Rn 19

Der Freibeweis ist die vom Beweisantritt unabhängige, nicht auf die gesetzlichen Beweismittel beschränkte und von zwingenden Vorschriften über das Beweisverfahren befreite Tatsachenermittlung vAw (Oberheim JuS 96, 1111, 1112; Reißmann JR 12, 182 ff). Bis zur Einführung des § 284 S 2–4 (s dazu Rn 56 ff) war der Freibeweis in der ZPO ohne gesetzliche Grundlage. Nach einhelliger Auffassung macht der Freibeweis keine Ausnahme vom Grundsatz des Vollbeweises; es muss also auch durch den Freibeweis die volle Überzeugung des Gerichts von der zu beweisenden Tatsache begründet werden (BGH NJW 87, 2875, 2876 = ZZP 101, 294, 295 mit Anm Peters; BGH NJW 08, 1531, 1532 [BGH 28.11.2007 - XII ZB 217/05]; MDR 12, 667 [BGH 17.02.2012 - V ZR 254/10]). Im Übrigen finden aber weder die Grundsätze über die Unmittelbarkeit und Parteiöffentlichkeit der Beweisaufnahme Anwendung, noch bedarf es eines Beweisantrages (BGH NJW 19, 76, 77 Rz 34), eines Beweisbeschlusses und eines besonderen Termins zur Beweisaufnahme (BGH NJW 19, 76, 77 [BGH 26.04.2018 - VII ZR 139/17] Rz 34). Darüber hinaus ist das Gericht in der Wahl seiner Erkenntnisquellen frei; es kann etwa eigene Recherchen anstellen, telefonische Auskünfte einholen, schriftliche Zeugenaussagen verwerten (BGH NJW-RR 92, 1338f [BGH 04.06.1992 - IX ZB 10/92]), eidesstattliche Versicherungen (BGH NJW 92, 627, 628 [BGH 16.05.1991 - IX ZB 81/90]; vgl aber BGH NJW 00, 2814: Beweiswert eingeschränkt und zum Beweis der Fristwahrung regelmäßig nicht geeignet), anwaltliche Versicherungen (BGH MDR 20, 433f [BGH 18.12.2019 - XII ZB 379/19]) oder amtliche Auskünfte einholen und Zeugen oder Sachverständige ergänzend per E-Mail befragen (BTDrs 15/1508, 18). Reichen die Erkenntnisquellen des Freibeweises nicht aus, um dem Gericht die volle Überzeugung von der zu beweisenden Tatsache zu verschaffen, muss auf die im Gesetz ausdrücklich genannten Beweismittel des Strengbeweises zurückgegriffen werden (BGH NJW 00, 2814 [BGH 30.03.2000 - IX ZR 53/99]; MDR 20, 431, 432 [BGH 28.01.2020 - VIII ZB 39/19] Rz 18).

 

Rn 20

Die Rspr wendet den Freibeweis va zur Klärung von Tatsachen an, die das Verfahren selbst betreffen und vAw zu prüfen sind. Dazu gehört die Feststellung der vAw zu prüfenden Prozessvoraussetzungen, namentlich der Parteifähigkeit (RGZ 118, 196, 197) einschließlich der Existenz einer Partei (BGH NJW 11, 778, 779 [BGH 29.09.2010 - XII ZR 41/09]), der Prozessfähigkeit (BGH NJW 90, 1734, 1735 = ZZP 103, 464, 467 mit abl Anm Bork; BGH NJW 96, 1059, 1060 = ZZP 110, 109, 110 mit abl Anm Oda; BGHZ 143, 122, 124 = NJW 00, 289, 290), der internationalen Zuständigkeit (BGH NJW 19, 76, 77 Rz 34) und der Prozessführungsbefugnis (BGHZ 125, 196, 202 = NJW 94, 2549, 2550; BGHZ 187, 10, 13 Rz 7 = NJW 10, 3033), die Feststellung der Zulässigkeit von Rechtsmitteln (BGH NJW 05, 3501), insb die fristgerechte Einlegung der Berufung (BGH NJW 20, 1225f [BGH 28.01.2020 - VI ZB 38/17]) und die Einhaltung der Berufungsbegründungsfrist (BGH NJW-RR 12, 509, 510 [BGH 22.12.2011 - VII ZB 35/11] Rz 9), die wirksame Zustellung eines Vollstreckungsbescheides (Hamm NJW-RR 95, 223 [OLG Hamm 24.08.1994 - 20 U 7/94]) sowie die Ermittlung von Beweisverboten (BGH NJW 03, 1123, 1124 = BGHReport 03, 456, 457 [BGH 10.12.2002 - VI ZR 378/01] mit abl Anm Laumen). Ferner findet der Freibeweis Anwendung im Verfahren zur Bewilligung von Prozesskostenhilfe (zu den Möglichkeiten des Gerichts s.o. § 118 Rn 15 ff), im amtsgerichtlichen Bagatellverfahren nach § 495a (MüKoZPO/Prütting Rz 31), in Verfahrensabschnitten ohne mündliche Verhandlung (BGH NJW 08, 1531, 1533 [BGH 28.11.2007 - XII ZB 217/05]), zur Ermittlung fremden Rechts (BGH NJW 61, 410, 411 [BGH 24.11.1960 - II ZR 9/60]; 66, 296, 298; s dazu § 293 Rn 8), Gewohnheitsrechts, Statuten und von Erfahrungssätzen (BGH VersR 71, 129f [BGH 13.10.1970 - VI ZR 34/69]).

 

Rn 21

Ein derart breiter Anwendungsbereich des Freibeweises ist – unbeschadet des Weges über die Zustimmung beider Prozessparteien nach § 284 S 2 – abzulehnen (zur Kritik vgl Peters S 72 ff; St/J/Berger vor § 355 Rz 24; Greger FS Gottwald 14, 207, 210 ff). Die von der hM ins Feld geführten prozessökonomischen Gründe vermögen für sich allein eine Abkehr von den gesetzlichen Prinzipien der Unmittelbarkeit (§ 355 I) und Parteiöffentlichkeit (§ 357) der Beweisaufnahme nicht zu rechtfertigen (zutr MüKoZPO/Prütting Rz 28; Peters ZZP 101, 296, 298; Reißmann JR 12, 182, 186). Diese Grundsätze sollen gerade die Parteien in den Prozess der Beweiserhebung einbeziehen und ihnen Gelegenheit geben, auf die Feststellung des Sachverhalts Einfluss zu nehmen. Darüber hinaus ist eine Differenzierung zwischen den prozessualen und den – ausschließlich dem Strengbeweis unterliegenden – materiell-rechtlichen Tatsachen nicht gerechtfertigt, weil beide für den Ausgang eines Rechtsstreits gleichermaßen von Bedeutung sein können. Der Freibeweis kann deshalb keine Anwendung finden auf die Ermittlung sämtlicher Tatsachen, die unmittelbaren Einfluss auf die ...

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