Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Apotheker. Arzneimittelabgabe. Retaxierung nicht vom Leistungskatalog der GKV erfasster Medikamente. Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung in Fällen einer lebensbedrohenden, tödlich verlaufenden Erkrankung auch bei Versorgung mit Arzneimitteln. Anspruch auf Versorgung mit nicht zugelassenen Import-Fertigarzneimitteln

 

Leitsatz (amtlich)

Die Krankenkasse hat keinen Erstattungsanspruch gegen einen Apotheker (Retaxierung), der aufgrund einer vertragsärztlichen Verordnung ein im Wege des Einzelimports nach § 73 Abs 3 AMG beschafftes Arzneimittel an eine Versicherte als Sachleistung abgibt, wenn die Versicherte im Einzelfall zur Behandlung eines multiplen Myeloms (Knochenmarkkrebs) Anspruch auf dieses Arzneimittel (hier: Thalidomid; früherer Handelsname Contergan) hat. Die Abgabe des Arzneimittels durch den Apotheker ist nicht von einer vorherigen Genehmigung der Krankenkasse abhängig.

 

Orientierungssatz

Die vom BVerfG zum Anspruch von Versicherten auf ärztliche Behandlung mit nicht allgemein anerkannten Methoden im Beschluss vom 6.12.2005 - 1 BvR 347/98 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5 entwickelten Grundsätze gelten sinngemäß auch im Bereich der Versorgung mit Arzneimitteln. Dies bedeutet, dass Versicherte in notstandähnlichen Situationen unter engen Voraussetzungen von ihrer Krankenkasse die Versorgung mit arzneimittelrechtlich in Deutschland nicht zugelassenen Import-Fertigarzneimitteln beanspruchen können (vgl BSG vom 4.4.2006 - B 1 KR 7/05 R = SozR 4-2500 § 31 Nr 4).

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 28.09.2010; Aktenzeichen B 1 KR 3/10 R)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 25. September 2008 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.

Die Revision wird zugelassen.

Der Streitwert wird auf 20.051,50 € festgesetzt.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte zu Recht die bereits gezahlte Vergütung für das von Juli bis Dezember 2005 an die Versicherte (G. N.) gegebene Arzneimittel Thalidomid in Höhe von 20.051,50 € mangels vorheriger Genehmigung durch die Beklagte zurückgefordert und gegen unstreitige Vergütungsforderungen des Klägers aus späteren Arzneimittelabgaben aufgerechnet hat (Retaxierung).

Der Kläger ist Apotheker sowie Mitglied des Apothekerverbandes Baden-Württemberg e.V. und beliefert auch Versicherte der Beklagten. In der Zeit von Juli bis Dezember 2005 gab er an die am 13. Mai 1936 geborene und am 29. Mai 2007 verstorbene Versicherte nach Vorlage vertragsärztlicher Rezepte der behandelnden Internistin Dr. E. (Bl. 2, 4, 9, 10, 18, 19 V-Akte) das zum damaligen Zeitpunkt nicht zugelassene Arzneimittel Thalidomid ab. Dafür erhielt er von der Beklagten den Abgabepreis in Höhe von insgesamt 20.051,50 €. Die Versicherte litt an einem multiplen Myelom (Knochenmarkstyp IgG-Kappa Stadium III b) mit Metastasen im Bereich des gesamten Knochens und Blutarmut. Dabei handelt es sich um eine besonders aggressive Form von Knochenmarkkrebs. Diese lebensbedrohliche Krankheit galt jedenfalls im Jahr 2005 bis auf wenige Ausnahmen als unheilbar.

Thalidomid war bis 1961 unter der Produktbezeichnung Contergan ® als Schlafmittel zugelassen. Die Substanz wirkt beim Menschen hochgradig teratogen (fruchtschädigend). In den 1950er und zu Beginn der 1960er Jahre wurde Contergan ® ua von schwangeren Frauen als Seditativum (Beruhigungsmittel) sowie gegen Übelkeit und Erbrechen in der Schwangerschaft eingenommen. In Folge der fruchtschädigenden Wirkung wurden Tausende Kinder mit schwerwiegenden, durch Thalidomid verursachten Fehlbildungen geboren. Später zeigte sich, dass die Substanz Thalidomid bei der Behandlung des multiplen Myeloms wirksam ist. In Australien und den USA erfolgte eine Zulassung für Thalidomid zur Behandlung von Patienten mit multiplem Myelom in den Jahren 2003 bzw 2006, in Deutschland wie in den übrigen Mitgliedsländern der Europäischen Union (EU) erst im Jahr 2008. In der Zulassungsentscheidung der Europäischen Kommission wurden die EU-Mitgliedstaaten verpflichtet, in ihrem nationalen Zuständigkeitsbereich die Einhaltung entsprechender Auflagen für ein Sicherheitskonzept sicherzustellen. Aufgrund einer Änderung der Arzneimittelverschreibungsverordnung (AMVV) vom 21. Dezember 2005 (BGBl I S 3632) durch Art 1 der Verordnung vom 2. Dezember 2008 (BGBl I S 2338), bei der mit Wirkung vom 8. Februar 2009 § 3a AMVV eingefügt worden ist, dürfen Arzneimittel, welche den Wirkstoff Thalidomid enthalten, nur noch auf ein Sonderrezept gemäß einem Vordruck des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte abgegeben werden. Die Zulassung von Thalidomid gilt für die Erstlinienbehandlung von Personen mit unbehandeltem multiplem Myelom ab einem Alter von ³ 65 Jahren bzw von Patienten, für die eine hochdosierte Chemotherapie nicht in Frage kommt.

Die Beklagte beanstandete die Arzneimittelabgaben des Klägers mit Schreiben vom 5. Mai 2006, 16. Juni 2006, 4. August 2006 und 29....

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