A. Europäische Rechtsentwicklung.

 

Rn 1

Das 11. Buch der ZPO enthält die vom deutschen Gesetzgeber für notwendig erachteten Umsetzungs- und Begleitvorschriften zu den von der EU erlassenen Rechtsakten im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit (heute Art 67 IV und 81 AEUV). Schon 2000 wurde die VO (EG) Nr 1348/2000 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- und Handelssachen erlassen; inzwischen ersetzt durch VO (EG) Nr 1393/2007 (EuZVO, im Anhang nach § 1071 abgedruckt und erläutert). Die RL 2003/8/EG zur Verbesserung des Zugangs zum Recht bei Streitsachen mit grenzüberschreitendem Bezug durch Festlegung gemeinsamer Mindestvorschriften für die Prozesskostenhilfe wurde vom deutschen Gesetzgeber in §§ 10761078 umgesetzt. Seit 2004 gilt die VO (EG) Nr 1206/2001 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- und Handelssachen (EuBVO, s Anhang nach § 1075). Die VO (EG) Nr 805/2004 über einen Europäischen Vollstreckungstitel für unbestrittene Forderungen (EuVTVO, s Anhang nach § 1086) schaffte 2004 für eine bestimmte Gruppe von Vollstreckungstiteln das Exequaturverfahren im Vollstreckungsstaat ab und ermöglichte so den ›freien Verkehr von Entscheidungen‹ (Art 1 EuVTVO). Zu dieser Strategie gehören außerdem die VO (EG) Nr 1896/2006 zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens (EuMVVO, s Anhang nach § 1096) und die VO (EG) Nr 861/2007 zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen (EuGFVO, s Anhang nach § 1109). In Unterhaltssachen gilt seit 2011 die VO (EG) Nr 4/2009 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen (EuUntVO, ABl 2008 L 7, 1, hier nicht abgedruckt).

 

Rn 2

Es bleibt abzuwarten, ob die EuVTVO noch praktisch relevant bleibt, da für die seit dem 10.1.15 anhängig gemachten Verfahren die reformierte Brüssel Ia-VO (VO Nr 1215/2012) gilt, mit der das Exequaturverfahren generell für Zivil- und Handelssachen abgeschafft wurde (Überblick bei von Hein/Imm IWRZ 19, 112; vgl zur Auswahl zwischen den verschiedenen Verfahrensoptionen Bach RIW 18, 549).

 

Rn 3

Am 2.12.20 wurden im ABl EU die reformierten Fassungen der EuZVO (VO [EU] 2020/1783, ABl EU L 405 v 2.12.20, S 1 ff) und der EuBVO (VO [EU] 2020/1784, ABl EU L 405 S 40 ff) bekannt gemacht. Diese treten zum 1.7.22 in Kraft.

B. Räumlicher Geltungsbereich.

 

Rn 4

Die Normen zur justiziellen Zusammenarbeit gelten in allen Mitgliedstaaten der EU mit Ausnahme von Dänemark. Dänemark gilt daher nicht als ›Mitgliedstaat‹ iSd folgenden Normen. Zur EuZVO ist jedoch 2006 zwischen dem Königreich Dänemark und der EU ein völkerrechtliches Abkommen geschlossen worden, aufgrund dessen sich die Geltung der EuZVO auch auf Dänemark erstreckt. Dies wurde vom Königreich Dänemark auch im Hinblick auf die neue Fassung der EuZVO bestätigt, s dazu und generell hilfreich das ›Europäische Justizportal‹ (s.u. Rn 8). Auch die Brüssel-Ia-VO wird vom Königreich Dänemark aufgrund einer völkerrechtlichen Vereinbarung angewandt (ABl EU 2013 L 79/4).

 

Rn 5

Gem Art 67–69 des BREXIT-Austrittsabkommens zwischen Großbritannien und der EU ist die justizielle Zusammenarbeit für eine Übergangsperiode nur noch bis Ende 2020 fortgesetzt worden. Da das Handels- und Kooperationsabkommen keine Regelung zur justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen enthält, sind die EU-Verordnungen nicht mehr anwendbar, für Zustellungen und Beweisaufnahmen gelten das HZÜ bzw das HBÜ (Mankowski EuZW-Sonderausgabe 1/20, 1, 13).

C. Deutsche Gesetzgebung.

 

Rn 6

Der deutsche Gesetzgeber geht mit diesen Vorschriften bisher so um, dass er jeweils spezielle Begleitnormen im 11. Buch erlässt, so zuletzt zur Brüssel-Ia-VO in §§ 1110–1117 ZPO (BGBl 14 I, 890). Das ist nicht unproblematisch, da die genannten EU-Verordnungen ohnehin unmittelbar anwendbar sind und daher keiner Umsetzungsakte bedürfen, welche tendenziell eher die einheitliche Anwendung in der gesamten Union gefährden können (vgl EuGHE 1973, 101, 113). Soweit ergänzende nationale Normen notwendig sind, wäre es der Verständlichkeit und Übersichtlichkeit der Regelungen dienlich gewesen, diese im allgemeinen Verfahrensrecht zu verorten, zB Zustellungsregeln im Zustellungsrecht, Beweisregeln im Beweisrecht usw.

D. Europäisches Prozessrecht und Fair-Trial-Prinzip.

 

Rn 7

Die im Folgenden behandelten Rechtsakte der EU sind von dem Wunsch nach Beschleunigung und Effektivierung der einschlägigen Zivilprozesse in den Mitgliedstaaten geprägt. Dieses legitime Ziel darf aber nicht auf Kosten der in der Union geltenden Menschenrechte erreicht werden. Insbesondere garantieren Art 47 II EU-Grundrechtscharta sowie Art 6 I 1 EMRK jeder Person ein faires Verfahren auch im Zivilprozess. Dasselbe ergibt sich als ›allgemeines Prozessgrundrecht‹ auch aus Art 1, 2 und 20 GG (BVerfGE 109, 38, 60 [BVerfG 05.11.2003 - 2 BvR 1506/03]), soweit diese Vorschriften im europarechtlichen Kontext noch beachtlich sind. Diese rechtstaatlichen Grundsätze müssen durch Wissenschaft und Praxis bei der Anwendung und Auslegung der verhältnismäßig j...

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