Leitsatz

Werden nachträglich sowohl steuererhöhende Tatsachen (Umsätze) als auch steuermindernde Tatsachen (Vorsteuerbeträge) bekannt und führen die steuererhöhenden Tatsachen zur Änderung eines Steuerbescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO, so können die steuermindernden Tatsachen sowohl gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO als auch gemäß § 177 AO zu berücksichtigen sein (Fortentwicklung des Senatsurteils vom 19.10.1995, V R 60/92, BStBl II 1996, S. 149).

 

Sachverhalt

Da eine GbR für 1998 keine Umsatzsteuererklärung abgegeben hatte, schätzte das Finanzamt die Besteuerungsgrundlagen unter Anlehnung an die Umsatzsteuer-Voranmeldungen auf insgesamt 873 000 DM (darauf entfallende Steuer: 87 150 DM) sowie Vorsteuerbeträge von 74 154 DM. Daraus ergab sich eine Umsatzsteuer für 1998 in Höhe von 12 996 DM. Der Bescheid wurde bestandskräftig. Danach reichte die GbR die Umsatzsteuererklärung 1998 ein und erklärte

  • steuerpflichtige Umsätze von 1 412 107 DM sowie darauf entfallende Steuer von 154 901 DM,
  • Vorsteuerbeträge von 129 185 DM.

Darauf änderte das Finanzamt gemäß § 173 Abs. 1 AO die Umsatzsteuerfestsetzung 1998. Es berücksichtigte die Steuer wie erklärt mit 154 901 DM, Vorsteuerbeträge aber nur in Höhe von 95 159 DM nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO, nämlich 38,18 % der "nachträglich bekannt gewordenen" Vorsteuerbeträge. Die Umsatzsteuer wurde auf 59 742 DM festgesetzt.

 

Entscheidung

Das FG hat zu Recht unter Berufung auf die Rechtsprechung[1] erkannt, dass von den im Streitjahr erzielten Umsätzen von 1 412 107 DM ein Teilbetrag von 539 107 DM (38,18 %) nachträglich bekannt geworden ist. Es hat die Quote der nachträglich bekannt gewordenen Umsätze von 38,18 % jedoch auf die gesamte von der GbR in der Umsatzsteuererklärung geltend gemachte Vorsteuer von 129 185 DM angewendet, und nicht – wie geboten – nur auf die nachträglich bekannt gewordene Vorsteuer von 55 031 DM (129 185 DM ./. 74 154 DM). Damit hat es § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO nicht richtig angewendet.

Die mit der Klage begehrten Vorsteuerbeträge sind aber nach § 177 Abs. 1 AO zu berücksichtigen. Danach sind bei Vorliegen der Voraussetzungen für die Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids zuungunsten des Steuerpflichtigen (wie hier: § 173 AO), zugunsten und zuungunsten des Steuerpflichtigen solche materiellen Fehler zu berichtigen, die nicht Anlass der Aufhebung oder Änderung sind, soweit die Änderung reicht.

Gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO war eine Änderung der ursprünglichen Umsatzsteuerfestsetzung für 1998 zuungunsten der GbR durch Ansatz der von ihr erklärten höheren Umsätze gerechtfertigt. Soweit diese Änderung reicht, also in Höhe von 67 751 DM (154 901 DM ./. 87 150 DM), ist gemäß § 177 Abs. 1 AO die Nichtberücksichtigung der nachträglich von der GbR geltend gemachten Vorsteuerbeträge in Höhe von 55 031 DM als materieller Fehler, die nicht Anlass der Änderung sind, zu berichtigen. Denn der Nichtansatz dieser Vorsteuerbeträge – über deren Abziehbarkeit nach § 15 UStG zwischen den Beteiligten kein Streit besteht – würde zur Festsetzung einer Steuer führen, die von der kraft Gesetzes entstandenen Steuer abweicht[2].

 

Praxishinweis

Die Berichtigungsvorschrift des § 177 AO wurde in der Praxis (auch des BFH) bisher wohl zu wenig beachtet. Unternehmer, die Aufhebungs- oder Berichtigungsanträge – z.B. nach § 173 AO – stellen oder mit solchen Berichtigungen zu ihren Ungunsten konfrontiert werden, sollten die Bescheide auf weitere Fehler prüfen. Die AO lässt grundsätzlich nur "punktuelle Berichtigungen", also keine "Gesamtaufrollung" zu. Jedoch können Fehler des Bescheids nach § 177 AO im Rahmen der gegebenen Berichtigungsmöglichkeit ohne Weiteres korrigiert werden. Es kommt z. B. nicht darauf an, ob oder von wem der Fehler verschuldet wurde. Die Vorschrift bezweckt, eine größere Einzelfallgerechtigkeit – gegenüber der mit dem übrigen Berichtigungssystem beachteten Rechtssicherheit – zu erreichen.

Der BFH hätte bei der Entscheidung letztlich auf die zwischen den Beteiligten streitige Frage der richtigen bzw. unrichtigen Anwendung des § 173 AO nicht eingehen müssen und ohne weiteres § 177 AO abhandeln können. Die Ausführungen zu § 173 AO sollen nur dessen Voraussetzungen klarstellen.

 

Link zur Entscheidung

BFH, Urteil vom 10.04.2003, V R 26/02

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