Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Entscheidung über Gültigkeit von Satzungen nach § 22a SGB 2. Antragsbefugnis. Ermächtigungsgrundlage. Zuständigkeit des Landesgesetzgebers im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung. kein Verstoß gegen Art 84 Abs 1 S 7 GG. hinreichende Bestimmtheit. Berliner Wohnaufwendungenverordnung (juris: WAufwV BE). besondere Begründungspflichten. Ermächtigungskonformität der Bildung einer Gesamtangemessenheitsgrenze. Unwirksamkeit der konkreten Ausgestaltung. Unwirksamkeit der Regelungen des § 6 WAufwV BE. Unwirksamkeit der Verordnung insgesamt. keine Abtrennbarkeit

 

Orientierungssatz

1. Der Umstand, dass die Antragsteller nicht durch alle Bestimmungen der zur Überprüfung gestellten Norm betroffen sind, steht einer umfassenden Antragsbefugnis nicht entgegen. Eine einschränkende Auslegung des Antrags ist nur zu erwägen, wenn sich die Normenkontrolle auch gegen solche Teile der Norm richtet, die offensichtlich abtrennbar sind und auf die sich die die Antragsbefugnis begründende, mögliche Rechtsverletzung nicht bezieht.

2. Es begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass § 22a Abs 1 SGB 2 eine Zuständigkeit des Landesgesetzgebers im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung begründet.

3. Das in Art 84 Abs 1 S 7 GG enthaltene Verbot einer Aufgabenübertragung an Gemeinden und Gemeindeverbände durch Bundesgesetz ist auf Fälle, in denen der Eintritt der Rechtswirkung des Bundesgesetzes vom Erlass eines Landesgesetzes abhängig ist, nicht anzuwenden.

4. Für eine Verordnung nach § 8 SGB2AG BE 2011 gelten aufgrund der Verweisung dieser Vorschrift auf die §§ 22a bis 22c SGB 2 die in den §§ 22b Abs 2 S 1 und 2 sowie 22c Abs 1 S 4 SGB 2 bestimmten besonderen Begründungspflichten.

5. Die Ermächtigungsgrundlage - § 8 SGB2AG BE 2011 iVm den §§ 22a bis 22c SGB 2 - ist im Lichte der Rechtsprechung des BSG zur Ermittlung der angemessenen Unterkunfts- und Heizkosten auszulegen und damit hinreichend bestimmt iS des Art 64 Abs 1 S 2 Verf BE.

6. Die Bildung einer Gesamtangemessenheitsgrenze ist von der Ermächtigung gedeckt. Sie ist jedoch in ihrer konkreten Ausgestaltung durch § 4 S 1 iVm § 3 WAufwV BE unwirksam.

7. Die Heranziehung eines Grenzwertes, dessen Überschreitung unwirtschaftliches Heizverhalten vermuten lässt, zur Bildung der Gesamtangemessenheitsgrenze ist unzulässig. Eine in zulässiger Weise gebildete Gesamtangemessenheitsgrenze muss mit einem methodisch akzeptabel ermittelten Wert für den abstrakt angemessenen Bedarf für Heizung operieren.

8. Der Umstand, dass die Gesamtangemessenheitsgrenze keinen Bestand hat, führt zur Unwirksamkeit der WAufwV BE insgesamt. Alle weiteren Bestimmungen bauen auf dieser Regelung auf bzw ergänzen sie. Der Fehler wirkt sich daher auf alle Teile der Verordnung aus.

9. Die in § 6 WAufwV BE getroffenen Regelungen sind zum Teil ohne Ermächtigung bzw nicht ermächtigungskonform.

 

Tenor

Die Verordnung zur Bestimmung der Höhe der angemessenen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (Wohnaufwendungenverordnung - WAV) vom 03. April 2012 (Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin, Seite 99) ist unwirksam.

Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller zu tragen.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Antragsteller begehren die Feststellung der Unwirksamkeit der vom Senat von Berlin in seiner Sitzung vom 03. April 2012 unter Berufung auf § 8 des Gesetzes zur Ausführung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (AG-SGB II) erlassenen Verordnung zur Bestimmung der Höhe der angemessenen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (Wohnaufwendungenverordnung - WAV), die am 13. April 2012 verkündet worden (Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin ≪GVBl≫ S 99) und am 01. Mai 2012 in Kraft getreten ist (§ 8 WAV).

Die Antragsteller stehen im Leistungsbezug nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Der im August 2007 geborene Antragsteller zu 2 ist der Sohn der erwerbsfähigen und ledigen 1966 geborenen Antragstellerin zu 1, der das alleinige Sorgerecht zusteht. Sie bewohnen gemeinsam (bis zum 31. Juli 2008 mit einer erwachsenen männlichen Person) eine ca 83,91 qm große Drei-Zimmer-Wohnung unter der im Rubrum angegebenen Adresse (nach dem Straßenverzeichnis des Berliner Mietspiegels in einer mittleren Wohnlage), die durch eine Zentralheizung mit Wärme und Warmwasser versorgt wird. Die Sanierung der Wohnung erfolgte mit Fördermitteln des Berliner Senats; die Wohnung unterliegt daher einer besonderen (Netto-)Mietobergrenze, die seit dem 01. Januar 2012 4,85 EUR pro qm beträgt (Bekanntmachung der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung: Besondere Mietobergrenze für die 1995 bis 2001 geförderten Projekte umfassender Modernisierung, Amtsblatt für Berlin ≪ABl≫ 2010, S 607). Für diese Wohnung hatte die Antragstellerin zu 1 ursprünglich eine Bruttowarmmiete von monatlich 577,42 EUR zu zahlen. Jedenfalls seit dem 01. Januar 2012 schuldet sie eine solche...

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