Rz. 899

Über den Aufgabenkreis gemäß § 46 GmbHG und die weiteren (gesetzlichen) Zuständigkeiten hinaus kann die Gesellschafterversammlung nahezu jede Angelegenheit der Gesellschaft an sich ziehen und damit im Innenverhältnis für die übrigen Organe der GmbH bindend entscheiden, sofern der Gesellschaftsvertrag keine entgegenstehende Regelung enthält (sog. Allzuständigkeit der Gesellschafterversammlung).[1] Dies ist – in Abgrenzung zum Aktienrecht und zum Genossenschaftsrecht – eine Besonderheit des GmbH-Rechts.

 

Rz. 900

Ausnahmen von der Allzuständigkeit der Gesellschafterversammlung bestehen, sofern zwingende Kompetenzen der Geschäftsführung und des Aufsichtsrats[2] dem entgegenstehen. Dazu gehören hinsichtlich der Geschäftsführer insbesondere:[3]

  • die Vertretung der Gesellschaft,
  • die Aufstellung des Jahresabschlusses,
  • die Erfüllung der Verpflichtungen aus dem Steuer- und Sozialversicherungsrecht.

Umstritten ist, ob über diese zwingenden Kompetenzen hinaus der Geschäftsführung ein Kernbestand an Geschäftsführungsaufgaben erhalten bleiben muss.[4]

 

Rz. 901

Der Gesellschaftsvertrag für Wohnungsgesellschaften mbH sieht vor, dass die Gesellschafterversammlung über alle Angelegenheiten beschließt, die nicht durch zwingende Vorschriften des Gesetzes oder durch den Gesellschaftsvertrag dem Aufsichtsrat oder der Geschäftsführung anvertraut sind (§ 19 Satz 1 GV). Konkret wird dazu geregelt, dass die Gesellschafterversammlung also insbesondere über folgende Angelegenheiten beschließt (§ 19 Satz 2 GV):

  1. die Feststellung des Jahresabschlusses,
  2. die Verwendung des Bilanzgewinns,
  3. den Ausgleich des Bilanzverlustes,
  4. den Gesamtbetrag, bis zu dem Darlehen übernommen oder Schuldverschreibungen ausgegeben werden sollen,
  5. die Einziehung von Geschäftsanteilen,
  6. *die Zustimmung zur Abtretung von Geschäftsanteilen oder zum Beitritt neuer Gesellschafter (§ 4) (* = Nichtzutreffendes bitte streichen),
  7. die Entlastung der Geschäftsführer und der Mitglieder des Aufsichtsrats,
  8. die Wahl und die Abberufung von Aufsichtsratsmitgliedern,
  9. die Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegen Geschäftsführer, Mitglieder des Aufsichtsrats oder Gesellschafter,
  10. die Änderung des Gesellschaftsvertrags,
  11. die Umwandlung der Gesellschaft,
  12. die Auflösung der Gesellschaft.
 

Rz. 902

Von der Allzuständigkeit der Gesellschafter abzugrenzen ist die sog. Primärzuständigkeit. Diese Befugnis umfasst die gesetzlich formulierten Einzelzuständigkeiten (zum Beispiel den Aufgabenkreis des § 46 GmbHG) und ist dadurch gekennzeichnet, dass grundsätzlich – das heißt, insbesondere soweit der Gesellschaftsvertrag nichts Abweichendes bestimmt – die Gesellschafterversammlung dafür grundsätzlich allein zuständig ist und in diesen Angelegenheiten vor ihrer Durchführung damit befasst werden muss.[5] Dagegen können bzw. müssen grundsätzlich – das heißt wiederum, soweit keine gesellschaftsvertraglichen Regelungen oder ein Gesellschafterbeschluss dem entgegenstehen – die Angelegenheiten, die unter die Allzuständigkeit der Gesellschafterversammlung fallen, von der Geschäftsführung entschieden werden.[6]

 

Rz. 903

Umstritten ist allerdings, ob bzw. inwieweit die Geschäftsführung in Fällen, in denen eine Regelung im Gesellschaftsvertrag oder ein entsprechender Gesellschafterbeschluss fehlt, im Bereich ihrer Primärentscheidungsbefugnis im Bereich der Allzuständigkeit der Gesellschafterversammlung dennoch verpflichtet sind, vor einer Entscheidung die Zustimmung der Gesellschafterversammlung einzuholen (sog. Vorlagepflicht). Dazu wird in der Fachliteratur unter anderem die Meinung vertreten, dass eine weitgehende Vorlagepflicht insbesondere besteht, wenn geplante Entscheidungen

  • die grundsätzliche Bestimmung der Geschäftspolitik der GmbH betreffen oder
  • die Maßnahmen nach Art und Umfang ungewöhnlich sind.[7]
 

Rz. 904

Dagegen sind Teile der Fachliteratur der Meinung, dass die Geschäftsführer sämtliche Geschäftsführungsangelegenheiten, für die keine Weisungen bestehen, unter der Voraussetzung erledigen dürfen, dass die Gesellschafterversammlung nichts anderes verlangt.[8]

 

Rz. 905

Unabhängig von den oben genannten unterschiedlichen Auffassungen besteht zumindest eine Vorlagepflicht der Geschäftsführung, wenn ganz außergewöhnliche Entscheidungen geplant sind. Zur Begründung wird auf die zum Aktienrecht ergangene Rechtsprechung verwiesen, beginnend mit der sog. "Holzmüller-Entscheidung" des BGH[9] und anschließende weitere Entscheidungen.

 

Rz. 906

Nach der "Holzmüller-Entscheidung" kann der Vorstand bei schwerwiegenden Eingriffen in die Rechte und Interessen der Aktionäre –zum Beispiel bei der Ausgliederung eines Betriebs, der den wertvollsten Teil des Gesellschaftsvermögens bildet, auf eine dazu gegründete Tochtergesellschaft –, ausnahmsweise nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet sein, gemäß AktG § 119 Abs. 2 eine Entscheidung der Hauptversammlung herbeizuführen. Macht ein Aktionär geltend, der Vorstand habe bei einer Betriebsausgliederung die notwendige Zustimmung der Hauptversammlung nicht eingeholt, so kan...

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