Leitsatz (amtlich)

Zur Frage des Unfallversicherungsschutzes, wenn jemand anläßlich einer Geschäftsreise in einem Ort übernachtet, welcher abseits der zum Zielort führenden Wegstrecke gelegen ist, und auf der Weiterfahrt verunglückt, bevor er diese Route erreicht hat (Abgrenzung zu BSG 1966-10-28 2 RU 30/65 = SozR Nr 4 zu § 548 RVO).

 

Normenkette

RVO § 548 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 5. November 1969 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Der am 25. September 1963 verstorbene erste Ehemann der Klägerin zu 1), R T (T.), war kaufmännischer Geschäftsführer der C ... mbH in .... Am Morgen des 24. September 1963 unternahm er im firmeneigenen Pkw eine mehrtätige Geschäftsreise nach Süddeutschland mit dem Schwerpunkt im Raum M. Der Pkw wurde von dem Fahrer S gelenkt, die Klägerin zu 1) fuhr mit. Nach einer geschäftlichen Besprechung in S verließen sie in Ulm die nach M führende Autobahn und fuhren nach S; dort trafen sie etwa um 19.00 Uhr ein. Das mit ihnen aus beruflichen und privaten Gründen befreundete Ehepaar B weilte in S in Urlaub; es hatte für sie ein Zimmer bestellt. Der technische Geschäftsführer der GmbH, R, verbrachte dort seit dem 14. September 1963 ebenfalls seinen Urlaub. Mit ihm hatte T., wie die Kläger vortragen, vor seiner Abreise fernmündlich eine Besprechung verabredet, welche stattfinden sollte, bevor sie am 26. September 1963 gemeinsam eine Firma in O bei B besuchen wollten. Am Abend des 24. September 1963 fand keine Besprechung zwischen den beiden Geschäftsführern statt. Den Abend dieses Tages verbrachten die Eheleute T. und B gemeinsam. Die Klägerin zu 1) blieb am folgenden Morgen in S zurück. T. fuhr in dem von dem Fahrer gesteuerten Wagen nach M, um dort umfangreiche geschäftliche Besprechungen durchzuführen. Gegen 9.15 Uhr verunglückte er auf der Bundesstraße 12 zwischen B und L/Lech tödlich.

Die Beklagte versagte durch Bescheid vom 5. Mai 1965 die begehrten Hinterbliebenenentschädigungen, weil nach dem Ergebnis der langwierigen Ermittlungen ein Zusammentreffen mit R für den Abend des 24. September 1963 nicht geplant gewesen, der Umweg über S vielmehr wegen der Klägerin zu 1) sowie deshalb gemacht worden sei, um sich mit dem befreundeten Ehepaar B zu treffen; auf diesem somit aus privaten Gründen unternommenen Umweg habe T. ungeachtet des Umstandes, daß er sich am Tag des Unfalls zu geschäftlichen Besprechungen nach M begeben habe, nicht unter Unfallversicherungs-(UV)-Schutz gestanden.

Das Sozialgericht (SG) Frankfurt hat auf Klage durch Urteil vom 15. Juni 1966 die Beklagte verurteilt, Hinterbliebenenentschädigung zu gewähren. Es ist der Auffassung, daß die Fahrt nach S nicht nur privater Natur gewesen sei, weil sie auch zu dem Zweck unternommen worden sei, am Abend des 24. oder 25. September 1963 ein vorher geplantes Gespräch mit dem anderen Geschäftsführer der GmbH zu führen; jedenfalls habe T. auf der von S nach M zu Geschäftszwecken angetretenen Fahrt unter UV-Schutz gestanden, zumindest im Zeitpunkt des Unfalls, weil T. etwa 60 km vor M verunglückt sei, während im Vergleich dazu die Autobahnstrecke U-M etwa 140 km lang sei.

Das Hessische Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 5. November 1969 (veröffentlicht in Breithaupt 1971 S. 279) die Berufung der Beklagten, mit welcher diese auch wesentliche Mängel des Verfahrens des Erstgerichts gerügt hat, zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt:

Es bedürfe keiner tatsächlichen Feststellungen darüber, welchem Zweck der von U nach S unternommene Abstecher auf der Geschäftsreise gedient habe. Sei sein rechtlich wesentlicher Zweck auch eine geschäftliche Besprechung mit Geschäftsführer R gewesen, so habe es sich am darauffolgenden Tag um eine Fortsetzung der Geschäftsreise gehandelt, so daß im Zeitpunkt des Unfalls der Versicherungsschutz zu bejahen sei. Zu demselben Ergebnis gelange man jedoch, wenn der Zweck der Fahrt nach S rein privater Natur gewesen sei. In einer ähnlich gelagerten Streitsache habe das Bundessozialgericht (BSG - SozR Nr. 4 zu § 548 der Reichsversicherungsordnung - RVO) UV-Schutz angenommen, in der ein Unternehmer eine Geschäftsreise durch Urlaub unterbrochen habe und auf der nach dessen Beendigung vom Urlaubsort aus angetretenen Geschäftsfahrt verunglückt sei. T. habe sich, nachdem die Autobahn bei U verlassen worden sei, auf einem unversicherten Abweg befunden; im Hinblick auf Richtung, Länge, Dauer und Zweck dieses Weges könne hier nicht mehr von einem Umweg gesprochen werden. Dieser - unterstellt - private Abweg habe zusammen mit der gleichfalls unversicherten Übernachtung in Sonthofen einen deutlichen Einschnitt in der Geschäftsreise dargestellt. Mit der Abfahrt von S am Morgen des 25. September 1963 zu Besprechungen in München habe T. seine geschäftliche Tätigkeit jedoch wieder aufgenommen. Im übrigen sei auf dieser Strecke das Unfallrisiko nicht wesentlich größer als auf der Autobahn U-M, da die Bundesstraße 12 zumeist gut ausgebaut und die Wegstrecke S-M nur um 15 km länger sei. Die Möglichkeit, auf der Autobahn schneller vorwärts zu kommen, sei nicht entscheidend, zumal da schnelleres Fahren besondere Unfallgefahren, wie Auffahrunfälle, verursache. Ferner sei zu berücksichtigen, daß T. für die Fahrt von S nach M die südlich der Autobahn in etwa parallel verlaufende Bundesstraße hätte benutzen können; auf dieser habe er sich aber im Zeitpunkt des Unfalls bereits befunden.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und es im wesentlichen wie folgt begründet: Der Entscheidung des BSG, auf welche das LSG sein Urteil stütze, liege ein wesentlich anderer Sachverhalt zugrunde. Das Berufungsgericht hätte näher prüfen müssen, aus welchen Gründen es zu dem Umweg oder Abweg nach Sonthofen gekommen sei. Dieser sei aus privaten Gründen erfolgt. Bereits in der Berufungsbegründung sei darauf hingewiesen worden, daß T. aufgrund eines Telefongesprächs, welches er während einer in Ulm eingelegten Pause geführt habe, keinen Anlaß mehr gehabt habe, aus geschäftlichen Gründen nach S zu fahren; der Fahrt dorthin sei dadurch der Charakter einer Geschäftsfahrt genommen worden, der dortige Aufenthalt somit zu einem rein privaten Vorgang geworden. Die Fahrt von S nach M sei somit der Rückweg von dem dortigen privaten Aufenthalt gewesen. Versicherungsschutz hätte nur bestanden, wenn T. von U aus nach M unmittelbar weitergefahren wäre. Im Zeitpunkt des Unfalls sei die unmittelbare Strecke von U nach M aber noch nicht erreicht gewesen.

Die Kläger halten das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Kläger beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision ist insofern begründet, als die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.

Das Berufungsgericht hat, obwohl die Klägerin zu 1) sich während des Klageverfahrens wieder verehelicht hat, nicht geprüft, ob wegen der Leistungen nach §§ 589 Abs. 1 Nr. 1-2, 590, 591, 615 Abs. 1 RVO die Berufung nach §§ 144 Abs. 1, 145 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossen oder im Hinblick auf die von der Beklagten im Verfahren des zweiten Rechtszuges erhobenen Verfahrensrügen § 150 Nr. 2 SGG anzuwenden ist (vgl. das Urteil des erkennenden Senats vom 16.2.1970 - 2 RU 55/68 -). Diese Prüfung kann das Berufungsgericht indessen nachholen, weil nach der Auffassung des erkennenden Senats den im angefochtenen Urteil angestellten rechtlichen Erwägungen nicht zu folgen ist und mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen das LSG sich mit der Sache noch einmal befassen muß.

Zu Unrecht nimmt das Berufungsgericht an, die vorliegende Sache sei der durch Urteil des erkennenden Senats vom 28. Oktober 1966 entschiedenen Streitsache (SozR Nr. 4 zu § 548 RVO) rechtsähnlich. Diese war indessen dadurch gekennzeichnet, daß ein auf einer Geschäftsreise befindlicher Unternehmer in diese einen 9tägigen Urlaub in Italien eingeschoben hatte und danach dort eine geschäftliche Besprechung stattfinden sollte. Unter diesen besonderen Umständen des Falles hat der erkennende Senat es als rechtlich bedeutsam angesehen, daß mit der Lösung vom Unternehmen durch diesen Urlaub ein deutlicher Einschnitt in der Geschäftsreise eingetreten, diese somit in zwei voneinander getrennte Abschnitte aufgeteilt war. Aus diesem Grund hat er den UV-Schutz auf der vom Urlaubsort weitergeführten Geschäftsreise bejaht. In der vorliegenden Sache handelt es sich dagegen, falls der Abstecher nach S im wesentlichen aus privaten Gründen erfolgt sein sollte, um einen - auch im Verhältnis zur Wegstrecke von F nach M nicht gerade unbedeutenden - Umweg, weil, wie sich aus der für den nächsten Tag geplanten Weiterfahrt nach M ergibt, die Zielrichtung der von F nach M unternommenen Geschäftsreise beibehalten worden ist (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand: 1.3.1971, Band II S. 482 g, 486 q mit umfangreichen Nachweisen). Dem steht nicht entgegen, daß - infolge der Länge der gesamten Wegstrecke - T. in S übernachtet hat. Der Auffassung des LSG, es habe sich um einen sogenannten Abweg gehandelt, widerspricht der Umstand, daß nicht geplant war, wieder zum Ausgangspunkt des Abstechers an der Autobahn zurückzukehren (Brackmann, aaO, S. 486 q I), vielmehr von S aus die kürzeste Wegstrecke nach M benutzt werden sollte. Der von U über S eingeschlagene Umweg war sonach erst im westlichen Teil von M, wo die von S herführende Autobahn und die Bundesstraße aus Richtung L/Lech zusammenstoßen, beendet. Da sich der Unfall aber bereits 60 km vor M ereignet hat, hat T. sich damals somit nicht unter UV-Schutz befunden.

Der Gesichtspunkt, daß T. am Morgen des 25. September 1963 dem Ort seiner geschäftlichen Besprechungen zustrebte, ist für sich allein versicherungsrechtlich nicht entscheidend, wenn - wovon das Berufungsgericht ausgeht - für die Zurücklegung des Umwegs keine Gründe geschäftlicher Art wesentlich mitbestimmend gewesen sind.

Die Bejahung des Versicherungsschutzes läßt sich auch nicht aus der vom LSG angestellten Erwägung rechtfertigen, daß T. die Möglichkeit gehabt hätte, von Stuttgart aus das Ziel M durch Benutzung mehrerer südlich der Autobahn liegender Bundesstraßen zu erreichen, und sich im Zeitpunkt des Unfalls bereits auf dieser Route befunden habe. Für den Versicherungsschutz auf Wegen von der oder zur Arbeitsstätte wird es allerdings als ausreichend erachtet, wenn der Versicherte von einem Umweg auf einen Weg gelangt, den er zwar sonst üblicherweise nicht nimmt, der aber ebenfalls als Weg von oder nach dem Ort der Tätigkeit im Sinne des § 550 Satz 1 RVO angesehen werden kann (Brackmann, aaO, S. 486 q I). Dieser insbesondere großstädtische Verhältnisse (s. Bayer. LSG, Breithaupt 1965, 904) berücksichtigende Gesichtspunkt, durch den ungerechtfertigte Einengungen des Versicherungsschutzes nach § 550 Satz 1 RVO vermieden werden sollen (vgl. auch das Urteil des erkennenden Senats vom 22.9.1966 - 2 RU 202/63 - ZfS 1966, 372; Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl., Kenn-Nr. 121 S. 5 ff), kann jedoch auf Geschäftsreisen nicht ohne weiteres übertragen werden. Das LSG hat keinen einleuchtenden Grund (s. Brackmann, aaO, S. 482 g) angeführt, welcher T. hätte veranlassen können, die kürzeste und zweckmäßigste Wegstrecke von F nach M, nämlich die Autobahn, ausgerechnet in U zu verlassen und den weiteren Weg über nicht weniger stark befahrene Bundesstraßen zu nehmen, zumal da diese die Einhaltung einer auf der Autobahn möglichen Reisegeschwindigkeit nicht erlauben. Bezeichnenderweise hat sich der Unfall des ersten Ehemannes der Klägerin zu 1) infolge überhöhter Geschwindigkeit auf regennasser Bundesstraße ereignet.

Aus den vom LSG angestellten rechtlichen Erwägungen läßt sich der UV-Schutz sonach nicht begründen. Um diesen bejahen zu können, bedarf es noch weiterer tatsächlicher Feststellungen, von denen das Berufungsgericht bewußt abgesehen hat.

Deshalb war unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung bleibt dem Urteil des Berufungsgerichts vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669963

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Kranken- und Pflegeversicherungs Office. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen