Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzliche Krankenversicherung. Einstweilige Anordnung. Genehmigung zur Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten. Erstversorgung der Leistung. Anforderungen an den Abwägungsprozess

 

Orientierungssatz

1. Genehmigungsanträge bei der Erstversorgung der Behandlung mit Cannabinoiden sind nur in begründeten Ausnahmefällen von der Krankenkasse abzulehnen.

2. Eine Krankenkasse muss bei Vorliegen einer Verordnung darlegen und beweisen, dass eine Standardbehandlung existiert bzw. diese geeignet ist und keine - wenn auch nur ganz entfernt liegende - Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome durch die Einnahme von Cannabisarzneimitteln besteht.

3. Für den Fall der Nichtanwendbarkeit einer Standardtherapie im Hinblick auf die Nebenwirkungen und den Krankheitszustand ist eine begründete Einschätzung im Sinne einer Folgenabwägung vorzunehmen. Es ist dazulegen, womit im Falle einer schulmedizinischen Standardbehandlung zu rechnen sein wird und wie sich dies konkret auf die versicherte Person auswirkt. Die Nebenwirkungen von Cannabisarzneimitteln müssen in diesem Zusammenhang ebenfalls in die Abwägung einfließen.

 

Tenor

1. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller entsprechend ärztlicher Verordnung die Versorgung mit Cannabisblüten nach § 31 Abs. 6 SGB V bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens zum Az.: S 14 KR 121/17 zu genehmigen.

2. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten um die Genehmigung zur Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten (Cannabis Bedrocan 22 %) im Wege eines einstweiligen Anordnungsverfahrens.

Der 1967 geb. und jetzt 50-jährige Antragsteller (im Folgenden: Kläger) ist bei der Antragsgegnerin (im Folgenden: Beklagte), einer gesetzlichen Krankenkasse, versichert. Er leidet nach eigenen Angaben seit einem Verkehrsunfall im Jahre 1983 an Schmerzen sowie Beschwerden im Bereich der Gelenke im Sinne einer Psoriasis Arthritis und einer Polyneuropathie nach durchgeführter Chemotherapie eines Hodgkinlymphoms. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte erteilte ihm mit Bescheid vom 14.01.2016 eine Erlaubnis nach § 3 Abs. 2 des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG). zum Erwerb von Cannabis (Medizinal-Cannabisblüten).

Der Kläger beantragte mit Schreiben vom 28.03.2017 die Kostenübernahme für die Behandlung mit Cannabisblüten. Er reichte eine Bescheinigung seines Schmerztherapeuten Dr. med. C., Facharzt für Anästhesie, mit Datum vom 22.03.2017 sowie ein rechtsmedizinisches Gutachten des Prof. Dr. Dr. E. vom 25.01.2017 ein. Beide Schreiben sagten eindeutig, dass eine Therapie mit Cannabisblüten bei seiner Erkrankung als geboten und sinnvoll erscheine. Aufgrund früherer Anträge sollten alle notwendigen Unterlagen vorliegen. Er reichte dennoch zahlreiche weitere Krankenunterlagen ein.

Die Beklagte holte bei Frau Dr. D. vom medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) Berlin-Brandenburg ein sozialmedizinisches Gutachten mit Datum vom 19.04.2017 ein. Darin gelangte diese zu dem Ergebnis, die Symptomatik liege in einer schwerwiegenden Ausprägung vor. Niedrigschwelligere Behandlungsoptionen seien glaubhaft ausgeschöpft worden. Es bestehe eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbar positive Entwicklung auf den Krankheitsverlauf oder auf die schwerwiegende Symptomatik durch ein Cannabis-Präparat. Inhalative Cannabis-Produkte seien aufgrund der kurzen Wirkdauer, des schnellen Anflutens, der Gefahr einer Lungenschädigung und Entwicklung eines Abhängigkeitssyndroms nur in Einzelfällen als unbedenklich und zweckmäßig einzustufen. Ein solcher Einzelfall liege hier nicht vor. Die Verordnung von Cannabisblüten widerspreche darüber hinaus bei bestehender Wirksamkeit des deutlich kostengünstigeren Dronabinols dem Gebot einer wirtschaftlichen Verordnungsweise. Kostenübernahme für die Versorgung mit Cannabisblüten könne deshalb sozialmedizinisch nicht befürwortet werden. Die Voraussetzungen für eine Verordnung von z. B. Dronabinol-Tropfen in öliger Lösung lägen vor.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 08.05.2017 die beantragte Kostenübernahme unter Hinweis auf das MDK-Gutachten ab.

Hiergegen legte der Kläger unter Datum vom 16.05.2017 Widerspruch ein. Er wies auf seine betäubungsmittelrechtliche Ausnahmegenehmigung hin und seine Krankengeschichte. Der bereits durchgeführte Therapieversuch mit Dronabinol-Tropfen sei deutlich schlechter gewesen. Er benötige die getrockneten Blüten regelmäßig, um die gravierenden Schmerzen zu lindern. Sein Schmerztherapeut Dr. med. C. habe ihm für die Übergangszeit empfohlen, eine Therapie mit Sativex zu beantragen.

Auf Anfrage der Beklagten reichte der Kläger ein Schreiben des Dr. med. C. vom 24.05.2017 ein. Darin führte dieser aus, wegen der besseren Wirksamkeit habe er für den Kläger Cannabisblüten beantragt. Nach Ablehnung empfehle er Sativex statt Dronab...

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