Gesetzestext

 

(1) War jemand ohne sein Verschulden verhindert, eine gesetzliche Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

(2) Ein Fehlen des Verschuldens wird vermutet, wenn eine Rechtsbehelfsbelehrung unterblieben oder fehlerhaft ist.

A. Zweck der Vorschrift.

 

Rn 1

Abs 1 passt den Anwendungsbereich der Wiedereinsetzung an § 233 ZPO an, während Abs 2 die gesetzliche Vermutung des fehlenden Verschuldens bei dem Unterbleiben einer Rechtsbehelfsbelehrung aufstellt und der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens dient (Begr zu § 17 RegE in BTDrs 16/6308, S 183).

B. Geltungsbereich.

 

Rn 2

Die Bestimmung gilt in Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit und in Familiensachen, sofern keine Sonderregelungen wie in § 105 Abs 1 GBO bestehen, nicht aber in Ehe- und Familienstreitsachen (§ 113 Abs 1 S 1). Nach Abs 5 iVm §§ 233, 234 Abs 1 S 2 ZPO ist auch die Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Frist zur Begründung von Rechtsmitteln möglich. Eine entsprechende Anwendung ist in §§ 367, 368 Abs 2 S 2 und 373 Abs 1 vorgesehen (Holzer/Holzer § 367 Rz 3). Die Anwendbarkeit der §§ 17 ff im Geltungsbereich des § 438 ist str (dazu Ddorf FGPrax 20, 244, 245 [KG Berlin 17.03.2020 - 1 W 298/19]).

C. Voraussetzungen der Wiedereinsetzung (Abs 1).

I. Anwendungsbereich.

 

Rn 3

Abs 1 gilt für alle gesetzlichen Fristen, wie Begründungsfristen für Rechtsmittel (Beschlussempfehlung und Begründung des BT-RA zu § 17 RegE in BTDrs 16/9733, S 288.). Weil in den Kernverfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit Notfristen nicht vorgesehen sind, ist der Anwendungsbereich nicht allzu groß (Maurer FamRZ 09, 465, 473). Nicht anwendbar ist Abs 1 auf Ausschlussfristen, richterliche Fristen (Bumiller/Harders/Schwamb/Bumiller § 17 Rz 5) und Widerrufsfristen für Vergleiche. Die Anforderungen zur Gewährung einer Wiedereinsetzung dürfen nicht überspannt werden und sind mit besonderer Fairness zu handhaben, wenn die Fristversämnis auf Fehlern des Gerichts beruht. Anderenfalls ist der Anspruch der Beteiligten auf ein faires Verfahren aus Art 2 Abs 1, 20 Abs 3 verletzt (BVerfG Beschl v 4.9.20 – 1 BvR 2427/19, juris).

II. Antragsberechtigte.

 

Rn 4

Die Antragsberechtigung ergibt sich aus Abs 1 (Beteiligte und ihre gesetzliche Vertreter, Dritte), für die weiteren Formalien (Frist, Form, Inhalt) gilt § 18.

III. Unverschuldete Fristversäumnis.

 

Rn 5

Abs 1 setzt bei der Fristversäumnis ein fehlendes Verschulden voraus. Dies ist bei unabwendbaren Zufällen (Naturereignis, Unfall) und für jedes Ereignis zu bejahen, das die rechtzeitige Fristwahrung verhindert. Dabei ist unerheblich, ob die Ursache in der Sphäre des Beteiligten liegt (Bumiller/Harders/Schwamb/Bumiller § 17 Rz 8). Die Versäumung der Frist muss auf den unverschuldeten Umständen beruhen.

 

Rn 6

Das Verschulden fehlt, wenn der Beteiligte bei Anwendung der unter Berücksichtigung der konkreten Lage erforderlichen und ihm vernünftigerweise zuzumutenden Sorgfalt die Frist nicht wahren konnte. Auch Rechtsirrtümer und fehlende Rechtskenntnis können einen Wiedereinsetzungsgrund darstellen, wobei die Anforderungen an die Kenntnisse rechtlicher Laien niedriger anzusetzen sind als an die von Rechtsanwälten, bei denen es auf die für eine Prozessführung erforderliche und übliche Sorgfalt ankommt. Das Ausnutzen einer Frist bis zum letzten Tag erhöht die Sorgfaltspflicht (Prütting/Helms/Ahn-Roth § 17 Rz 23b). Eine die Betreuungsbedürftigkeit begründende psychische Erkrankung des Betroffenen stellt alleine noch keinen Grund für eine Wiedereinsetzung dar (BGH MDR 20, 1076, 1077 [BGH 15.07.2020 - XII ZB 78/20]).

 

Rn 7

Das Verschulden eines gesetzlichen bzw bevollmächtigten Vertreters ist dem Beteiligten zuzurechnen. Die Übertragung der Fristenkontrolle auf konkret bestimmtes, geschultes, zuverlässiges und sorgfältig überwachtes Personal ist zulässig; deren Fehler werden dem Prozessbevollmächtigten nicht zugerechnet.

IV. Fehlende Rechtsbehelfsbelehrung.

 

Rn 8

Abs 2 regelt die Folgen einer unterbliebenen bzw fehlerhaften Rechtsbehelfsbelehrung und ergänzt § 39 (Maurer FamRZ 09, 465, 467). Das Gesetz vermutet aus Gründen des Vertrauensschutzes, dass Beteiligte, die keine Rechtsbehelfsbelehrung erhalten haben, ohne Verschulden an der Einhaltung der Rechtsbehelfsfrist gehindert waren (Begr zu § 17 RegE in BTDrs 16/6308, S 183; Oldbg RdL 20, 181 ff). Die Versagung der Wiedereinsetzung verletzt in solchen Fällen den Anspruch der Beteiligten auf ein faires Verfahren aus Art 2 Abs 1, 20 Abs 3 (BVerfG Beschl v 4.9.20 – 1 BvR 2427/19, juris).

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