Gesetzestext

 

(1) In Ausnahmefällen und sofern dies dem Wohl des Kindes entspricht, kann das Gericht eines Mitgliedstaats, das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, in dem Fall, dass seines Erachtens ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats, zu dem das Kind eine besondere Bindung hat, den Fall oder einen bestimmten Teil des Falls besser beurteilen kann,

a) die Prüfung des Falls oder des betreffenden Teils des Falls aussetzen und die Parteien einladen, beim Gericht dieses anderen Mitgliedstaats einen Antrag gemäß Abs. 4 zu stellen, oder
b) ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats ersuchen, sich gemäß Abs. 5 für zuständig zu erklären.

(2) Abs. 1 findet Anwendung

a) auf Antrag einer der Parteien oder
b) von Amts wegen oder
c) auf Antrag des Gerichts eines anderen Mitgliedstaats, zu dem das Kind eine besondere Bindung gemäß Abs. 3 hat.

Die Verweisung von Amts wegen oder auf Antrag des Gerichts eines anderen Mitgliedstaats erfolgt jedoch nur, wenn mindestens eine der Parteien ihr zustimmt.

(3) Es wird davon ausgegangen, dass das Kind eine besondere Bindung im Sinne des Absatzes 1 zu dem Mitgliedstaat hat, wenn

a) nach Anrufung des Gerichts im Sinne des Absatzes 1 das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat erworben hat oder
b) das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat hatte oder
c) das Kind die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt oder
d) ein Träger der elterlichen Verantwortung seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat hat oder
e) die Streitsache Maßnahmen zum Schutz des Kindes im Zusammenhang mit der Verwaltung oder der Erhaltung des Vermögens des Kindes oder der Verfügung über dieses Vermögen betrifft und sich dieses Vermögen im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats befindet.

(4) Das Gericht des Mitgliedstaats, das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, setzt eine Frist, innerhalb deren die Gerichte des anderen Mitgliedstaats gemäß Abs. 1 angerufen werden müssen.

Werden die Gerichte innerhalb dieser Frist nicht angerufen, so ist das befasste Gericht weiterhin nach den Artikeln 8 bis 14 zuständig.

(5) Diese Gerichte dieses anderen Mitgliedstaats können sich, wenn dies aufgrund der besonderen Umstände des Falls dem Wohl des Kindes entspricht, innerhalb von sechs Wochen nach ihrer Anrufung gemäß Abs. 1 Buchstabe a) oder b) für zuständig erklären. In diesem Fall erklärt sich das zuerst angerufene Gericht für unzuständig. Anderenfalls ist das zuerst angerufene Gericht weiterhin nach den Artikeln 8 bis 14 zuständig.

(6) Die Gerichte arbeiten für die Zwecke dieses Artikels entweder direkt oder über die nach Artikel 53 bestimmten Zentralen Behörden zusammen.

A. Normzweck.

 

Rn 1

Absolutes Novum in einem Gemeinschaftsrechtsakt ist Art 15 (s dazu auch Klinkhammer FamRBint 06, 88). Diese Vorschrift ermöglicht es dem international zuständigen Gericht eines Mitgliedstaates, eine Sache betreffend die elterliche Verantwortung (oder einen bestimmten Teil davon) an ein Gericht eines anderen, international nicht zuständigen Mitgliedstaates zu verweisen (EuGH NJW 18, 3455 [BGH 21.03.2018 - VIII ZR 68/17]). Die Regelung entspringt dem Gedanken des forum non conveniens, also der angelsächsischen Lehre, dass bei Vorliegen eines nicht sachdienlichen Gerichtsstandes eine Abgabe zulässig ist. Es handelt sich um eine besondere Zuständigkeitsvorschrift, die restriktiv auszulegen ist (EuGH FamRZ 16, 2071; Anm Pirrung IPRax 17, 562; Anm Dimmler FamRB 17, 14). Der EuGH (FamRZ 09, 843; Anm Völker FamRBint 09, 53; s.a. Pirrung IPRax 11, 50) hat klargestellt, dass ein Gericht, das sich für unzuständig hält oder das auf der Grundlage von Art 20 eine Schutzmaßnahme angeordnet hat, nicht verpflichtet ist, die Sache nach Art 15 an das zuständige Gericht des anderen Mitgliedstaats zu verweisen. In beiden Fällen muss allerdings das nationale Gericht, das sich nach Art 17 für unzuständig erklärt bzw einstweilige Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen durchgeführt hat, direkt oder durch Einschaltung der aufgrund von Art 53 bestimmten Zentralen Behörde das zuständige Gericht des anderen Mitgliedstaats von seiner Unzuständigkeitserklärung bzw der einstweiligen Maßnahme in Kenntnis setzen, wenn der Schutz des Kindeswohls dies erfordert.

Die grenzüberschreitende Verweisung findet sich auch in der neuen Brüssel IIb-VO (Art 12); eine Verweisung ist bei einer wirksam getroffenen Gerichtsstandsvereinbarung dann allerdings nicht mehr möglich.

B. Regelungsgehalt.

 

Rn 2

Obgleich mühsam zu lesen, ist die Vorschrift weitgehend selbsterklärend. Stets setzt sie allerdings – s zu den übrigen Voraussetzungen den Normtext – Folgendes voraus:

  • Die gerichtliche Feststellung einer besonderen Bindung des Kindes an den anderen Mitgliedstaat aufgrund eines besonderen Näheverhältnisses (EuGH NJW 18, 3455; Anm Dimmler FamRB 19, 55) unter Berücksichtigung der in Abs 3 abschließend aufgeführten Umstände (EuGH FamRZ 16, 2071 sowie EuGH IPRax 20, 556 m Anm Heiderhoff, 521; Anm Dimmler FamRB 19, 434),

    • dass die Verweisung dem Kindeswohl entspr...

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