Leitsatz

Stehen sich zwei Urteile in unvereinbarer Weise gegenüber, so ist die Wirkung der Rechtskraft, in Bezug auf einen bestimmten, unveränderten Sachverhalt Rechtsfrieden zu schaffen, aufgehoben. § 174 AO ist anwendbar.

 

Sachverhalt

Der Kläger, ein Konkursverwalter, gab nach Eröffnung des Konkursverfahrens im Jahr 1982 sicherungsübereignete Kfz der V-Bank als Sicherungsnehmerin aus der Konkursmasse frei. Die V-Bank verwertete die Kfz 1983.

Das Finanzamt war der Auffassung, mit der Verwertung der Kfz sei die Verfügungsmacht endgültig auf den Sicherungsnehmer übergegangen, und erfasste die Lieferung der Kfz im Umsatzsteuerbescheid für 1983. Der Kläger focht diesen Bescheid an. In seinem 1993 ergangenen Urteil übernahm das FG die zwischen den Beteiligten unstreitig gewordene Auffassung, die Lieferung sei bereits mit der Herausgabe der Kfz im Jahre 1982 erfolgt und die Umsatzsteuer in diesem Jahre anzusetzen. Dementsprechend erließ das Finanzamt einen geänderten Umsatzsteuerbescheid für 1982. Diesen Bescheid focht der Kläger an, weil der BFH[1] zwischenzeitlich entschieden hatte, die Lieferung sei nicht im Jahr der Freigabe, sondern erst im Jahr der Verwertung anzunehmen. Das FG wies die daraus resultierende Klage 1996 unter Hinweis auf die Grundsätze von Treu und Glauben ab. Der BFH hob das Urteil auf und verwies die Sache an das FG zurück[2]. Der Kläger habe seine Auffassung nicht treuwidrig der jeweiligen Prozesslage angepasst, sondern sich berechtigterweise an der nach Abschluss des Verfahrens über den Umsatzsteuerbescheid 1983 ergangenen BFH-Rechtsprechung orientiert. Das FG hob daher im zweiten Rechtsgang den Umsatzsteuerbescheid 1982 mit Urteil von 1998 auf. Erst die Verwertung des Sicherungsguts in 1983 sei – als sog. Doppelumsatz – zugleich auch beim Kläger im Umsatzsteuerbescheid für 1983 zu erfassen.

Darauf änderte das Finanzamt durch den im vorliegenden Verfahren angefochtenen Steuerbescheid von 1998 die Umsatzsteuerfestsetzung für 1983 gemäß § 174 Abs. 4 AO. Gegen diesen Bescheid legte der Kläger wiederum Einspruch ein, weil § 174 Abs. 4 AO nicht anwendbar sei. Das FG gab der Klage zum Teil statt. Hiergegen wandten sich sowohl das Finanzamt als auch der Kläger.

 

Entscheidung

Der BFH bestätigte die Änderung des Steuerbescheids für 1983 durch das Finanzamt nach § 174 Abs. 4 Satz 1 AO. Die Vorschrift erlaubt für den Fall, dass aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen ist, der aufgrund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen durch die Finanzbehörde zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird, dass aus dem Sachverhalt nachträglich durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheids die richtigen steuerlichen Folgen gezogen werden. Dies gilt auch dann, wenn der Steuerbescheid durch das Gericht aufgehoben oder geändert wird[3].

Das FG hat 1998 zur Umsatzsteuer 1982 – auf Antrag des Klägers – im Anschluss an das BFH-Urteil vom 16.4.1997[4] entschieden, dass die Verwertung der der V-Bank sicherungsübereigneten Kfz nicht im Jahr der Freigabe und damit nicht im Umsatzsteuerbescheid für 1982, sondern im Jahr der tatsächlichen Verwertung der Kfz durch den Sicherungsnehmer und damit im Umsatzsteuerbescheid für 1983 zu erfassen ist. Das Finanzamt hat dem gemäß den geänderten Umsatzsteuerbescheid für 1983 innerhalb eines Jahrs seit der Aufhebung des angefochtenen Umsatzsteuerbescheids für 1982 erlassen. Es hat damit die zutreffenden rechtlichen Folgerungen aus der Aufhebung des Umsatzsteuerbescheids für 1982 durch das FG gezogen und nicht den "bestimmten Sachverhalt irrig beurteilt".

Die Rechtskraftwirkung des ersten Urteils zur Umsatzsteuer 1983 gem. § 110 FGO steht dem jetzt angefochtenen Änderungsbescheid für 1983 nicht entgegen. Die Rechtskraft dient dem Rechtsfrieden und der Rechtssicherheit. Die Rechtskraftwirkung in dem in § 110 FGO umschriebenen Rahmen soll verhindern, dass die aus einem festgestellten Sachverhalt hergeleitete Rechtsfolge, über die durch ein Urteil rechtskräftig entschieden worden ist, erneut zum Gegenstand eines Rechtsstreits gemacht werden kann. Wenn sich aber zwei rechtskräftige Entscheidungen widersprechen, ist die Beseitigung der nach jetziger Erkenntnis unzutreffenden Entscheidung geboten.

 

Praxishinweis

Der doch überraschende Fall, dass nach einem rechtskräftigen FG-Urteil über einen Umsatz in einem bestimmten Streitjahr nochmals ein FG-Verfahren erforderlich wird, ergab sich aufgrund einer Änderung der Rechtsprechung durch den BFH zur Lieferung bei Sicherungsübereignung nach dem ersten FG-Urteil. In einem solchen Fall darf die Bindungswirkung der Rechtskraft des ersten Urteils nicht die nach den Änderungsvorschriften der AO zulässige Korrektur der Steuerfestsetzung für den als "richtig" anzusehenden Besteuerungszeitraum hindern.

 

Link zur Entscheidung

BFH-Urteil vom 18.3.2004, V R 23/02

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