Leitsatz

  1. Das Bestehen einer ungewissen Verbindlichkeit ist wahrscheinlich, wenn nach den am Bilanzstichtag objektiv gegebenen und bis zur Aufstellung der Bilanz subjektiv erkennbaren Verhältnissen mehr Gründe dafür als dagegen sprechen. Ein gegen eine dritte Person in einer vergleichbaren Sache ergangenes erstinstanzliches Urteil genügt für sich allein noch nicht, um für das Bestehen einer entsprechenden Verbindlichkeit überwiegende Gründe annehmen zu können.
  2. Eine Inanspruchnahme ist wahrscheinlich, wenn der Steuerpflichtige ernstlich damit rechnen musste, aus der Verpflichtung in Anspruch genommen zu werden. Er darf im Hinblick auf seine Inanspruchnahme nicht die pessimistischste Alternative wählen; auch für die Inanspruchnahme müssen mehr Gründe dafür als dagegen sprechen.
  3. Als "wertaufhellend" sind nur die Umstände zu berücksichtigen, die zum Bilanzstichtag bereits objektiv vorlagen und nach dem Bilanzstichtag, aber vor dem Tag der Bilanzerstellung lediglich bekannt oder erkennbar wurden. Der zu beurteilende Kenntnisstand zum Zeitpunkt der Bilanzerstellung ist daher auf die am Bilanzstichtag – objektiv – bestehenden Verhältnisse zu beziehen (Anschluss an BFH-Urteil vom 30.1.2002, I R 68/00, BStBl II 2002, S. 688 = INF 2002, S. 410).
 

Sachverhalt

A ist Facharzt für Labormedizin und ermittelt seinen Gewinn durch Betriebsvermögensvergleich. Er betreibt seine Praxis in dem Gebäude, in dem sich auch eine ärztliche Laborgemeinschaft befindet. Für ihn bestimmte Laborproben wurden z.T. durch den von der Laborgemeinschaft eingeschalteten Transportdienst befördert. Auch für diese Proben rechnete A die Versandkostenpauschale ab. Nachdem ein Sozialgericht im Jahr 1997 in einem vergleichbaren Fall entschieden hatte, die Versandkostenpauschale sei nicht abrechenbar, bildete A wegen der möglichen Rückforderung dieser Gebühren durch die Kassenärztliche Vereinigung (KV) in der Bilanz zum 31.12.1996 eine Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten. Das Finanzamt erkannte diese mangels ausreichender Gefahr einer Inanspruchnahme nicht an. Das FG wies die Klage ab.

 

Entscheidung

Der BFH sah die Voraussetzungen für die Bildung einer Verbindlichkeitsrückstellung ebenfalls nicht für gegeben. Im Streitfall hätten nicht mehr Gründe für als gegen das Bestehen einer Verpflichtung zur Rückzahlung der Versandkostenpauschale gesprochen. Allein die Möglichkeit des Bestehens einer Rückzahlungspflicht, d.h. eine "latente Rückforderungssituation", und die Tatsache, dass in einer vergleichbaren Sache ein erstinstanzliches Urteil gegen einen Dritten ergangen ist, reichen nicht aus, um überwiegende Gründe für das Bestehen einer entsprechenden Verbindlichkeit anzunehmen. Darüber hinaus waren nach den Feststellungen des FG auch keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass die KV beabsichtigt hätte, A aufgrund des ergangenen Urteils in Anspruch zu nehmen. Objektiv hätten zum Bilanzstichtag 31.12.1996 schon deshalb keine Umstände für eine mögliche Inanspruchnahme vorgelegen, weil das sozialgerichtliche Urteil erst im Oktober 1997 getroffen worden sei.

 

Praxishinweis

Anders als das FG ist der BFH nicht darauf eingegangen, dass es sich bei dem möglichen Rückforderungsanspruch der KV nicht um eine privatrechtliche, sondern um eine öffentlich-rechtliche Verbindlichkeit handelt. Dies war auch nicht notwendig. Für die Pflicht zur Bildung von Rückstellungen für ungewisse öffentlich-rechtliche Verbindlichkeiten fordert der BFH zwar neben den allgemeinen Voraussetzungen – Wahrscheinlichkeit des Bestehens oder Entstehens der Verbindlichkeit und Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme –, dass solche Verbindlichkeiten hinreichend konkretisiert sein müssen; sei es durch eine Verfügung der zuständigen Behörde, die ein bestimmtes Handeln vorsieht, sei es durch ein entsprechendes Gesetz[1]. Wie bei privatrechtlichen Verbindlichkeiten kann aber auch die ernstliche Erwartung einer Inanspruchnahme aus öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen nicht schematisch aufgrund einzelner vorgegebener Kriterien, sondern nur anhand der erkennbaren tatsächlichen Verhältnisse des jeweiligen Einzelfalls geprüft und beurteilt werden[2]. Insoweit hatte das FG aber durch Einholung einer Auskunft bei der KV ermittelt, dass diese bei Vorliegen eines erstinstanzlichen, noch nicht rechtskräftigen Urteils keinerlei Maßnahmen zu einer Rückforderungsüberprüfung unternimmt. Dies geschieht – wie das FG festgestellt hat – erst nach dem Ergehen einer letztinstanzlichen Entscheidung.

 

Link zur Entscheidung

BFH-Urteil vom 19.10.2005, XI R 64/04

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