Leitsatz (amtlich)

Ein zweisitziges Elektrofahrzeug mit einer Höchstgeschwindigkeit von ca. 10 kmh ist ein Hilfsmittel iS von § 33 SGB V.

Die Erforderlichkeit der Versorgung einer Versicherten mit einem solchen Hilfsmittel ist unter Berücksichtigung der Auswirkungen ihrer Behinderung und ihrer konkreten Betreuungssituation zu beurteilen (Anschluß an BSG 08.06.1994 – 3/1 RK 13/93).

 

Tenor

Die Bescheide vom 01.09.1998 und 19.01.1999 werden aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin ein zweisitziges Elektrofahrzeug zu gewähren.

Die Beklagte hat der Klägerin ihre Anwaltskosten zu erstatten.

 

Tatbestand

I.

Die Klägerin ist 1949 geboren, leidet an einer spastischen Tetraparese, ist im Sinne des SchwbG „blind” und nach dem SGB IX „schwerpflegebedürftig; sie ist als Telefonistin erwerbstätig. Sie ist verheiratet und lebt mit ihrem Ehemann zusammen, der zur Fortbewegung auf einen E-Rollstuhl angewiesen und von seiner Krankenkasse, der Beigeladenen, entsprechend versorgt ist.

Ein den Eheleuten von der Beklagten und der Beigeladenen gemeinsam finanziertes zweisitziges Elektrofahrzeug wurde am 29.10.1995 durch einen Brand völlig zerstört; die Teilkaskoversicherung leistete als Versicherungssumme DM 7.400.

Laut Kostenvoranschlag des Sanitätshauses L. vom 24.05.1996 sollte ein gleichwertiges neues Fahrzeug – wie es der Internist Dr. H. der Eheleute am 25.04.1996 und 14.08.1996 verordnet hat – DM 23.803,50 kosten (Modell Graf Carello Duett; ein batteriebetriebenes Elektrofahrzeug für den Nahbereich mit einer stufenlosen Geschwindigkeit bis 10 kmh, welches mit einer Hand beschleunigt, gelenkt und gebremst werden kann).

De Beigeladene lehnte mit Bescheid vom 16.07.1996 unter Berufung auf die ausreichende E-Rollstuhlversorgung des Ehemannes eine Kostenbeteiligung ab, und die Beklagte – die sich am 08.07.1996 bereit erklärt hatte, DM 23.803,50: 2 – DM 7.400 = DM 4.501,75 zu übernehmen – beschied die Klägerin unter dem 01.10.1996 dahin, daß sie mangels Beteiligung der AOK an den Kosten eines Zweisitzers der Klägerin nur die Versorgung „mit einem gängigen Elektrorollstuhl” anbieten könne, womit der Ausgleich für ihre (Geh-)Behinderung gegeben sei, und auf Schreiben des Internisten Dr. H. vom 20.10.1996 erwiderte sie mit Schreiben vom 05.11.1996, das beantragte Fahrzeug diene dem Ausgleich der Behinderung beider Ehepartner, sie, die Beklagte, könne aber nicht Kosten für die Versorgung eines Mitglieds einer anderen Krankenkasse übernehmen.

Die Klägerin – die die Teilkaskoversicherungsleistung nach ihren Angaben vom 09.09.1996 bereits an das Sanitätshaus weitergeleitet hatte – hat sich darauf das Fahrzeug nicht ausliefern lassen.

Im Juli 1998 bat die Klägerin die Beklagte unter Hinweis auf ihre Sehbehinderung um Überprüfung ihrer Entscheidung.

Mit Bescheid vom 01.09.1998 bestätigte die Beklagte ihre frühere Entscheidung: Die Sehbehinderung der Klägerin könne nur durch optische Hilfsmittel ausgeglichen werden; die Bewilligung eines „Carello Duett” bedeutete eine Überversorgung.

Den dagegen von der Klägerin unter Hinweis auf auch ihre seelische Verfassung mit Unterstützung ihrer Nervenärztin Dr. W.-L., ihrer Psychotherpeutin H., des ihren Ehemann behandelnden Psychotherapeuten O. und ihrer Sozialbetreuerin L. eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 19.01.1999 zurück: Die Kosten für den Ausgleich der Behinderung ihres Ehemannes könne nicht zulasten der Versichertengemeinschaft der Beklagten erfolgen.

Hiergegen richtet sich die Klage, zu deren Begründung die Klägerin u.a. vorgebracht hat, daß sie zum Einkaufen, für Behördengänge, zum Aufsuchen ihrer Bank und für soziale Kontakte – auf die sie wegen einer seelischen Beeinträchtigung in besonderem Maße angewiesen sei – einen Rollstuhl benötige, ihn jedoch infolge ihrer Sehbehinderung nicht selbst steuern könne und zum kombinierten Ausgleich ihrer Geh- und Sehbehinderung und zur Schaffung eines das gemeinsame Verlassen der Wohnung mit ihrem Ehemann einschließenden Freiraums das beantragte zweisitzige Fahrzeug benötige; derzeit müsse sie, um die Wohnung zu verlassen, jeweils vier Wochen vorher den Fahrdienst benachrichtigen oder einen Zivildienstleistenden beantragen und könne sich außerhalb der Wohnung nur vor den Ohren eines Dritten mit ihrem Ehemann unterhalten; das begehrte Fahrzeug diene auch nicht einem Behinderungsausgleich ihres mit einem Rollstuhl von der Beigeladenen versorgten Ehemannes.

Die Klägerin beantragt,

die Bescheide vom 01.09.1998 und 19.01.1999 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ein zweisitziges Elektrofahrzeug zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat darauf hingewiesen, daß die Klägerin mit einem Faltrollstuhl versorgt sei.

Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

Das Gericht hat Berichte des Internisten Dr. H. vom 28.10.1999 und der Nervenärztin Dr. W.-L. vom 16.04.2003 sowie eine Auskunft der Psychotherapeutin H. vom 21.05.2003 eingeholt, Arztbriefe über stationäre Behandlungen der Klägerin im AK O. vom ...

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