1 Allgemeines

 

Rz. 1

Durch das 6. SGGÄndG v. 17.8.2001 (BGBl. I S. 2144) ist § 156 mit Wirkung zum 2.1.2002 geändert worden. Zuvor konnte die Berufung nur bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung zurückgenommen werden. Die Berufungsrücknahme (nicht: Zurücknahme) ist nunmehr grundsätzlich auch über den Schluss der mündlichen Verhandlung hinaus bis zur Rechtskraft des Berufungsurteils sowie der urteilsersetzenden Beschlüsse nach § 153 Abs. 4 bzw. § 158 Satz 2 möglich. Dies entspricht § 126 Abs. 1 VwGO sowie der Rechtsprechung des BSG (Beschluss v. 15.11.1999, B 2 U 247/99 B). Gemäß § 516 Abs. 1 ZPO kann der Berufungskläger die Berufung hingegen nur bis zur Verkündung des Berufungsurteils zurücknehmen. Der Schutz des Berufungsbeklagten vor willkürlicher Disposition des Berufungsklägers über den Streitgegenstand wird dadurch gewährleistet, dass die Berufungsrücknahme nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung von der Einwilligung des Berufungsbeklagten abhängig gemacht wird (BT-Drs. 14/5943 S. 47; vgl. auch BR-Drs. 132/01 S. 57). Die praktischen Auswirkungen der Vorschrift sind bislang zu vernachlässigen.

 

Rz. 2

Mittels des 4. Gesetzes zur Änderung des SGB IV v. 22.12.2011 (BGBl. I S. 3057) ist mit Wirkung zum 1.1.2012 ein neuer Abs. 2 eingefügt und der bisherige Abs. 2 zu Abs. 3 geworden. Hierzu die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 17/6764 S. 57):

"Die Regelung ergänzt die Vorschriften über die Berufung im Sozialgerichtsverfahren um eine gesetzliche Rücknahmefiktion. Sie dient der Verfahrensbeschleunigung und trägt somit zur Entlastung der Landessozialgerichte bei. Die Ergänzung orientiert sich an § 126 Absatz 2 Verwaltungsgerichtsordnung. Entsprechend der Klagerücknahmefiktion nach § 102 Absatz 2 bewirkt sie, dass die Berufung als zurückgenommen gilt, wenn der Kläger das Verfahren länger als drei Monate nicht betreibt, da auch im Berufungsverfahren ein Verstoß gegen die prozessualen Mitwirkungspflichten den Wegfall des Rechtsschutzinteresses indiziert (vergleiche Bundestagsdrucksache 16/7716 zu § 102). Die fiktive Rücknahme der Berufung stellt das Gericht durch Beschluss fest mit der Folge, dass die erstinstanzliche Entscheidung rechtskräftig wird. Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 177)."

2 Rechtspraxis

2.1 Begriffliches und Rechtsnatur

 

Rz. 3

Ungeachtet des sozialgerichtlichen Verfahrens beherrschenden Offizialprinzips können die Beteiligten über den Streitgegenstand disponieren. Ausdruck dessen sind sowohl § 123 als auch § 156. Während § 123 bestimmt, dass das Gericht an die vom Kläger erhobenen Ansprüche gebunden ist, räumt § 156 dem Berufungsführer die Befugnis ein, das Berufungsverfahren durch einseitige Erklärung zu beenden. Die Beteiligten haben als Ausfluss dieser Dispositionsmaxime das Recht, selbst zu entscheiden, ob und mit welchem Ziel sie einen Rechtsstreit führen wollen; deshalb bleibt es ihnen überlassen, ob und in welchem Umfang sie Rechtsmittel gegen ein sie beschwerendes Urteil einlegen.

2.2 Rücknahmezeitraum (Abs. 1 Satz 1)

 

Rz. 4

Der Rücknahmezeitraum beginnt mit der Einlegung der Berufung. Ab diesem Ereignis kann die Berufung als actus contrarius zurückgenommen werden. Für davor liegende Zeiträume kommt nur ein Verzicht in Betracht.

 

Rz. 5

§ 156 SGG weicht von § 516 ZPO ab. Seit Inkrafttreten des ZPO-ReformG v. 27.7.2001 (BGBl. I S. 1887) kann die Berufung nach § 516 Abs. 1 ZPO bis zur Verkündung des Berufungsurteils zurückgenommen werden. Hierdurch soll der Berufungskläger in die Lage versetzt werden, noch nach der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht seine Prozesstaktik dem Verhandlungsergebnis anzupassen, um der Zurückweisung des Rechtsmittels zu entgehen (Lemke, in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 3. Aufl. 2011, § 516 Rn. 4). Dem entsprach § 156 Abs. 1 a. F. ("Die Berufung kann bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung zurückgenommen werden."). Demgegenüber ist der Rücknahmezeitpunkt infolge der Neuregelung des § 156 Abs. 1 Satz 1 durch das 6. SGGÄndG v. 17.8.2001 (BGBl. I S. 2144) mit Wirkung zum 2.1.2002 hinausgeschoben worden; hierzu BR-Drs. 132/01 v. 30.3.2011 (S. 57):

"Die Berufungsrücknahme soll grundsätzlich auch über den Schluss der mündlichen Verhandlung hinaus bis zur Rechtskraft des Berufungsurteils sowie des Beschlusses über die Zurückweisung einer unbegründeten Berufung nach § 153 Abs. 4 und über die Verwerfung einer unzulässigen Berufung nach § 153 Abs. 4 zugelassen werden. Die Neufassung entspricht der vergleichbaren Vorschrift in der VwGO (§ 126 Abs. 1) sowie der Rechtsprechung des BSG (vgl. Beschluss vom 15.11.1999 – B 2 U 247/99 B)."

Solange die Entscheidung noch nicht rechtskräftig ist, kann seither die Berufung zurückgenommen werden. Dem Schutz des Berufungsbeklagten dient Abs. 1 Satz 2.

 

Rz. 6

Die Berufung kann noch nach dem Erlass eines Vorbehaltsurteils (§ 302 ZPO) oder eines Grundurteils (§ 304 ZPO) zurückgenommen werden, weil diese Entscheidungen nicht das Berufungsverfahren beenden. Demgegenüber ist das Teilurteil (§ 301 ZPO) ein Endurteil; es beendet die Berufungsinstanz hinsichtlich des Teils des Berufungsgegenstands, über den entschieden worden ist, folglich kann die...

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