Leitsatz

  1. Ein Steuerbescheid darf wegen nachträglich bekanntgewordener Tatsachen oder Beweismittel zugunsten des Steuerpflichtigen nicht aufgehoben oder geändert werden, wenn das Finanzamt bei ursprünglicher Kenntnis der Tatsachen oder Beweismittel mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht anders entschieden hätte.
  2. Maßgebend für diese Kausalitätsprüfung ist grundsätzlich der Zeitpunkt, in dem die Willensbildung des Finanzamts über die Steuerfestsetzung abgeschlossen wird.
  3. Wie das Finanzamt bei Kenntnis bestimmter Tatsachen und Beweismittel einen Sachverhalt in seinem ursprünglichen Bescheid gewürdigt hätte, ist im Einzelfall aufgrund des Gesetzes, wie es nach der damaligen Rechtsprechung des BFH ausgelegt wurde, und den die Finanzämter bindenden Verwaltungsanweisungen zu beurteilen.
  4. Liegen unmittelbar zu der umstrittenen Rechtslage weder Rechtsprechung des BFH noch bindende Verwaltungsanweisungen vor, ist aufgrund anderer objektiver Umstände abzuschätzen, wie das Finanzamt in Kenntnis des vollständigen Sachverhalts entschieden hätte. Dabei sind das mutmaßliche Verhalten des einzelnen Sachbearbeiters und seine individuellen Rechtskenntnisse ohne Bedeutung.
 

Sachverhalt

Arbeitnehmer AN hatte Anspruch auf betriebliche Altersvorsorge. Nach dem Wechsel der ZVK hatte sein Arbeitgeber AG zum Ausgleich an die übernehmende ZVK einen als steuerpflichtigen Arbeitslohn von AN behandelten Nachteilsausgleich zu leisten. Dieser ging in die Einkommensteuer-Festsetzungen der Streitjahre 2001–2003 ein. AG teilte AN am 15.3.2006 mit, die Versteuerung sei nach neuer Rechtsprechung fehlerhaft. Darauf beantragte AN beim Finanzamt erfolglos, die bestandskräftigen Festsetzungen nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zu ändern. Der BFH bestätigte das Finanzamt.

 

Entscheidung

Ein Steuerbescheid darf wegen nachträglich bekannt gewordener Tatsachen oder Beweismittel zugunsten des Steuerpflichtigen nur aufgehoben oder geändert werden, wenn das Finanzamt bei ursprünglicher Kenntnis mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anders entschieden hätte; eine Änderung scheidet aus, wenn das Finanzamt auch bei rechtzeitiger Kenntnis mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu keiner anderen Steuer gelangt wäre.

Wenn Rechtsprechung und Verwaltungsanweisungen fehlen, sind das Vorgehen der Finanzbehörden in Parallelverfahren oder interne Schreiben und Mitteilungen heranzuziehen. Unerheblich ist das mutmaßliche individuelle Verhalten des konkreten Sachbearbeiters. Damit stellte der BFH auf die mutmaßliche Veranlagung auf Basis der damaligen Verwaltungsauffassung ab, nicht auf seine eigene, erst nach dem Veranlagungszeitpunkt geäußerte gegenteilige Auffassung. Das Finanzamt hätte auch bei Kenntnis der Sonderzahlung nicht anders veranlagt, da die Verwaltung Sonderzahlungen damals als steuerpflichtigen Arbeitslohn beurteilte.

 

Link zur Entscheidung

BFH, Urteil vom 22.04.2010, VI R 40/08.

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