Leitsatz

  1. Der Steuerpflichtige ist durch die Einkommensteuerfestsetzung beschwert, auch wenn er nach Abzug des in fiktive Kinderfreibeträge umzurechnenden Kindergelds im wirtschaftlichen Ergebnis nicht mit Einkommensteuer belastet ist.
  2. Aus der Festsetzung von Einkommensteuer, obwohl der Steuerpflichtige wegen seiner geringen Einkünfte Anspruch auf Sozialhilfe für sich und seine Kinder hat, kann nicht geschlossen werden, das Existenzminimum des Steuerpflichtigen und seiner Kinder sei nicht ausreichend von der Einkommensteuer freigestellt.
  3. Da die Freistellung eines Einkommensbetrags in Höhe des Existenzminimums der Kinder durch Freibeträge oder Kindergeld bewirkt wird und bei geringen Einkünften das Kindergeld regelmäßig zu einer höheren Entlastung als die Steuerersparnis durch die Freibeträge führt, ist das gezahlte Kindergeld in fiktive Freibeträge umzurechnen. Ergibt sich nach Abzug der fiktiven Freibeträge ein zu versteuerndes Einkommen unterhalb des Eingangssatzes des Tarifs, ist der Steuerpflichtige wirtschaftlich nicht mit Einkommensteuer belastet, das Existenzminimum des Steuerpflichtigen und seiner Kinder also von der Besteuerung ausgenommen.
 

Sachverhalt

Die ledige Steuerpflichtige hat zwei minderjährige Kinder. Sie erzielte in den Streitjahren 1996 und 1997 im Wesentlichen Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Das Finanzamt setzte die Einkommensteuer erklärungsgemäß für 1996 auf 1802 DM und für 1997 auf 1846 DM fest. Bei der Günstigerprüfung ergab sich, dass die gebotene steuerliche Freistellung des Existenzminimums für beide Kinder durch das ausbezahlte Kindergeld von 4800 DM für 1996 und von 5280 DM für 1997 bewirkt wurde, so dass bei der Berechnung des zu versteuernden Einkommens keine Kinderfreibeträge abgesetzt wurden. Dagegen brachte die Steuerpflichtige vor, die Besteuerung verstoße gegen die Rechtsprechung des BVerfG. Danach dürfe nur das über das Existenzminimum hinausgehende Einkommen der Besteuerung unterworfen werden. Ihr nach dem BSHG anzurechnendes Einkommen betrage 24078 DM (1996) und 24364 DM (1997). Davon müsse sie noch die Belastung durch die Einkommensteuer tragen, obwohl der Sozialhilfebedarf für sie und ihre beiden Kinder nach den Richtlinien der Sozialhilfe jeweils darüber liege. Die "Schieflage", nämlich die Besteuerung des Einkommens trotz eines Anspruchs auf Sozialhilfe (monatlich 587 DM für 1996 und 561 DM für 1997), sei bereits dadurch entstanden, dass sie nicht einmal die Sozialversicherungsbeiträge in vollem Umfang habe abziehen können.

 

Entscheidung

Der BFH wies diese Einwendungen – wie schon das FG – zurück. Er bejaht zunächst die Zulässigkeit der Klage. Denn die Steuerpflichtige ist durch die angefochtenen Steuerfestsetzungen formell beschwert. Diese formelle Beschwer entfällt nicht deshalb, weil sich nach Abzug des in fiktive Kinderfreibeträge umgerechneten Kindergelds – wie im Folgenden dargelegt – wirtschaftlich keine steuerliche Belastung mehr ergibt.

Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist der Gesetzgeber verpflichtet, das nach sozialhilferechtlichen Kriterien ermittelte Existenzminimum des Steuerpflichtigen und seiner Familie im wirtschaftlichen Ergebnis von der Einkommensteuer freizustellen. Seit 1996 wird das Existenzminimum von Kindern entweder durch Kinderfreibeträge oder durch Kindergeld von der Einkommensteuer freigestellt. Soweit das Kindergeld nicht zur steuerlichen Entlastung erforderlich ist, stellt es eine steuerliche Förderung der Familie dar. Nur wenn das Kindergeld die gebotene Freistellung des Existenzminimums nicht in vollem Umfang erreicht, ist nach § 31 S. 4 EStG bei der Veranlagung der Kinderfreibetrag abzuziehen. Um festzustellen, ob das von der Steuerpflichtigen bezogene Kindergeld der Freistellung des Existenzminimums genügt, muss das Kindergeld für die beiden Kinder daher in fiktive Kinderfreibeträge umgerechnet werden.

Bei der Umrechnung des Kindergelds in fiktive Kinderfreibeträge ergeben sich umso höhere Beträge, je niedriger der individuelle Grenzsteuersatz liegt. 1996 erzielte die Steuerpflichtige ein zu versteuerndes Einkommen von 18899 DM. Nach der Grundtabelle beläuft sich der Grenzsteuersatz auf 27,1 %. Bei einem Kindergeld von 2400 DM für ein Kind ergibt sich daraus ein fiktiver Kinderfreibetrag von 8856 DM. Durch Abzug von zwei fiktiven Kinderfreibeträgen von 17712 DM sinkt das zu versteuernde Einkommen unter den Eingangsbetrag der Einkommensteuer-Tabelle, der bei 12095 DM liegt. Somit fiele keine Einkommensteuer an. Die Verhältnisse für 1997 sind entsprechend. Die Steuerpflichtige wird durch das in fiktive Kinderfreibeträge umgerechnete Kindergeld wirtschaftlich von der Einkommensteuer völlig freigestellt. Damit unterliegt das Existenzminimum ihrer Kinder bei ihr keiner steuerlichen Belastung.

 

Praxishinweis

Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist der Gesetzgeber nicht verpflichtet, Sozialleistungen in einer bestimmten Weise und in bestimmtem Umfang zu gewähren und jegliche die Familie betreffenden Belastungen auszugleichen. Der Ges...

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