Entscheidungsstichwort (Thema)

Insolvenzgeldanspruch. Abschluss des Arbeitsvertrags nach Eröffnung des vorläufigen Insolvenzverfahrens. keine Gesetzes- bzw Sittenwidrigkeit. Verfügung über das Arbeitsentgelt. Verfügung über das Insolvenzgeld. isolierte Abtretung. hinreichend bestimmte Abtretungserklärung. Abtretung des Insolvenzgeldanspruchs an Insolvenzverwalter durch Forderungskauf zum Nettolohnpreis zur Vorfinanzierung. Erfüllung aus der Insolvenzmasse. sozialgerichtliches Verfahren. Kostenpflichtigkeit. Nachholung der unterlassenen Streitwertfestsetzung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben auch dann Anspruch auf Insolvenzgeld , wenn sie nach dem Antrag auf ein Insolvenzverfahren, aber vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens als Arbeitnehmer eingestellt werden. Ein entsprechender Arbeitsvertrag verstößt weder gegen die §§ 165, 169, 170 SGB III, noch gegen die §§ 134, 138 BGB.

2. Eine Arbeitnehmerin kann nach Beantragung bis zur bestandskräftigen Ablehnung von Insolvenzgeld nicht mehr über einen eventuellen unerfüllten Anspruch auf Arbeitsentgelt verfügen.

3. Die im Grundsatz mögliche isolierte Abtretung eines Anspruchs auf Insolvenzgeld nach dessen Beantragung an einen Dritten erfordert eine hinreichend bestimmte Abtretungserklärung (hier verneint).

4. Erwirbt der Insolvenzverwalter eines nach einem Insolvenzantrag weiter betriebenen Unternehmens den Anspruch einer Arbeitnehmerin auf Insolvenzgeld im Wege eines Forderungskaufvertrages gegen eine aus der Insolvenzmasse geleisteten Zahlung in Höhe des ausstehenden Nettoarbeitsentgelts, stellt dies eine formaljuristische Umgehung der Vorgaben des SGB III zur Vorfinanzierung von Insolvenzgeld dar, die die Bundesagentur ohne ihre vorherige Zustimmung nicht zur Zahlung von Insolvenzgeld verpflichtet.

5. Das auf die Erfüllung eines abgetretenen Insolvenzgeldanspruchs gerichtete Klageverfahren ist gerichtsgebührenpflichtig. Eine erstinstanzlich unterbliebene Streitwertfeststellung kann das Berufungsgericht nachholen.

 

Normenkette

SGB III § 165 Abs. 1 Sätze 1, 2 Nrn. 1, 3, Abs. 3, §§ 169, 170 Abs. 1, 4 S. 2, § 171 S. 1, § 324 Abs. 3 Sätze 1-2; BGB §§ 134, 138 Abs. 1, § 405; InsO § 1 S. 1, § 21 Abs. 1-2; AFG § 141b Abs. 4; SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1, § 183 Sätze 1-2, § 197a Abs. 1 S. 1; GKG § 52 Abs. 3-4, § 63 Abs. 3 S. 1 Nr. 2; VwGO § 154 Abs. 1-2; SGB I § 56

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 6. Oktober 2016 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Der Kläger hat die Kosten für beide Rechtszüge zu tragen.

Der Streitwert wird mit 994,73 Euro festgesetzt.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt von der Beklagten Insolvenzgeld (Insg) aus abgetretenem Recht.

Die E. mit Sitz in F. (Arbeitgeberin) bot im Wesentlichen Reinigungs- und Verpackungsarbeiten für verschiedene Unternehmen u. a. der fleischverarbeitenden Industrie an und beschäftigte zuletzt 26 überwiegend aus Ungarn stammende Arbeitnehmer. Am 2. April 2015 beantragte der Geschäftsführer der Arbeitgeberin ein Insolvenzverfahren über das Vermögen der E.. Mit Beschluss des Amtsgerichts (AG) G. vom selben Tag - 7 IN 27/15 - wurde der Kläger zum vorläufigen Insolvenzverwalter bestellt. Der Geschäftsbetrieb wurde fortgeführt und das Unternehmen später veräußert.

Der Kläger schloss mit dem Bankhaus H. in I. (Bank) eine Rahmenvereinbarung über die Vorfinanzierung von Insg für die Monate März bis Mai 2015. Die Beklagte stimmte der Vorfinanzierung für die Monate März und April 2015 zu.

Ab dem 16. April 2015 stellte die Arbeitgeberin mit Zustimmung des Klägers vierzehn Arbeitnehmer neu ein, weil in der fleischverarbeitenden Industrie jahreszeitenbedingt ein höherer Personalbedarf bestand und deshalb ausgeschiedene Arbeitnehmer zur Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebes ersetzt werden mussten. Unter den Neueingestellten befand sich die 1965 geborene, als Packhilfe eingestellte ungarische Staatsangehörige Frau J. (H.). H. erzielte im Mai 2015 ein Nettoarbeitsentgelt in Höhe von 1.154,73 Euro und erhielt von der Arbeitgeberin 160,- Euro sowie von der Bank im Rahmen der Vorfinanzierung 100,- Euro ausbezahlt (verbleibende Differenz 894,73 Euro). Das Arbeitsverhältnis endete nach ihrer Kündigung am 31. Mai 2015. Das Insolvenzverfahren wurde am 1. Juni 2015 eröffnet.

H. beantragte am 16. Juni 2015 Insg für den Monat Mai 2015. Im Zuge eines bis zum 30. Juni 2015 zwischen den Beteiligten geführten E-Mail-Verkehrs vertrat die Beklagte die Ansicht, dass die im vorläufigen Insolvenzverfahren eingestellten Arbeitnehmer grundsätzlich keinen Anspruch auf Insg hätten. Mit dem “Forderungskaufvertrag„ vom 1. Juli 2015 erwarb der Kläger von H. gegen eine aus der Insolvenzmasse geleistete Zahlung in Höhe von 994,73 Euro ihre “pauschalierten Ansprüche auf Nettoarbeitsentgelt für den Monat Mai 2015„ gegenüber der Arbeitgeberin E. in gleicher Höhe. H. trat ihre Ansprüche gegen die Arbeitgeberin sowie “in Höhe des gesamten pauschalierten Betrages alle bestehenden und...

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