Entscheidungsstichwort (Thema)

Wegeunfall. geringfügige Unterbrechung des Weges

 

Orientierungssatz

1. Unterbrechungen und Umwege, die wesentlich allein dem privaten Bereich zuzurechnen sind, sind grundsätzlich nur dann noch als Teile des Weges in seiner Gesamtheit anzusehen, wenn sie zeitlich und räumlich nur ganz geringfügig sind und Verrichtungen dienen, die "im Vorbeigehen" erledigt werden können. An dieser Voraussetzung fehlt es bei einer bis zu 40 m weiten Rückfahrt zur Untersuchung einer Plastiktüte.

2. Ebenso wie der Weg vom oder zum Ort der Arbeitsstätte eine natürliche Einheit darstellt, gilt dies auch für die aus persönlichen Gründen erfolgte Unterbrechung desselben. Genauso wie die Geringfügigkeit oder die Erheblichkeit einer Unterbrechung nur bei der Berücksichtigung ihrer Gesamtheit richtig beurteilt werden kann, darf sie bei der anschließenden rechtlichen Wertung nicht wieder in Teile von unterschiedlicher rechtlicher Bedeutung zerlegt werden.

 

Normenkette

RVO § 550 Abs 1 Fassung: 1974-04-01

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 22.08.1984; Aktenzeichen L 6 U 108/84)

SG Hannover (Entscheidung vom 01.11.1983; Aktenzeichen S 20 U 174/80)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte der Klägerin diejenigen Leistungen erstatten muß, welche sie wegen der Folgen des Unfalles des Beigeladenen (K.) am 27. April 1979 erbrachte. Das Sozialgericht -SG- (Urteil vom 1. November 1983) und das Landessozialgericht -LSG- (Urteil vom 22. August 1984) haben dies verneint, weil K. einen Arbeitsunfall erlitten habe.

K. legte den 12 km langen Weg zu seinem Lehrbetrieb gewöhnlich mit seinem Mofa zurück. Am Unfalltage entschloß er sich, eine Plastiktüte, die er neben seiner Fahrbahn im Straßengraben entdeckte, zu untersuchen. Er stoppte sein Fahrzeug und verunglückte bei dem Versuch zu wenden, um etwa 10 bis 40 m zu der Tüte zurückzufahren.

Gegenüber K. lehnte die Klägerin die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung mit der Begründung ab, er habe eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit verrichten wollen, die mit dem Heimweg von der Arbeitsstätte in keinem ursächlichen Zusammenhang gestanden habe, weil durch den eingeleiteten Abweg der an sich bestehende Versicherungsschutz unterbrochen worden sei (Bescheid vom 21. Dezember 1979). Der Bescheid wurde nicht angefochten.

Die auf Erstattung ihrer Aufwendungen gerichtete Klage hat das SG abgewiesen, weil K. seinen Weg vom Ort der Tätigkeit nur geringfügig unterbrochen und den Versicherungsschutz daher nicht verloren habe. Das LSG hat diese Auffassung des SG nicht geteilt, weil das Vorhaben des K. eine so deutliche Zäsur innerhalb des Weges von der Arbeitsstätte darstelle, daß der rechtlich wesentliche Zusammenhang mit dem Weg verlorengegangen sei. An der Unfallstelle sei jedoch eine Unterbrechung noch nicht eingetreten gewesen. K. könne versicherungsrechtlich nicht schlechter gestellt sein als ein Versicherter, der bei einer privaten Besorgung den Versicherungsschutz erst beim Verlassen des öffentlichen Verkehrsraumes verliere und beim erneuten Eintritt in diesen wiedererlange. K. sei daher, gemessen vom Punkt der Richtungsänderung, in einem Bereich geschützt gewesen, der etwa der Breite der Straße (5 m) entspreche. In diesem Raum sei er verunglückt. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Nach der Auffassung der Revision hatte K. an der Unfallstelle den beabsichtigten Abweg bereits begonnen. Mit dem Wendevorgang sei der Weg von der Arbeitsstätte nach seiner Zielrichtung und Zweckbestimmung deutlich unterbrochen worden. Die eigenwirtschaftlichen Beweggründe hätten den ursächlichen Zusammenhang mit der Zurücklegung des Weges beseitigt. Eine ausdehnende oder auf sozialen Erwägungen beruhende Auslegung des § 550 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sei aus systematischen Gründen nicht zulässig.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 1. November 1983 sowie das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 22. August 1984 aufzuheben und die Beklagte dem Grunde nach zu verurteilen, ihr die Aufwendungen aus Anlaß des Verkehrsunfalles des Beigeladenen am 27. April 1979 zu erstatten.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Mit der Linkswendung habe K. noch keine Richtungsänderung im Sinne eines Abweges eingeleitet, weil der Wendevorgang noch nicht beendet gewesen sei. Auf das Motiv des K. könne es nicht ankommen. § 550 Abs 1 RVO biete Versicherungsschutz in auch sonst üblichem Ausmaß.

Der Beigeladene stellt keinen Antrag.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist begründet. Die Klägerin hat dem Grunde nach einen Anspruch auf Erstattung der von ihr aus Anlaß des Unfalles des K. erbrachten Sozialleistungen, weil K. nach der Auffassung des erkennenden Senats am 27. April 1979 keinen Arbeitsunfall erlitt.

Das LSG ist zutreffend von der Vorschrift des § 105 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB X) ausgegangen, wonach der an sich zuständig gewesene Leistungsträger Sozialleistungen zu erstatten hat, welche von einem unzuständigen Leistungsträger erbracht worden sind. Ob die Klägerin als Träger der gesetzlichen Unfallversicherung Sozialleistungen zu Unrecht erbracht hat und daher nach § 105 Abs 1 SGB X erstattet verlangen kann, hängt davon ab, ob K. einen Arbeitsunfall erlitt.

Nach § 550 Abs 1 iVm § 539 Abs 1 Nr 1 RVO gilt ua ein Unfall auf einem mit dem Lehrverhältnis zusammenhängenden Weg von dem Ort der Tätigkeit als Arbeitsunfall. Auf einem solchen Weg befand K. sich, als er am 27. April 1979 seinen Lehrbetrieb verließ, um nach Hause zu fahren. Mit Recht haben SG, LSG und auch die Beteiligten den Umstand besonders gewürdigt, daß K. im Unfallzeitpunkt begonnen hatte, den Weg zum Zwecke der Befriedigung seiner Neugierde, also aus persönlich bedingten Gründen, ein Stück - nach den Feststellungen des LSG bis zu 40 m - wieder zurückzufahren. Die sich aufgrund dieser Besonderheit des vorliegenden Falles ergebende Frage, ob der gem § 550 Abs 1 RVO geschützte Weg des K. unterbrochen wurde, bejaht der erkennende Senat mit der Klägerin im Gegensatz zu SG und LSG.

§ 550 Abs 1 RVO verlangt, wie gesagt, einen mit der Tätigkeit zusammenhängenden Weg vom Ort der Tätigkeit. Es ist somit ein innerer Zusammenhang zwischen der geschützten Tätigkeit und dem Weg erforderlich. Dieser innere Zusammenhang ist gegeben, wenn die Zurücklegung des Weges der Fahrt vom Betrieb zur Wohnung wesentlich dient. Bei der Feststellung des inneren Zusammenhangs zwischen dem zum Unfall führenden Verhalten und der Betriebstätigkeit geht es um die Ermittlung der Grenze, bis zu welcher der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reicht, dh es ist wertend zu entscheiden, ob das Handeln des Versicherten zur versicherten Tätigkeit - bzw hier: zum Weg von der Arbeitsstätte - gehört (BSG Urteil vom 30. April 1985 - 2 RU 24/84 -). Daraus ergibt sich, daß auf Umwegen und bei Unterbrechungen grundsätzlich kein Versicherungsschutz besteht, wenn sie wesentlich allein dem privaten Bereich zuzurechnen sind, sogenannten eigenwirtschaftlichen Zwecken dienen. Das ist hier hinsichtlich der beabsichtigten Untersuchung der Tüte der Fall.

Das Reichsversicherungsamt (RVA) und im Anschluß hieran das Bundessozialgericht (BSG) haben allerdings schon immer entschieden, daß ganz kurze und ganz geringfügige Unterbrechungen und Umwege den Zusammenhang des Weges mit der Betriebstätigkeit selbst dann nicht beseitigen, wenn sie eigenwirtschaftlicher Natur sind (BSG SozR Nrn 5 und 28 zu § 543 RVO aF; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Aufl, S 487e und l mwN). Es kommt darauf an, ob die Unterbrechungen und Umwege "üblicherweise örtlich und zeitlich noch als Teile des Weges in seiner Gesamtheit angesehen werden" (RVA EuM 30, 322 und BSG SozR Nr 28 zu § 543 RVO aF; so ferner BSG Urteil vom 29. August 1974 - 2 RU 177/72 = USK 74119). Das ist in "natürlicher Betrachtungsweise" (BSG Urteil vom 18. Dezember 1974 - 2 RU 37/73 = USK 74212) wertend zu entscheiden. Dabei hat der Senat Unterbrechungen und Umwege, die wesentlich allein dem privaten Bereich zuzurechnen sind, grundsätzlich nur dann noch als Teile des Weges in seiner Gesamtheit angesehen, wenn sie zeitlich und räumlich nur ganz geringfügig waren und Verrichtungen dienten, die "im Vorbeigehen" erledigt werden können. An dieser Voraussetzung fehlt es hier bei einer bis zu 40 m weiten Rückfahrt zur Untersuchung einer Plastiktüte.

Das LSG hat dennoch angenommen, daß K. zumindest zu Beginn des Wendemanövers versichert war, weil er sich von seiner Fahrstrecke noch nicht um etwa die Breite der Straße entfernt hatte. Dabei geht das LSG von Gesichtspunkten aus, die in der Rechtsprechung entwickelt worden sind. RVA (aa0) und BSG (zB SozR 2200 § 550 Nrn 20 und 24 sowie Nr 27 = SGb 1977, 506 mit kritischer Anmerkung von Wickenhagen) haben stets betont, daß der Versicherte auf dem Weg vom oder zum Ort der Tätigkeit im gesamten Bereich des öffentlichen Verkehrsraumes geschützt ist, also beim Überqueren der Straße selbst dann, wenn persönliche Gründe hierfür maßgeblich sind. Daher, so meint das LSG, müsse dem K. ebenfalls dieser Schutz zugute kommen, solange er eine Strecke zurücklegt, welche der Breite der Straße in etwa entspricht. Dem vermag der Senat nicht zuzustimmen.

Ebenso wie der Weg vom oder zum Ort der Arbeitsstätte eine natürliche Einheit darstellt (siehe oben), gilt dies auch für die aus persönlichen Gründen erfolgte Unterbrechung desselben. Dies hat der erkennende Senat schon früher beispielsweise dadurch zum Ausdruck gebracht, daß er eine solche Unterbrechung erst dann als beendet angesehen hat, wenn der öffentliche Verkehrsraum wieder erreicht war (BSGE 20, 219). In seinem Urteil vom 30. April 1985 aa0 hat er entschieden, daß das ruckartige Fahren auf die Gegenfahrbahn zum Zwecke der Selbsttötung den inneren und sachlichen Zusammenhang mit der Tätigkeit des Versicherten löst und damit der Versicherungsschutz entfällt, auch wenn der öffentliche Verkehrsraum nicht verlassen wird. Genauso wie die Geringfügigkeit oder die Erheblichkeit einer Unterbrechung nur bei der Berücksichtigung ihrer Gesamtheit richtig beurteilt werden kann, darf sie bei der anschließenden rechtlichen Wertung nicht wieder in Teile von unterschiedlicher rechtlicher Bedeutung zerlegt werden. Andernfalls werden dem Weg von der oder zur Arbeitsstätte willkürlich Abschnitte zugerechnet, denen der innere Zusammenhang mit der Tätigkeit des Versicherten fehlt. Die BSG-Entscheidungen, welche das LSG in diesem Zusammenhang herangezogen hat, sind nicht zu der Frage ergangen, ob eine in ihrer Gesamtheit erhebliche Unterbrechung des Weges dennoch in einen geschützten und einen ungeschützten Teil zerlegt werden darf. Vielmehr betreffen sie die vorangehende Frage, wann eine Unterbrechung zum Verlust des Versicherungsschutzes führt bzw als geringfügig anzusehen ist.

K. verunglückte nach alledem während einer erheblichen Unterbrechung seines Heimweges und stand daher bei seinem Wendemanöver nicht mehr unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Infolgedessen war die Beklagte der für die Heilbehandlung zuständige Leistungsträger, so daß sie antragsgemäß zur Erstattung der Leistungen zu verurteilen war, welche die Klägerin unzuständigerweise erbrachte.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1664931

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