Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen G. erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr. Versorgungsmedizinische Grundsätze. Verordnungsermächtigung. Ungeeignetheit von Gehtests. Berücksichtigung von psychischen Erkrankungen. somatoforme Schmerzstörung. Unterschied zwischen Orientierungsschwierigkeit und schmerzbedingter Einschränkung der Bewegungsfähigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

Ein gravierendes Ganzkörpererleben mit einem Grad der Behinderung 50 wirkt sich, orientiert am tatsächlich bestehenden Zustand, final betrachtet als behinderungsbedingte Einschränkung des Gehvermögens unmittelbar auf die Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr aus und rechtfertigt die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs G auch dann, wenn es nicht organisch veranlasst, sondern psychisch bedingt ist.

 

Orientierungssatz

1. Es ist danach zu differenzieren, ob die psychische Störung dazu führt, dass der behinderte Mensch daran gehindert ist, sich im Straßenverkehr bzw öffentlichen Raum zurechtzufinden oder wie hier - schmerzbedingt - tatsächlich in seinem Gehvermögen eingeschränkt ist.

2. Gehtests sind zur Beurteilung des Nachteilsausgleichs G nicht geeignet.

3. Ob die VersMedV hinsichtlich der Nachteilsausgleiche auf einer ausreichenden Ermächtigungsrundlage beruht (hier tendenziell bejaht), kann dahingestellt bleiben. Im Ergebnis hat die Frage der Wirksamkeit der VersMedV keine Auswirkungen auf die maßgeblichen Bewertungsgrundlagen, denn die Anlage der VersMedV entspricht in Teil D Nr 1 von redaktionellen Anpassungen abgesehen den früheren AHP Teil B Nr 30.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 11.08.2015; Aktenzeichen B 9 SB 1/14 R)

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 05.03.2012 geändert. Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 06.07.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.08.2009 verurteilt, bei der Klägerin die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G" festzustellen.

Der Beklagte hat der Klägerin drei Viertel der Kosten des Klageverfahrens sowie die Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten noch um die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr" (G).

Bei der am 00.00.1969 geborenen Klägerin stellte der Beklagte mit Bescheid vom 29. 08. 2008 den Grad der Behinderung (GdB) mit 40 fest. Nach der gutachterlichen Stellungnahme vom 22.08.2008 berücksichtigte der Beklagte ein Wirbelsäulensyndrom mit Bandscheibenschaden und Nervenwurzelreizungen (GdB 20), ein Erschöpfungssyndrom, Somatisierungsstörung, Schmerzverarbeitungsstörung (GdB 30), allergische Bronchitis, allergische Diathese, mit allergischer Hauterkrankung (GdB 10) sowie Hautleiden mit Gelenkerkrankung (GdB 20).

Am 18.5.2009 beantragte die Klägerin die Feststellung eines höheren GdB. Der Beklagte holte Befundberichte und Arztbriefe ein, unter anderem des N-hospitals B, wo sich die Klägerin in der Zeit vom 21.10. bis 4.11.2008 in vollstationärer schmerztherapeutischer Behandlung befand. In dem Bericht vom 4.11.2008 wird der Befund einer Fibromyalgie beschrieben. Danach erfolgte in der LWL-Tagesklinik Warstein eine weitere schmerztherapeutischer Behandlung. Der Beklagte wertete weiterhin ein für die Deutsche Rentenversicherung Westfalen (RV Westfalen) am 01.04.2009 erstelltes psychiatrisches Gutachten von Dr. G aus. Dieser hatte eine rezidivierende depressive Störung schwergradiger Ausprägung mit Somatisierung bei chronischem Schmerzsyndrom, Cervicocephalgien, Cervicobrachialgien und Lumbalgien sowie eine Psoriasisarthritis diagnostiziert. Er war im Hinblick auf die Ausprägung und Dauer der von ihm angenommenen komplexen Störung von einer wesentlichen und dauerhaften Einschränkung der Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit der Klägerin für das Erwerbsleben ausgegangen.

Mit Bescheid vom 06.07.2009 stellte der Beklagte ab 18.05.2009 einen GdB von 50 fest. Die zugrundeliegenden Beeinträchtigungen bezeichnete er wie folgt:

1. Erschöpfungssyndrom, Somatisierungsstörung, Schmerzverarbeitungsstörung, rezidivierende depressive Störung (Einzel-GdB 50);

2. Wirbelsäulensyndrom, Bandscheibenschaden mit Nervenwurzelreizungen, Tendomyopathie (Einzel-GdB 20);

3. Hautleiden mit Gelenkerkrankung (Einzel-GdB 20);

4. allergische Bronchitis, allergische Diathese, allergische Hauterkrankung (Einzel-GdB 10).

Die Zuerkennung des Nachteilsausgleich G lehnte er ab. Den Widerspruch der Klägerin, zu deren Begründung diese sich insbesondere auf die Ausführungen von Dr. G bezog, wies die Bezirksregierung Münster mit Widerspruchsbescheid vom 17.8.2009 zurück.

Die Klägerin hat am 15.9.2009 Klage beim Sozialgericht Münster (SG) erhoben, mit welcher sie einen höheren GdB als 50 sowie das Merkzeichen "G" begehrt und zur Begründung ausgeführt hat, ihre maximale Gehstrecke betrage schmerzbedingt weniger als 500 m. Zudem seien die Beschwerden an der Wirbelsäule mit 30 zu bewerten. E...

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