Entscheidungsstichwort (Thema)

Überlanges Gerichtsverfahren. Entschädigungsklage vor Abschluss des gerügten Verfahrens. Entscheidungsreife. Wirksamkeit der Verzögerungsrüge. unangemessene Dauer. keine Regelverfahrensdauer. Erledigungszeit vergleichbarer Verfahren. Umstände des Einzelfalls. Vielzahl gleichzeitiger Entschädigungsklagen. Motivation des Rügenden. sozialgerichtliches Verfahren. Effektiver Rechtsschutz. Richterliche Unabhängigkeit. Musterverfahren

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zwar ist die Angemessenheit der Verfahrensdauer grundsätzlich im Hinblick auf das Verfahren als Ganzes zu beurteilen. Entscheidend ist aber die Entscheidungsreife der Entschädigungsklage. Ist die Entschädigungsklage etwa deshalb entscheidungsreif, weil diese bereits unzulässig ist oder keine wirksame Verzögerungsrüge vorliegt, kommt es auf die Angemessenheit einer gesamten (abzuwartenden) Verfahrensdauer schon gar nicht (mehr) an.

2. Eine Verzögerungsrüge ist wirksam, wenn objektive Umstände vorliegen, die bei vernünftiger Betrachtung, unabhängig von subjektiven Vorstellungen und Empfindungen der Beteiligten, auf eine unangemessene Verfahrensdauer hindeuten. Die Motivation des Rügenden kann jedoch von Bedeutung sein.

3. An die Voraussetzungen einer wirksamen Verzögerungsrüge sind keine allzu hohen Anforderungen zu stellen. Es kommt stets auf die Umstände des Einzelfalles an.

4. Der Zeitpunkt der Beurteilung einer wirksamen Verzögerungsrüge, das heißt der Zeitpunkt des Vorliegens objektiver Umstände, die bei vernünftiger Betrachtung auf eine unangemessene Verfahrensdauer hindeuten, ist der Zeitpunkt der Erhebung. Liegen zu diesem Zeitpunkt keine derartigen objektiven Umstände vor, liegt keine wirksame Verzögerungsrüge vor mit der Folge, dass die Entschädigungsklage unbegründet ist. Eine vormals unwirksame Verzögerungsrüge wird auch nicht etwa deshalb wirksam, weil nachträglich solche Umstände eintreten.

 

Orientierungssatz

1. Es gibt keine Regelverfahrensdauer von einem Jahr bei sozialgerichtlichen Verfahren, bei deren Überschreitung per se die Befürchtung einer unangemessenen Verfahrensdauer gerechtfertigt wäre.

2. Die Bedeutung von statistischen Zahlen zur Erledigungsdauer vergleichbarer Verfahren ist bei den Instanzgerichten weitaus geringer als beim Bundessozialgericht (vgl BSG vom 21.2.2013 - B 10 ÜG 2/12 KL).

3. Betreibt ein Kläger eine Vielzahl von sozialgerichtlichen Klagen und erhebt in sämtlichen anhängigen Gerichtsverfahren zum selben Zeitpunkt und unabhängig von der Dauer des jeweiligen Verfahrens Verzögerungsrügen sowie anschließend in sämtlichen anhängigen Gerichtsverfahren (hier 30 Verfahren) Entschädigungsklagen, spricht einiges dafür, dass das Vorgehen aus prozesstaktischen Erwägungen erfolgt und die Verzögerungsrügen nicht aus Anlass einer Besorgnis erhoben wurden, dass die jeweiligen Verfahren nicht in angemessener Zeit abgeschlossen werden.

 

Normenkette

GVG § 198; SGG § 202 S. 2; GG Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3, Art. 97 Abs. 1; EMRK Art. 6 Abs. 1

 

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die Klägerin Anspruch auf Entschädigung wegen einer unangemessenen Dauer des Verfahrens vor dem Sozialgericht Gotha mit dem Aktenzeichen S 2 KA 7680/11 hat.

Die Klägerin ist zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. Sie führt seit Jahren verschiedene Rechtsstreitigkeiten gegen die K. Thüringen.

Am 16. November 2011 hat sie Klage gegen den Bescheid der K. Thüringen vom 26. August 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Oktober 2011 erhoben. Die Klägerin wendet sich hier gegen den Honorarbescheid für das 1. Quartal 2010. Das Verfahren wurde beim Sozialgericht Gotha unter dem Aktenzeichen S 7 KA 7680/11 (nunmehr S 2 KA 7680/11) geführt.

Mit Verfügung vom 30. November 2011 hat das Sozialgericht der K. Thüringen die Klageschrift mit der Bitte um Aktenübersendung übersandt. Der Klägerin wurde aufgegeben, die Klage innerhalb einer Frist von fünf Monaten zu begründen.

Mit am 15. Februar 2012 eingegangenem Schriftsatz (drei Monate nach Eingang der Klage) hat die Klägerin für insgesamt 33 Gerichtsverfahren "unverzüglich die Dauer der vorliegenden Verfahren beim Sozialgericht Gotha gerügt". Hierunter war auch das hier streitgegenständlich Ausgangsverfahren. (Die Klägerin hat dieses Verfahren irrtümlich mit dem Aktenzeichen S 7 KA 7680/12 bezeichnet).

Mit Verfügungsdatum vom 22. Februar 2012 hat das Gericht Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 20. Juni 2012 bestimmt.

Mit am 29. Februar 2012 eingegangenem Schriftsatz, der als "Verzögerungsrüge" überschrieben ist, hat die Klägerin erklärt, dass Anlass zur Besorgnis bestehe, dass das Verfahren nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen werde. Die Verfahrensdauer habe bereits zum jetzigen Zeitpunkt die Regelverfahrensdauer von einem Jahr überschritten. Die Klägerin verwies darauf, dass ihre Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht wegen überlanger Verfahrensdauer mit A...

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