Leitsatz

  1. Gegen eine mit förmlichen Rechtsbehelfen nicht anfechtbare Entscheidung des FG kann außerordentliche Beschwerde zum BFH eingelegt werden, wenn das Gericht das Prozessrecht bewusst in objektiv greifbar gesetzwidriger Weise angewendet hat (Abgrenzung zum BFH-Beschluss vom 5.12.2002, IV B 190/02, BStBl II 2003, S. 269 = INF 2003, S. 247).
  2. Legt der Steuerpflichtige die Steuererklärung erst im Klageverfahren vor und konnte das Finanzamt das Vorbringen des Klägers zu der betreffenden Steuerfestsetzung nach § 364b AO in der Einspruchsentscheidung zu Recht zurückweisen, ist das Finanzamt an dem Erlass eines Abhilfebescheids nicht wegen der früheren Zurückweisung des Vorbringens gehindert. Erlässt das Finanzamt in einem solchen Fall einen Abhilfebescheid, kann die Klage anschließend nicht mehr kostenfrei zurückgenommen werden.
 

Sachverhalt

Erst nach Klageerhebung gegen Schätzungsbescheide, gegen die im Einspruchsverfahren trotz einer Ausschlussfrist nach § 364b Abs. 1 Nr. 1 AO keine sachlichen Einwände vorgebracht worden waren, legte die Klägerin – unstreitig – zutreffende Steuererklärungen vor. Gleichwohl sah sich das Finanzamt durch § 364b Abs. 2 i.V.m. § 172 Abs. 1 Satz 3 Halbsatz 2 AO an einer Abhilfe gehindert. Das FG gab der Klage statt und erlegte die Kosten zu 42 % der Klägerin, zu 58 % dem Finanzamt auf. Denn der Klägerin seien die Kosten insoweit nicht aufzuerlegen, als sie bei Erlass eines Änderungsbescheids nach Abgabe der Steuererklärung nicht entstanden wären. § 137 Satz 3 FGO rechtfertige keine andere Kostenentscheidung, weil sich das Finanzamt pflichtwidrig geweigert habe, die Steuerfestsetzung zu ändern. Dagegen richtet sich die außerordentliche Beschwerde des Finanzamts.

 

Entscheidung

Das FG hat § 137 FGO nicht unvertretbar ausgelegt. Zum einen war das Finanzamt nicht durch § 364b Abs. 2 Satz 1 AO gehindert, im Klageverfahren den gebotenen Abhilfebescheid[1] nach pflichtgemäßem Ermessen zu erlassen. Denn die Präklusionswirkung dieser Vorschrift beschränkt sich nur auf das Verwaltungsverfahren. Sie gilt nicht im FG-Verfahren fort[2], wenn die Berücksichtigung des verspäteten Vorbringens das FG-Verfahren nicht verzögert[3]. Ebenso steht § 172 Abs. 1 Satz 3 Halbsatz 2 AO einem Abhilfebescheid im Prozess nicht entgegen, weil er nur Anträge auf schlichte Änderung betrifft. Bei der gebotenen Ermessensentscheidung kann das Finanzamt von einer Abhilfe nicht allein wegen der Kostenregelung in § 137 Satz 3 FGO absehen, weil der Erlass eines Abhilfebescheids an der Kostenpflicht des Klägers auch im Fall der anschließenden Klagerücknahme nichts ändert.

Nach dem Wortlaut des § 137 Satz 3 FGO"sind" dem Kläger die Kosten insoweit aufzuerlegen, als das Gericht zuvor rechtmäßig zurückgewiesene Erklärungen und Beweismittel berücksichtigt. Ob dieser eindeutige Wortlaut es zulässt, dem Finanzamt ausnahmsweise nach § 137 Satz 2 FGO Kosten aufzuerlegen, die durch Verschulden des Finanzamts entstanden sind, hat der BFH offen gelassen, weil er ein Verschulden des Finanzamts verneint hat. Die gegenteilige Annahme eines Verschuldens durch das FG rechtfertigt nach Auffassung des BFH nicht die Feststellung einer greifbar gesetzwidrigen Anwendung des § 137 FGO, weil § 137 Satz 3 FGO von den FG bislang unterschiedlich ausgelegt wurde[4].

 

Praxishinweis

Der Anwendungsbereich der in bestimmten Ausnahmefällen zulässigen außerordentlichen Beschwerde ist erheblich eingeschränkt, weil schweres Verfahrensunrecht im FG-Verfahren mit einer Gegenvorstellung analog § 321a ZPO beim FG geltend gemacht werden kann[5]. Diese erfasst – über die Verletzung des rechtlichen Gehörs hinaus – alle schwerwiegenden Fehler, die das FG bei der Handhabung seines Verfahrens begeht und die den materiellen Inhalt der Entscheidung beeinflusst haben können. Nicht dazu gehören indessen Verletzungen von Verfahrensvorschriften, deren Auslegung gerade den Gegenstand der Entscheidung bildet. Insoweit kann eine Gegenvorstellung beim FG keinen wirksamen Rechtsschutz gewährleisten, weil sich das FG bereits ausdrücklich eine Überzeugung von der Rechtmäßigkeit seines Verfahrens gebildet hat. Insoweit ist deshalb die außerordentliche Beschwerde statthaft, wenn das FG-Urteil jeglicher Grundlage entbehrt, d.h. unter keinem denkbaren Gesichtspunkt vertretbar erscheint und damit eine nicht hinnehmbare Gesetzeswidrigkeit zur Folge hat[6].

 

Link zur Entscheidung

BFH-Beschluss vom 13.5.2004, IV B 230/02

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