Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziale Pflegeversicherung. Feststellung von Pflegebedürftigkeit. Zuordnung zu Pflegegrad 5 aufgrund besonderer Bedarfskonstellation gemäß § 15 Abs 4 SGB 11. Erfordernis eines spezifischen, außergewöhnlich hohen Hilfebedarfs mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung. Gebrauchsunfähigkeit beider Arme und Beine. hier: verneint bei angeborener Missbildung/Verkürzung und angeeigneten Kompensationsmechanismen

 

Orientierungssatz

1. Ein spezifischer, außergewöhnlich hoher ("intensiver") Hilfebedarf mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung iSv § 15 Abs 4 S 1 SGB 11 liegt idR bei besonderen Bedarfskonstellationen ("schwerste Beeinträchtigungen") vor; eine besondere Bedarfskonstellation liegt idR bei einer Gebrauchsunfähigkeit beider Arme und Beine vor; von einer Gebrauchsunfähigkeit beider Arme und Beine ist idR bei einem vollständigem Verlust der Greif-, Steh- und Gehfunktionen auszugehen.

2. Die Regelung in § 15 Abs 4 S 1 SGB 11 erfordert neben der Feststellung einer besonderen Bedarfskonstellation, dass aus dieser ein spezifischer, außergewöhnlich hoher Hilfebedarf mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung resultiert (hier: verneint bei einem Versicherten mit angeborener Missbildung/Verkürzung der Arme und Beine mit Reduktion und der Unfähigkeit zum Greifen und Gehen, der sich im Laufe seines Lebens Kompensationsmechanismen angeeignet hat, die ihn in die Lage versetzen, seine Extremitäten - unter Nutzung geeigneter Hilfsmittel - für einzelne pflegeversicherungsrechtlich relevante Verrichtungen einzusetzen).

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 22.02.2024; Aktenzeichen B 3 P 1/22 R)

 

Tenor

I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Chemnitz vom 9. Juli 2019 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob beim Kläger eine besondere Bedarfskonstellation vorliegt und er allein deshalb Anspruch auf die Gewährung von Leistungen nach dem Pflegegrad 5 hat.

Der 1962 geborene Kläger ist bei der Beklagten Mitglied in der sozialen Pflegeversicherung und bezog zuletzt seit Januar 2017 Leistungen des Pflegegrades 2. Er leidet vorrangig an einer angeborenen Missbildung/Verkürzung der Arme und Beine mit Reduktionsdefekten und der Unfähigkeit zum Greifen und Gehen. Seinen am 21. Juni 2017 gestellten Höherstufungsantrag lehnte die Beklagte zunächst - nach Einholung eines Gutachtens bei der Sachverständigen im Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) Sachsen Z.., welche nach Hausbesuch am 15. August 2017 folgende (gewichtete) Punkte ermittelt hatte: Modul 1: 2,5; Module 2, 3 und 5: jeweils 0; Modul 4: 30; Modul 6: 3,75; Summe an (gewichteten) Punkten von 36,25 - mit Bescheid vom 15. August 2017 ab. Dem am 18. September 2017 eingelegten Widerspruch half die Beklagte - nach Einholung eines weiteren Gutachtens bei der Sachverständigen im MDK Sachsen X., welche nach Hausbesuch am 15. Dezember 2017 folgende (gewichtete) Punkte ermittelt hatte: Modul 1: 7,5; Module 2 und 3: jeweils 0; Modul 4: 30; Modul 5: 5; Modul 6: 7,5; Summe an (gewichteten) Punkten von 50,00 - mit Bescheid vom 15. August 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. März 2018 teilweise ab und bewilligte dem Kläger ab 1. Juni 2017 Leistungen nach dem Pflegegrad 3.

Auf die am 23. April 2018 erhobene - und auf die Gewährung von Leistungen nach dem Pflegegrad 5 allein auf Grund des Vorliegens einer besonderen Bedarfssituation gerichtete - Klage hat das Sozialgericht Chemnitz (SG) zunächst Befundberichte der behandelnden Ärzte und Einrichtungen beigezogen und ferner die Pflegesachverständige Y.. mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt. Diese hat nach Hausbesuch am 8. März 2019 folgende (gewichtete) Punkte ermittelt: Modul 1: 5; Module 2 und 3: jeweils 0; Modul 4: 3; Modul 5: 5; Modul 6: 7,5. Daraus ergab sich eine Summe an (gewichteten) Punkten von 48,75. Die Sachverständige hat die aktenkundigen und pflegerelevanten Diagnosen bestätigt und ausgeführt, der Kläger habe gelernt, mit seiner Behinderung im Alltag zurecht zu kommen. Er benötige zwar weiterhin bei zahlreichen Verrichtungen die Hilfe Dritter, könne jedoch zum Beispiel den ÖPNV in der Regel selbstständig nutzen, sich im Rollstuhl durch Abdrücken mit dem weitgehend intakten Bein rückwärts fortbewegen oder sich vorgekochtes und zerkleinertes Essen selbst warm machen und mit Gabel und Löffel - welche am rechten Arm mittels eines Armbandes befestigt seien - selbstständig essen. Psychische oder mentale Einschränkungen bestünden nicht. Eine generelle Gebrauchsunfähigkeit beider Arme und Beine oder ein durch die Funktionseinschränkungen der Extremitäten bedingter außergewöhnlich hoher Hilfebedarf mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung liege im Rechtssinne nicht vor. Der Kläger könne zwar im herkömmlichen Sinne weder Greifen, Stehen o...

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