Das Gericht kennt das Recht?

Nach dem allgemeinen Verfahrensrecht ist die rechtliche Beurteilung in erster Linie Sache des Gerichts. Dieses trägt für sein Urteil die volle Verantwortung. Juristen nennen diesen Grundsatz "iura novit curia". Doch wofür benötigt man dann noch vor Gericht einen Rechtsanwalt? Nur zum Vortrag des Sachverhalts? Nein, sagt der Bundesgerichtshof (BGH): Die Verpflichtung des Rechtsanwalts, die zugunsten seiner Partei sprechenden tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte so umfassend wie möglich darzustellen, erfährt durch den Grundsatz "iura novit curia" keine Einschränkung.

Regress gegen Anwalt

Im Ausgangsfall hatte die anwaltlich vertretene Klägerin ihren Schadensersatzprozess wegen Verletzung der Pflichten aus einem Speditionsvertrag im Wesentlichen verloren – wohl weil das Gericht für sie erfolgversprechende rechtliche Überlegungen nicht angestellt hatte. Sie nahm nun ihren Anwalt in Regress, weil der sie nicht umfassend vor Gericht beraten und vertreten habe. Die auf Schadensersatzzahlung über rund 138.000 EUR gerichtete Klage ist in den Vorinstanzen abgewiesen worden. Die Revision führte jedoch zur Aufhebung der Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

Auch Richter können irren…

Dabei stellte der BGH klar: Es ist Aufgabe des Rechtsanwalts, der einen Anspruch seines Mandanten klageweise geltend machen soll, die zugunsten seiner Partei sprechenden tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte so umfassend wie möglich darzustellen, damit sie das Gericht bei seiner Entscheidung berücksichtigen kann. Der Möglichkeit, auf die rechtliche Beurteilung des Gerichts Einfluss zu nehmen, entspreche im Verhältnis zum Mandanten die Pflicht, diese Möglichkeit zu nutzen. Mit Rücksicht auf das auch bei Richtern nur unvollkommene menschliche Erkenntnisvermögen und die niemals auszuschließende Möglichkeit eines Irrtums sei es Pflicht des Rechtsanwalts, nach Kräften dem Aufkommen von Irrtümern und Versehen des Gerichts entgegenzuwirken.

Fazit: Umfassender Vortrag!

Wird eine Klage auf mehrere selbstständige Vertragsverletzungen gestützt, hat der Rechtsanwalt zu den jeweiligen Anspruchsvoraussetzungen substanziiert vorzutragen.

(BGH, Urteil v. 10.12.2015, IX ZR 272/14)

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