Entscheidungsstichwort (Thema)

Rehabilitation und Teilhabe. Krankenversicherung. Rentenversicherung. Antrag auf Hörgeräteversorgung. Zuständigkeitsklärung. rechtswidrige Leistungsablehnung. Kostenerstattungsanspruch ausgeschlossen, wenn Versicherter von vornherein Systemgrenzen nicht beachten will. kein berufsbedingter Mehrbedarf zulasten des Rentenversicherungsträgers bei medizinischer Notwendigkeit einer höherwertigen Ausstattung bereits für den Alltagsgebrauch. leistungsrechtliche Verantwortung des Rehabilitationsträgers. ordnungsgemäße Einzelfallprüfung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Eine Kostenerstattung ist nach § 13 Abs 3 S 1, 2. Fall SGB V oder § 15 Abs 1 S 4, 2. Fall SGB IX ausgeschlossen, wenn Versicherte von vornherein Systemgrenzen nicht beachten wollen. Nur wer bereit ist, sich auf die Regeln des Naturalleistungssystems einschließlich des Beschaffungswegs einzulassen, kann Kostenerstattung beanspruchen (Anschluss an BSG vom 16.12.2008 - B 1 KR 2/08 R = SozR 4-2500 § 13 Nr 20).

2. Besteht eine medizinische Notwendigkeit für eine höherwertige Ausstattung eines Hörgeräts bereits für den Alltagsgebrauch, scheidet ein berufsbedingter Mehrbedarf, dessen Mehrkosten dem Rentenversicherungsträger zur Last fallen würden, hinsichtlich dieser Ausstattung aus (Anschluss an BSG vom 24.1.2013 - B 3 KR 5/12 R = BSGE 113, 40 = SozR 4-3250 § 14 Nr 19).

 

Orientierungssatz

Wenn sich ein Rehabilitationsträger seiner leistungsrechtlichen Verantwortung durch sog "Verträge zur Komplettversorgung" nahezu vollständig entzieht und dem Leistungserbringer quasi die Entscheidung darüber überlässt, ob dem Versicherten eine Teilhabeleistung (wenn auch nur zum Festbetrag) zuteil wird, dann erfüllt er weder seine Pflicht zur ordnungsgemäßen Einzelfallprüfung noch befolgt er die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit nach § 12 Abs 1 und § 70 Abs 1 S 2 SGB 5 (vgl BSG vom 24.1.2013 - B 3 KR 5/12 R aaO).

 

Tenor

I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 8. Juli 2014 geändert. Die Verurteilung der Beklagten zur Kostenerstattung wird aufgehoben und die Klage insoweit abgewiesen.

Im Übrigen wird die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander für beide Instanzen keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Kostenerstattung für eine Hörgeräteversorgung.

Aufgrund einer im November 2005 bei der 1964 geborenen Klägerin erstmals diagnostizierten gering- bis mittelgradigen Innenohrschwerhörigkeit beidseits wurde diese mit Hörgeräten versorgt. In den folgenden Jahren kam es zu einer Progredienz der Schwerhörigkeit von fast 20 dB in allen Frequenzen, die von dem behandelnden Hals-, Nasen-, Ohrenarzt Dr. med. C. aber immer noch als gering- bis mittelgradige Innenohrschwerhörigkeit eingeordnet wurde. Am 24. Mai 2011 stellte er der Klägerin eine Verordnung über Hörhilfen aus, mit der sich die Klägerin am gleichen Tag an ihren Hörgeräteakustiker wandte, der noch am 24. Mai 2011 die Versorgung der Klägerin bei der damaligen Krankenversicherung der Klägerin, der BKK Gesundheit, anzeigte. Unter dem 6. Juni 2011 wies diese die Klägerin darauf hin, dass sich die Höhe der Kostenübernahme auf die gültige Festbetragsgrenze beschränke; der Klägerin seien mindestens eine bzw. zwei eigenanteilsfreie Versorgungen durch den Akustiker anzubieten. Dieses Angebot habe die Klägerin durch ihre Unterschrift zu bestätigen. Weiter war folgender Hinweis enthalten: "Sobald der Hörgeräteakustiker Ihnen eine Hörhilfe anbietet, ohne Ihnen eine eigenanteilsfreie Versorgung zu testen und Sie zusätzlich eine Mehrkostenvereinbarung unterschreiben, haben Sie eine separate Vereinbarung mit dem Hörgeräteakustiker getroffen. Eine weitere Kostenübernahme der BKK Gesundheit ist aufgrund der eindeutigen vertraglichen Situation nicht möglich."

Am 21. Juni 2011 beantragte die Klägerin hinsichtlich der Hörgeräte bei der Beklagten Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, da sie seit 1985 als Fachkrankenschwester in der Psychiatrie (psychiatrisches Krankenhaus) tätig sei und dort viele Patientengespräche, Gruppengespräche, Übergaben und Besprechungen zu führen habe, die ihr zunehmend schwerer fielen. Wichtige Informationen gingen ihr verloren, so dass sie für ihre Tätigkeit Hörgeräte benötige. Dies bestätigte auch Dr. med. C. in seinem ärztlichen Befundbericht für die Beklagte vom 20. Juli 2011.

Mit Bescheid vom 10. August 2011 lehnte die Beklagte den Antrag ab, da die Klägerin angesichts der bestehenden Hörschädigung nach den vorliegenden Unterlagen generell auf das Tragen einer Hörhilfe aus medizinischen Gründen angewiesen sei. Dies bedeute, sie benötige dieses Hilfsmittel im privaten wie auch im beruflichen Lebensbereich. Bei der Versorgung dieses Grundbedarfs handele es sich um eine Krankenbehandlung im Sinne des Krankenversicherungsrechts. Eine den medizinischen Erfordernissen entsprechende zweckmäßige Ausstattung durch die gesetzliche Krankenversicherung sei au...

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