Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziale Pflegeversicherung. Pflegevergütung. Bildung einer Pflegesatzkommission. Pflicht der Beteiligten zur Mitwirkung. Totalverweigerung. Funktion der kollektiven Pflegesatzvereinbarung. Vereinfachung. Verhandlungsmacht

 

Leitsatz (amtlich)

1. Aus Normtext, Gesetzeshistorie, systematischer Stellung des § 86 SGB 11 im Bereich des Leistungserbringungsrechts der stationären Pflege sowie aus der Funktion und dem Zweck einer Pflegesatzkommission ist herzuleiten, dass deren Errichtung nicht in das Belieben der in § 86 Abs 1 SGB 11 aufgeführten Beteiligten gestellt ist. Maßgebliches Strukturprinzip der Norm ist, dass sie zum Einen eine Vereinfachung des Pflegesatzbestimmungsverfahrens durch kollektive Pflegesatzvereinbarungen, die an die Stelle der individuellen Pflegesatzvereinbarungen nach § 85 treten, ermöglicht bzw durch verbindliche Verfahrens- und Festlegungsgrundsätze erleichtert. Zum Anderen stellt § 86 SGB 11 ein auch verfassungsrechtlich gebotenes Gegengewicht zu der eher sozialträgerfreundlichen Struktur des Verfahrens der Individualvergütungsvereinbarung dar. Er stärkt die Verhandlungsmacht der einzelnen Pflegeeinrichtungen, die im Rahmen der Pflegesatzkommission als Kollektiv agieren können.

2. Die in § 86 Abs 1 SGB 11 aufgeführten Beteiligten trifft die Rechtspflicht, an dem Akt der Konstituierung einer Pflegesatzkommission mitzuwirken. Deshalb ist die Einnahme einer Haltung der Totalverweigerung rechtswidrig.

3. Die Rechtspflicht zur Mitwirkung an der Bildung einer Pflegesatzkommission entfällt auch nicht deswegen, weil § 86 SGB 11 - anders als jüngst in das SGB 11 aufgenommene Normen, zB § 92c SGB 11 - keinen Konfliktlösungsmechanismus für den Fall der Nichteinigung der Beteiligten vorsieht.

 

Tenor

Auf die Berufung der Kläger wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 4. Juni 2009 in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 13. Juli 2010 aufgehoben und die Beklagten werden verpflichtet, an der Bildung einer Pflegesatzkommission nach § 86 SGB XI mitzuwirken.

Die Beklagten haben die Kosten des Verfahrens beider Instanzen gesamtschuldnerisch zu tragen.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Kläger begehren die Verurteilung der Beklagten dazu, an der Bildung einer landesweit tätigen Pflegesatzkommission gemäß § 86 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Soziale Pflegeversicherung (SGB XI) mitzuwirken.

Bei den Klägern zu 1. bis 14. handelt es sich um Leistungserbringer-Organisationen aus dem Bereich der stationären Pflege. Sie betreiben Pflegeheime, in denen überwiegend in der sozialen Pflegeversicherung versicherte Heimbewohner untergebracht sind, zu denen teilweise auch Personen gehören, die nach den §§ 61 ff Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe (SGB XII) Leistungen in Form der Hilfe zur Pflege beziehen. Insoweit ist der Landeswohlfahrtsverband Hessen betroffen, der als Beklagter zu 3. Beteiligter ist. Bei den übrigen Beklagten handelt es sich um die Kostenträger-Vereinigungen nach dem SGB XI, die als Verbände der Pflegekassen in Hessen bzw. als eigenständige Pflegekassen sowie als Verband der privaten Krankenversicherung e.V. auftreten. Beigeladen ist das Land Hessen, vertreten durch das Hessische Sozialministerium im Hinblick auf seine Aufsichtsfunktion.

§ 85 SGB XI bestimmt, dass Art, Höhe und Laufzeit der Pflegesätze individuell zwischen dem Träger des Pflegeheimes und den Pflegkassen oder sonstigen Sozialversicherungsträgern, den für die Bewohner des Pflegeheimes zuständigen Trägern der Sozialhilfe sowie den Arbeitsgemeinschaften der vorgenannten Träger für jedes Pflegeheim gesondert zu vereinbaren sind. Für den Fall, dass eine Pflegesatzvereinbarung innerhalb von 6 Wochen nicht zustande kommt nachdem eine Vertragspartei schriftlich zu Pflegesatzvereinbarungen aufgefordert hat, sieht § 85 Abs. 5 SGB XI vor, dass die nach § 76 SGB XI gebildete Schiedsstelle auf Antrag einer Vertragspartei die Pflegesätze unverzüglich festsetzt. § 75 SGB XI gibt vor, dass Kollektiv-Rahmenverträge für jedes Bundesland mit von Abs. 2 dieser Norm vorgegebenen Mindestinhalten zwischen den in Abs. 1 aufgeführten Beteiligten (unter anderem den Landesverbänden der Pflegekassen und den Vereinigungen der Träger der stationären Pflegeeinrichtungen im Land) abzuschließen sind. Solche Rahmenverträge sind für die Pflegkassen und die zugelassenen Pflegeinrichtungen im Inland unmittelbar verbindlich (§75 Abs. 1 letzter Satz SGB XI). Diese Rahmenverträge können im Nichteinigungsfall von der Schiedsstelle nach § 76 SGB XI festgesetzt werden.

§ 86 Abs. 1 SGB XI, der mit Wirkung zum 01.01.1995 durch Art. 1 Pflege-Versicherungsgesetz (PflegeVG) geschaffen wurde, lautet wie folgt:

(1) Die Landesverbände der Pflegekassen, der Verband der privaten Krankenversicherung e.V., die überörtlichen oder ein nach Landesrecht bestimmter Träger der Sozialhilfe und die Vereinigungen der Pflegeheimträger im Land bilden regional oder landesweit tätige Pflegesatzkommissionen, die anstelle der Vertragspa...

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