei jenen, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats bezeichnet und die ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Für die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der versicherten Tätigkeit und einer Infektionskrankheit nach Nr 3101 der Anlage 1 zur BKVO verlangt die Rechtsprechung des BSG den Nachweis, daß der Versicherte bei der Berufstätigkeit einer besonderen, über das normale Maß hinausgehenden Ansteckungsgefahr ausgesetzt gewesen ist (vgl BSG Urteile vom 27. Februar 1985 und vom 30. Mai 1988). Diesen Rechtssatz hat das LSG für die hier in Rede stehende Infektionskrankheit (Nr 3102) beachtet. Es hat die von Prof. S.       , Prof. G.    , Prof. D.       und Dr. J. "herausgearbeiteten Fakten" dahingehend gewürdigt, daß der Versicherte bei seiner Tätigkeit in der Zuckerfabrik gehäuft mit Morbus-Weil-Erregern in Berührung gekommen und deshalb einer erhöhten Infektionsgefahr ausgesetzt gewesen sei. Dieser Gefahr hat das LSG im Verhältnis zu dem Risiko, im privaten Bereich an Leptospirose zu erkranken, ein deutliches Übergewicht beigemessen. Daß nach der zitierten Rechtsprechung des BSG keine bestimmte Infektionsquelle nachgewiesen zu werden braucht, legt die Beschwerde selbst dar, so daß sich ihre Rüge, das LSG habe lediglich allgemeine Ausführungen zu den Infektionsmöglichkeiten in einer Zuckerfabrik gemacht, im Kern auf eine fehlerhafte Beweiswürdigung durch das LSG bezieht, die im Beschwerdeverfahren nicht gerügt werden kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 iVm § 128 Abs 1 Satz 1 SGG).

2) Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache iS von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG ist ebenfalls nicht gegeben. Insoweit räumt die Beschwerde selbst ein, daß sich die für grundsätzlich bedeutsam gehaltene Rechtsfrage allenfalls dann stellt, wenn an das Vorliegen der hier in Rede stehenden Berufskrankheit andere Anforderungen zu stellen seien als im Falle der Nr 3101 der Anlage 1 zur BKVO. Dafür trägt die Beschwerde aber weder Gesichtspunkte vor, noch sind solche ersichtlich.

3) Schließlich liegt auch der gerügte Verfahrensmangel nicht vor. Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 des Grundgesetzes -GG-; § 62 SGG) beinhaltet ua, daß das Gericht das Vorliegen der Prozeßbeteiligten zur Kenntnis nehmen und in Erwägung ziehen muß. Nur wenn sich im Einzelfall klar ergibt, daß das Gericht dieser Verpflichtung nicht nachgekommen ist, kann Art 103 GG verletzt sein (vgl ua BVerfGE 63, 177, 179 f). Das trifft im vorliegenden Fall nicht zu. Für den Hinweis auf die Gefahr, bei privaten Betätigungen an Leptospirose zu erkranken (Kanufahrer), ergibt sich dies aus den entsprechenden Ermittlungen des LSG (Anfrage beim Oberkreisdirektor über das Auftreten von Ratten oder anderen Nagetieren in der näheren Umgebung des Wohnbereichs; Zeugeneinvernahme) und den Gründen des angefochtenen Urteils, in denen das LSG auch auf die privaten Gefahrenquellen eingegangen ist. Die Ausführungen des staatlichen Gewerbearztes Dr. K.     hat das LSG ebenfalls in seine Beweiswürdigung einbezogen.

Die Kostentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1649164

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